Die Figur des Mädchens in "Die Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke


Hausarbeit, 2019

18 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Bedeutungstradition der Mädchenfigur in der Literatur

3. Erkenntnispotential der Mädchenfigur in Die Sonette an Orpheus
3.1. Figur des Mädchens in Sonett I.2
3.1.1. Die Komplexität der Muse in Sonett I.2
3.1.2. Das Mädchen als Grenzgängerin in Sonett I.2
3.2. Passivität der Mädchenfigur in Sonett II.7 und Sonett I.2

4. Zur Darstellbarkeit von Inspiration durch die Mädchenfigur in Die Sonette an Orpheus

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der folgenden Arbeit widme ich mich der Darstellung von Weiblichkeit in Die Sonette an Orpheus. Dies erfolgt anhand einer Untersuchung des Erkenntnispotentials der Mädchenfigur, welche vor allem in den Sonetten I.2 und II.7 die Möglichkeit der Analyse bietet.

Innen im Dichter nehme eine Frau Platz, erst dann könne er „reden“1, meinte Rainer Maria Rilke einmal sinngemäß. In der feministischen Forschung dominiert das Fragen nach der Konstruktion von Weiblichkeit den wissenschaftlichen Diskurs. In der folgenden Arbeit verzichte ich jedoch auf eine kritische Untersuchung der Geschlechterverhältnisse und konzentriere mich auf die Darstellung einer möglichen Symbolik von Weiblichkeit anhand der Figur des Mädchens in den Sonetten an Orpheus. In dem Gedicht, welches Rilke der jung verstorbenen Tänzerin und Freundin Vera Knoop widmete2 , beginnt Rilke das zweite Sonett mit den Worten „Und fast ein Mädchen war's“3 (V.1). Dieses „Beinahe-Mädchen“4 macht sich ein Bett im Ohr des dichterischen Ichs, welcher dadurch die Wirkung des orphischen Gesangs in seinem Innern erfährt. Welchen Zusammenhang bilden Mädchen und der dichterische Schaffensprozess? In einer kurzen Einführung in die Mädchensymbolik der Literatur der Moderne und der deutschen Romantik sollen nach hermeneutischer Tradition etwaige Interpretationsmöglichkeiten dieser Figur beleuchtet werden, um einen kleinen Überblick über die Bedeutungstradition der Mädchenfigur zu bekommen und diese bei der Untersuchung an Die Sonette an Orpheus anwenden zu können. Im Anschluss daran befasst sich der Hauptteil der Arbeit mit der Frage, welche Rolle das Mädchen in den Sonetten an Orpheus spielt und welches Erkenntnispotenzial sich aus der Figur ableiten lässt. Diese Untersuchung erfolgt in drei Teilen. Anhand des Sonetts I.2, in welchem konkret von einer Mädchenfigur geschrieben wird, erfolgt eine eingehende Analyse dieser Figur, ihrer Rolle als Grenzgängerin und der Komplexität des Musenbegriffs. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es, Aufschluss zu geben über den „reinen Bezug“. Dies erfolgt insbesondere anhand einer Untersuchung der Blumen in den ordnenden Händen der Mädchen im siebten Sonett des zweiten Teils. Letztendlich möchte ich meine Hypothese der Darstellbarkeit von Inspiration durch die Figur des Mädchen mit meinen Erkenntnissen vergleichen. Hierbei wird auf die Frage eingegangen, inwiefern insbesondere die Femininität des Beinahe-Mädchens zur Darstellung von Inspiration beiträgt.

2. Bedeutungstradition der Mädchenfigur in der Literatur

Der Philosoph Friedrich Schlegel postuliert, dass das Wesen der Frauen der Poesie entspräche.5 Gleich dieser Behauptung herrscht in der literarischen Romantik in Deutschland die Vorstellung, Frauen bilden Inspiration und Quelle der Poesie.6 Dies unterstützend definiert Dichter Johann Gottfried Herder die Frau als das ähnliche, aber keineswegs identische Andere des Mannes.7 Dies hat den Grund eines sich Vergegenwärtigen von Männlichkeit, welche einerseits durch den Vergleich mit der Frau bedeutsam werde, andererseits durch die körperlichen Unterschiede bewusst mache, dass der Mann Teil der Welt und gleichzeitig von der Welt verschieden sei.8 Novalis Feststellung besteht darin, dass Männer zu einem bestimmten Anteil weiblich seien, so wie Frauen zu einem bestimmten Anteil männliche Attribute in sich trügen.9 Jede dieser Annahmen tragen in der Literatur der Romantik dazu bei, Weiblichkeit mit der Entstehung von Inspiration gleichzusetzen. Die Professorin Martha B. Helfer geht in ihrer Untersuchung sogar noch weiter und erklärt, dass dichterisches Schaffen durch den männlichen Poeten durch eine ihm bereits innewohnende Femininität möglich sei.10 Damit widerspricht sie der gängigen Annahme, dass Muse ausschließlich durch die Betrachtung weiblicher Wesen geschaffen werde.11 Ebenjener Weiblichkeit, welche das Mädchen zum Teil bereits verinnerlicht hat, jedoch aufgrund ihrer Jugend noch nicht in Gänze ausgeprägt ist. Das Mädchen repräsentiert demnach „nur einen Teil des definierten Weiblichen“12. Laut Literaturwissenschaflterin Christine Knoop werde zwischen Mädchen und Frau anhand der Kriterien „Reinheit“ und „Unschuld“ unterschieden.13 Diese würden durch sexuelle Aktivität und Körperbetonung kompromittiert „- ein traditionsreiches Konstrukt, dessen wohl berühmteste Repräsentantin die Jungfrau Maria ist“14. Die Frage stellt sich, inwiefern das Mädchen diese Form von erotischer Weiblichkeit bereits verinnerlicht hat. Selbst das Milchmädchen als Symbol in der Literatur des 20. Jahrhundert strahlt bereits eine erotische Anziehungskraft aus.15 Für Rainer Maria Rilke jedoch ist Reinheit im Sinne „sexueller Unberührtheit in der Jugend“16 kein Kriterium für Mädchenhaftigkeit.17

3. Erkenntnispotential der Mädchenfigur in Die Sonette an Orpheus

3.1. Figur des Mädchens in Sonett I.2

Laut Christoph König gebührt den Sonetten an Orpheus der Sinn, eine Präsenz Orpheus zu schaffen.18 Orpheus als gottähnlicher Dichtersänger, welcher es vermag durch die Laute seiner Stimme und seines Instrumentes Tiere zum Schweigen zu bringen19, bildet den Mittelpunkt antiker, traditioneller Dichterkunst.20 Die Widmung Rilkes ,an‘ Orpheus drückt eine indirekte Widmung an diese traditionelle Dichtkunst aus.21 Jedoch bricht Rilke mit, beziehungsweise erweitert diese dichterische Tradition, indem er sie mit seiner Dichtung der poetischen Rationalität verbindet und somit eine neue und produktive Stufe der Rezeption erreicht.22 Laut König, bestünde Rilkes Ziel darin zu verstehen, worin dichterische Inspiration bzw. seine Kreativität, dargestellt durch den Dichtersänger Orpheus, begründet liege.23 Orpheus als Träger und Vertreter der Dichtkunst sei als Gott in Die Sonette an Orpheus nicht erkennbar. Sein Vergegenwärtigen gelinge jedoch durch die Kunst des Tanzes, sowie durch sogenannte „Vermittler“24, welche in der Gestalt von Kindern, Mädchen, Tieren, Blumen und Früchten auftreten. In Sonett I.2 erscheinen erstmalig die Chiffren Mädchen, einig, Leier, Schlaf, wach und Tod.25 Die folgenden Kapitel widmen sich der Figur des Mädchen in Sonett I.2 als einer der „Vermittlerinnen“ orphischer Präsenz. Es wird der Frage nachgegangen, welche Funktion das Mädchen in Die Sonette an Orpheus einnimmt. Eine hermeneutische Untersuchung erfolgt durch eine nähere Betrachtung der Mädchenfigur in den Sonette I.2 und II.7, anhand derer eine Ausschöpfung des Erkenntnispotenzials am sinnvollsten erscheint.

3.1.1. Die Komplexität der Muse in Sonett I.2

„Und fast ein Mädchen wars und ging hervor aus diesem einigen Glück von Sang und Leier und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier und machte sich ein Bett in meinem Ohr.

Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf. Die Bäume, die ich je bewundert, diese fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese und jedes Staunen, das mich selbst betraf.“26

Das Sonett I.2 beginnt im Eingangsvers mit „Und“27. Es schließt dadurch an die Metapher des vorangegangen Sonetts „Tempel im Gehör“28 der letzten Zeile des ersten Sonetts an - ein Tempel im Gehör der Tiere, geschaffen durch Orpheus Gesang und Leierspiel.29 Während dieser im ersten Sonett noch die Wirkung des orphischen Gesangs auf die Welt beschreibt, drückt ebenjener Gesang in Sonett I.2 seine Wirkung nun auf das Innere des Dichter-Ichs aus30. Das lyrische Subjekt erscheint im vierten Vers des zweiten Sonetts zum ersten Mal.31

„Fast ein Mädchen“32 (V.1) stellt für Christine Knoop kein ganzes Mädchen dar und verbiete folglich eine direkte Identifikation mit ebenjenem.33 Für Knoop müsse demnach das Mädchen als „Beinahe-Mädchen“34 interpretiert werden. Dies begründet sie mit der Feststellung, dass es sich bei dem Mädchen um ein „mit gängigen Geschlechtszuschreibungen nicht eindeutig fassbares Wesen“35 handelt, welches zwar einem Mädchen ähnelt, aber nicht ganz als eines beschrieben werden könne. Trotz der vermeintlichen Aussage Rilkes, in jedem kreativen Akt wohne ein femininer Aspekt inne und in jedem Menschen sei ein femininer Part enthalten36, bildet für Knoop das Konzept der Sonette kein Weiblichkeitskonzept, sondern vielmehr ein „Inspirations-, Wahrnehmungs - und Bildlichkeitskonzept“37. Das Beinahe-Mädchen evoziere zwar viele grundlegende Weiblichkeitskonzepte, Körperlosigkeit und das fehlende Bewusstsein des Mädchen verhindern jedoch eine authentische Zuordnung zu einem weiblichen Wesen.38 Anscheinend ist die Verbildlichung des Mädchens als Metapher für eine Inspirationserfahrung nur begrenzt möglich. Denn auch für das lyrische Subjekt bleibt die Inspirationserfahrung unbegreiflich.39 Es bleibt dem Subjekt also nichts anderes übrig, als sich auf eine Beschreibung des Ähnlichkeitsverhältnisses zwischen ebenjener Inspirationserfahrung und der Mädchenfigur zu begrenzen.40 Die Undarstellbarkeit dieser Erscheinung verursacht demzufolge die unzureichende Beschreibung der Mädchenfigur. Dieser Annahme folgt, dass eine einfache Zuweisung des literarischen Weiblichkeitskonzept (der Muse durch die Verbildlichung von Weiblichkeit) auf die Mädchenfigur, nicht haltbar ist.

Auch die Vorstellung der Muse als femininer Teil des Mannes kommt in den Sonetten nicht zum Tragen, da das Mädchen, welche aus dem orphischen Gesang hervorgeht, nur vorübergehend in das dichterische-Ich eintritt.41 Dennoch ist auch dieser transitorische Moment femininisiert, was darauf schließen lässt, dass das dichterische Schaffen auch durch die kurzzeitige Muse des Mädchens im Innnern des Dichters gelingen kann. Dafür spricht auch der „Frühlingsschleier“42 (V.3) durch den das Mädchen „glänzt“43 (V. 3) und der als Symbol des Neubeginns und der Hoffnung der Kindheit und Jugend gilt.44 Indem die kindliche, weibliche Muse durch den Dichter spricht und ihn damit zum „Medium ihrer Sprache“45 macht, animiert sie seine dichterischen Fähigkeiten. Das Mädchen in den Sonetten bildet dadurch allerdings die Grundlage des dichterischen Schaffens, aus ihrer Position im Innern des Dichters.

3.1.2. Das Mädchen als Grenzgängerin in Sonett I.2

„Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast du sie vollendet, daß sie nicht begehrte, erst wach zu sein?

Sieh, sie erstand und schlief.

[...]


1 Knoop, Christine A.: „Und fast ein Mädchen wars“: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. In: The German Quarterly 85.3.. American Association of Teachers of German (2012) S.253.

2 Vgl. König, Christoph; Kai Brenner (Hrsg.): Über Die Sonette an Orpheus von Rilke. Lektüren. Göttingen: Wallstein Verlag 2016. S. 10.

3 Rilke, Rainer Maria: Die Sonette an Orpheus. Stuttgart: Reclam Verlag. 1997. Im Folgenden abgekürzt mit SO.

4 König; Brenner (Hrsg.): Die Sonette an Orpheus. S. 10.

5 Vgl. Helfer, Martha B.: The Male Muses of Romanticism: The Poetics of Gender in Novalis, E.T.A. Hoffmann, and Eichendorff. In: The German Quarterly 78,3. American Association of Teachers of German (2005) S. 299.

6 Vgl. Helfer: The Male Muses of Romanticism. S. 299.

7 Vgl. Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 267.

8 Vgl. ebd., S. 269.

9 Vgl. Helfer: The Male Muses of Romanticism. S. 302.

10 Vgl. Helfer: The Male Muses of Romanticism. S. 302.

11 Vgl. ebd. S. 300.

12 Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 270.

13 Vgl. ebd.

14 Ebd. S. 266.

15 Vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Butzer, Günther; Joachim Jacob. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2012. S. 271.

16 Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 267.

17 Vgl. ebd.

18 Vgl. König;Brenner (Hrsg.): Die Sonette an Orpheus. S. 10.

19 Vgl. SO 54.

20 Vgl. König;Brenner (Hrsg.): Die Sonette an Orpheus. S. 10.

21 Vgl ebd.

22 Vgl. https://d-nb.info/1006374507/34 aufgerufen am: 25.09.2019.

23 Vgl. König;Brenner (Hrsg.): Die Sonette an Orpheus. S. 10.

24 Ebd.

25 Vgl. Leisi, Ernst: Rilkes Sonette an Orpheus: Interpretation, Kommentar, Glossar.Tübingen: Narr 1987. S.79.

26 SO 54.

27 Ebd.

28 SO 53.

29 Vgl. König;Brenner (Hrsg.): Die Sonette an Orpheus. S. 28.

30 Vgl. ebd.

31 Vgl. SO 54.

32 Ebd.

33 Vgl. Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 254.

34 Ebd.

35 Ebd.

36 Vgl. Komar, Kathleen L.: The Mediating Muse: Of Men, Women and the Feminine in the Work of Rainer Maria Rilke. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory (1989) Bd. 64, Ausg. 3. S. 131.

37 Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 254.

38 Vgl. Knoop: Zur Darstellbarkeit von Inspiration bei Rainer Maria Rilke. S. 269.

39 Vgl. ebd., S. 269.

40 Vgl. ebd.

41 Vgl. Komar: The Mediating Muse. S. 131.

42 SO 54.

43 Ebd.

44 Vgl. Butzer, Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. S. 136.

45 Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. 2. Aufl. München: Antje Kunstmann 1994. S. 520.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Figur des Mädchens in "Die Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V1138282
ISBN (eBook)
9783346511584
ISBN (Buch)
9783346511591
Sprache
Deutsch
Schlagworte
figur, mädchens, sonette, orpheus, rainer, maria, rilke
Arbeit zitieren
Sophia Berger (Autor:in), 2019, Die Figur des Mädchens in "Die Sonette an Orpheus" von Rainer Maria Rilke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1138282

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