Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ein Exkurs in die Asyl- und Flüchtlingspolitik Deutschlands
3. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
3.1 Rechtliche Grundlagen der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
3.2 Spannungsfelder bei der Arbeit mit jugendlichen Migrant*innen
3.3 Multiprofessionale Zusammenarbeit im Kontext der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
4. Die Methodik dieser Lehrforschungsarbeit
4.1 Qualitative Sozialforschung
4.2 Von der Forschungsfrage zum Interviewleitfaden
4.3 Feldzugang, Planung und Durchführung der Interviews
4.4 Transkription und Auswertung der Ergebnisse
5. Auswertung und Analyse der Ergebnisse unserer Stichprobe
6. Diskussion der Ergebnisse
7. Literatur- und Quellenangaben
1. Einleitung
Im Rahmen des Moduls 91130, Einführung in die Forschungsmethoden bekamen wir in dem Forschungsprojekt „Sozialarbeit als Grenzarbeit“ Einblicke in die qualitative Sozialforschung. Auf den Aufbau und die Durchführung der Forschung gehen wir später im Methodenteil näher ein. Hier werden wir dann auch erklären, wie die Forschungsfrage, der Interviewaufbau und die Auswahl der interviewten Expert*innen zustande kam sowie welche Schwierigkeiten sich ergeben haben und wie wir sie auflösen konnten.
Beginnen möchten wir diese Arbeit mit einem Einblick in ein Themenfeld der Sozialen Arbeit, das von vielen Spannungen und Konflikten geprägt sein kann. Ein Arbeitsgebiet, das den, in diesem Bereich beschäftigten Sozialarbeiter*innen, viel abverlangt. Ferner gehen wir folgender Frage nach:
„Welche Schlüsselmomente können Sozialarbeiter*innen bei Konflikten und Regelverstößen sowie sich ergebende Spannungsfelder bei ihrer Arbeit mit geflüchteten Migrant*innen in der vollstationären Jugendhilfe erleben?“
Diese Frage soll durch eine Stichprobe mit der Methode eines offenen Expert*inneninterviews, im Kontext der Arbeit in einer Wohngruppe mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und einem Mutter-Kind-Haus, beantwortet werden.
Das Thema Migration mit den hier be- und entstehenden Konflikten, Regelverstößen und Spannungen erschien uns relevant, da wir beide in unserer beruflichen Tätigkeit bei einem der größeren hessischen Träger der Jugendhilfe bereits mit geflüchteten Migrant*innen gearbeitet haben und somit über diesbezügliche Erfahrungen verfügen.
In den Jahren ab 2014 war Deutschland ein beliebtes und zentrales Ziel- und Aufnahmeland von Geflüchteten, die in Europa Schutz suchten. Daraufhin stieg die Anzahl von Einreisenden nach Deutschland exponentiell. Hierdurch kam es zu einer deutlichen Überlastung in den etablierten Verwaltungsstrukturen im Zusammenhang mit der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen, Asylverfahren und in der Folge auch mit der weiteren Unterbringung der geflüchteten Menschen [vgl. Grote, 2018, S. 5]. Hierdurch wurde innerhalb einer sehr kurzen Zeit viel Personal in den Einrichtungen benötigt. Da die meisten Sozialarbeiter*innen zu diesem Zeitpunkt über keine ausreichenden Erfahrungen mit geflüchteten Migrant*innen verfügten, standen sie recht unvorbereitet diesen neuen Herausforderungen gegenüber.
Ziel der Arbeit ist das Herausarbeiten von Spannungsfeldern, Konflikten und gegebenenfalls Regelverstößen durch die Migrant*innen und der Umgang der beteiligten Sozialarbeiter*innen hiermit. Es sollen die Spannungsfelder und Konflikte einerseits benannt und analysiert werden. Andererseits betrachten wir auch die Hintergründe näher, weshalb es zu Konflikten oder Spannungen gekommen ist. Weiterhin beleuchten wir in der vorliegenden Arbeit wie Sozialarbeiter*innen mit Konflikten, Spannungsfeldern und eventuellen Regelverstößen umgehen bzw. umgegangen sind und inwieweit sie diese möglicherweise auch legitimieren beziehungsweise legitimiert haben.
In Kapitel fünf werden wir die Ergebnisse der Stichprobe vorstellen und diese auch kritisch betrachten und diskutieren. Am Ende fassen wir dann die Erkenntnisse dieser Arbeit in einem Fazit zusammen.
2. Ein Exkurs in die Asyl- und Flüchtlingspolitik Deutschlands
Um zu diesem Themenbereich eine Forschungsarbeit, und sei es auch nur für den Zweck des Lernens, erstellen zu können, ist eine kurze thematische Auseinandersetzung mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik Deutschlands notwendig.
Die Bundesrepublik steuert, kontrolliert und begrenzt durch ihre Migrationspolitik den Zuzug von Ausländern. Hierbei sind die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft, ebenso zu berücksichtigen, wie die Integrationsfähigkeit der Migrant*innen. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen jedoch auch nicht die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen des Staates und seine humanitären Verpflichtungen. So sichert Artikel 16a des Grundgesetzes politisch Verfolgten ein individuelles Grundrecht auf Asyl in Deutschland. Mit dieser Grundgesetzt-Regelung wird die, historische und humanitäre Verpflichtung Deutschlands zum Ausdruck gebracht, Schutzbedürftigen zu helfen und diese zu unterstützen.
Geregelt wird das Anerkennungsverfahren für Asylsuchende im Wesentlichen im deutschen Asylgesetz (AsylG). Ebenso Anwendung finden die Vorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Hier sind insbesondere die Dublin III-Verordnung und die EURODAC-Verordnung, die Asylverfahrens-Richtlinie sowie die Aufnahme- und Qualifikations-Richtlinie, zu nennen.
Seit 01.01.2014 werden die Regelungen der Dublin III-Verordnung vom 26.06.2013 angewendet. Diese EU-Verordnung beinhaltet die Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatslosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist Sie ist ein, in das nationale Asylverfahren integriertes Instrument, welches innerhalb ihrer Mitgliedstaaten jedem Asylbewerber die Durchführung eines Asylverfahrens garantieren soll. Gleichzeitig soll dadurch verhindert werden, dass ein Asylbewerber mehrere Asylanträge in verschiedenen Mitgliedsländern stellen kann. Mitgliedstaaten sind alle EU-Länder und zusätzlich die Schweiz, Island, Norwegen und Lichtenstein. Somit sind die Zuständigkeiten klar definiert. Der Mitgliedsstaat ist für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständig, der die größte Verantwortung für den Aufenthalt des Asylbewerbers in Europa hat. Sollte sich der verantwortliche Staat nicht ermitteln lassen, ist derjenige zuständig, wo der Asylbewerber zuerst einen Asylantrag gestellt hat. Durch diese Regelung soll gewährleistet werden, dass auf jeden Fall ein Asylverfahren eingeleitet wird.
Sind die Asylsuchenden Deutschland zugeteilt und hier angekommen werden sie nach ihrer Einreise, also beim Erstkontakt mit einer zur Registrierung befugten Behörde, erkennungsdienstlich behandelt. Hierzu befugt sind die Landes- und Bundespolizei, Erstaufnahmeeinrichtungen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder die Ausländerbehörde. Ab Vollendung des 14. Lebensjahres werden hierbei auch die Fingerabdrücke erfasst. Die erhobenen Daten werden in einem bundesweit verfügbaren zentralen Datensystem gespeichert. Im nächsten Schritt werden die Asylsuchenden mit Hilfe eines bundesweiten Verteilungssystems, nach einem im Asylgesetz festgelegten Schlüssel, auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Nach einem Abgleich mit dem Kerndatensystem begeben sie sich in die zugewiesene Aufnahmeeinrichtung und erhalten dort einen Ankunftsnachweis, mit dem die Registrierung nachgewiesen werden kann. Ab diesem Zeitpunkt haben die Flüchtlinge Anspruch auf Unterstützungsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Aufenthalt in Deutschland ist offiziell gestattet. Mit der Aufenthaltsgestattung hat jeder Flüchtling ein vorläufiges Bleiberecht auf dem Gebiet der Bundesrepublik zum Zweck der Durchführung des Asylverfahrens. Jetzt wird anhand der Dublin III-Verordnung überprüft, welcher Mitgliedsstaat zuständig ist.
Das Asylverfahren, für Asylbewerber, die Deutschland zugewiesen werden, wird durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführt. Es folgt unter Hinzuziehung von Dolmetscher*innen eine persönliche Anhörung zu ihrem Reiseweg und den Verfolgungsgründen [vgl. auch Interview 1]. Aufgrund der Anhörung wird dann über den Asylantrag entschieden.
Neben dem Grundrecht auf Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz gibt es drei weitere Schutzformen nach dem Asylgesetz. Hierauf soll nun kurz eingegangen werden.
Nach § 3 AsylG ist ein Ausländer dann ein Flüchtling, wenn er sich:
„…aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe…außerhalb des Herkunftslandes…befindet“.
Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer nach § 4 AsylG dann zu gewähren, wenn: „…ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht…“.
Als weitere Schutzform wird das Abschiebungsverbot in § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz geregelt.
Diese Regelungen sind für alle Asylsuchende, so auch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gültig. Jedoch gibt es im Umgang mit diesen, ein Spannungsfeld widersprüchlicher Interessen. Auf der einen Seite greift hier das Kinder- und Jugendhilfegesetz auf der einen Seite das deutsche Ausländerrecht.
Ursache für dieses Spannungsfeld ist, die Zugehörigkeit des Ausländerrechts zum Ordnungsrecht, während das Jugendhilferecht ein Leistungsrecht ist.
Das Ausländerrecht betrachtet als Ordnungsrecht das Wohl der Gesellschaft. Es verfolgt somit das Ziel, die Gesellschaft vor Gefahren, wie beispielsweise Terrorismus, Kriminalität oder Belastung der Sozialsysteme, zu schützen.
Dagegen ist das Jugendhilferecht, ein Leistungsrecht. Es hat in erster Linie das Wohl des Kindes und seinen Schutz im Fokus.
Allein der Tatbestand, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von den örtlichen Jugendämtern in Obhut genommen und in stationären Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden, widerspricht dem Auftrag des Ausländerrechts. Da mit der Aufnahme der Jugendlichen in vollstationären Jugendhilfeeinrichtungen, die Sozialsysteme sehr stark belastet werden, ist bereits hier ein Spannungsfeld deutlich zu erkennen [vgl. Schwarz, Tamm, 2010, S. 37].
3. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Migration ist in der Soziologie die Abwanderung in ein anderes Land. Sie bedeutet für jeden der migrieren muss eine große Herausforderung. Migration steht oft im Zusammenhang mit einem Verlust an sozialem und kulturellem Kapital. Ein Verlust an sozialem Kapital bedeutet, dass gewachsene soziale Netzwerke verschwinden und damit geht auch eine emotionale Unterstützung im Alltag verloren [vgl. Leyendecker, 2011, S. 240 ff.]. Um diese Netzwerke wiederaufzubauen bzw. um die betroffenen Jugendlichen zu unterstützen, werden sie im Rahmen der Jugendhilfe vollstationär untergebracht. Laut Sachstandsbericht des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages befanden sich Ende 2016 in Deutschland ungefähr 50.000 unbegleitete Minderjährige in Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen [vgl. Wissenschaftlicher Dienst, 2018, S. 4].
Um das Thema näher betrachten zu können, sollen zum Einstieg einige Begriffe geklärt werden.
Sofern Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, ohne ihre Eltern oder mindestens einen Sorgeberechtigten, nach Deutschland einreisen, gelten sie als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Während ihrer Asylverfahren, werden sie besonders betreut. Die Betreuung der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist auf jeden Fall gesichert und nicht abhängig von einem Aufenthaltsstatus oder dem Asylverfahren. Auf Grundlage der UN-Konventionen müssen die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge direkt mit ihrem ersten Kontakt zu einer deutschen Behörde an das örtlich und sachlich zuständige Jugendamt verwiesen werden [vgl. UNO Flüchtlingshilfe, 2021].
Auch bereits vor der großen Flüchtlingswelle 2014/2015 sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine Seltenheit gewesen. So sind in den letzten Jahren immer mehr Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern nach Deutschland eingereist. Einige sind bereits allein geflohen, andere haben ihre Bezugspersonen während ihrer langen und gefährlichen Reise verloren.
Die Fluchtmotive sind vielfältig. Kriege, Menschenrechtsverletzungen, Unruhen, demographische Veränderungen und Umweltkatastrophen, wie z.B. große Dürre, Hungersnot sind Fluchtgründe, um nur einige zu benennen. Einige Kinder und Jugendliche fliehen aus Angst vor der Zwangsrekrutierung als Kindersoldat*innen. Bei Mädchen und weiblichen Jugendlichen, die häufig Opfer von Genitalverstümmelung und sexueller Ausbeutung sind, ist auch dies ein Motiv das Heimatland und ihre Familie zu verlassen.
Andere Kinder und Jugendliche fliehen aus ihren Herkunftsländern, weil ihre Eltern in Bürgerkriegen ermordet wurden oder an Krankheiten, verstorben sind, und sie nun keine Existenzsicherheiten und Vertrauenspersonen in ihrem Herkunftsland mehr haben. Manche unbegleitete Minderjährige jedoch, werden auch von ihren Eltern weggeschickt, um ein besseres Leben in einem anderen Land beginnen zu können. Sie sollen eine Chance auf Bildung bekommen oder Geld für die Familie hinzuverdienen, welches dann in das Heimatland geschickt wird. Am häufigsten jedoch ist der Wunsch nach einem menschenwürdigeren und sichereren Leben, als jenes, dass die Kinder und Jugendlichen bisher führen mussten [vgl. Rieger, 2010, S. 21f.].
Andere Kinderflüchtlinge beginnen ihre Flucht gemeinsam mit ihren Eltern. Sie flüchten, weil ihre Eltern dies tun und werden im Laufe der Flucht bzw. der Schleusungen nach Europa von ihnen getrennt [vgl. Parusel, 2009, S.19].
Bei fast allen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind die Folgen ihrer Flucht spürbar. Es kann grundsätzlich zwischen psychischen und physischen Beeinträchtigungen, die sie durch die Flucht erfahren haben, unterschieden werden.
Einige wurden bereits vor der Flucht aus ihren Heimatländern mit schwerwiegenden und traumatischen Ereignissen konfrontiert. Hieraus resultieren langfristige Folgen, die die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigen. Die Flucht ist von enormen psychischen Belastungen gekennzeichnet, die durch schlimmste traumatische Erlebnisse ausgelöst werden. Gerade Gewalterfahrungen und Abhängigkeiten sind während der Flucht keine Seltenheit deshalb hier besonders hervorzuheben. So müssen die Minderjährigen, zum Teil noch junge Kinder, Schlepperorganisationen und Fluchthelfern vertrauen und sich an deren Vorgaben und Pläne halten. Häufig machen sie durch diese Abhängigkeit, auch hierbei negative Erfahrungen. Als besonders kritisch für die Jugendlichen, ist das Getrenntsein von ihren Familien und der damit verbundene Verlust emotionaler Sicherheit sowie der Wegfall von gewohnten Strukturen und Abläufen, zu betrachten.
Sie befinden sich für einen relativ langen Zeitraum, in unsicheren, neuen und gefährlichen Situationen. Sie müssen gleichzeitig fremden erwachsenen Menschen vertrauen und für sich folgenschwere Entscheidungen alleine treffen. Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt ist die Ungewissheit, Angst und Sorge um ihre zurückgelassene Familie. Gerade Frauen und Mädchen erleben auf der Flucht vermehrt sexuelle Übergriffe und Misshandlungen.
Die anstrengende Flucht und die damit einhergehenden körperlichen Belastungen und Auffälligkeiten können ebenfalls schwerwiegende Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen. Darüber hinaus kommt das Bewusstsein über eine ungewisse Zukunft hinzu. Alle diese Bedingungen erschweren eine Aufarbeitung der Traumata, sofern die Möglichkeit überhaupt gegeben ist, enorm. Betrachtet man zusätzlich auch noch den Hintergrund, dass auch in Deutschland kein ausreichender Schutz und keine Sicherheit über den Verbleib der jungen Menschen nach der Volljährigkeit gegeben sind, wird eine Bearbeitung zunehmend erschwert, wenn nicht sogar fast aussichtslos. Weiterhin kommt hinzu, dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge immer noch mit dem Verlust ihrer Eltern und dem damit einhergehenden Verlust ihres gesamten Familienverbundes zurechtkommen müssen. Besonders enge Bezugspersonen und vertraute, nahe Angehörige könnten in dieser Situation als wichtige Unterstützung und Ressourcen dienen. Da die Jugendlichen jedoch mit ihren Ängsten, Befürchtungen, Integrationsbemühungen und Gefühlen „alleine“ bleiben, kann es zu einer Desorientierung kommen. Auch wenn viele minderjährige Flüchtlinge schnelle Lernerfolge erzielen, wie in einem Interview gezeigt wird, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie in Deutschland wirklich „angekommen sind“ oder sich hier gar wohl fühlen. Die Perspektivlosigkeit und die Unsicherheit darüber, was in der Zukunft passieren wird und die damit verbundenen Zukunftsängste der Jugendlichen ergeben eine Kombination, die sich für die Betroffenen selber als eine sehr erschwerende und oftmals ohnmächtige Situation darstellt und anfühlt [vgl. Espenhorst, 2010, S. 5f.].
Liest man Texte zum Thema Migration, liegt häufig das Hauptaugenmerk auf den oben näher beschriebenen Konflikten und Spannungsfeldern. Es darf jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden, mit welchen Spannungen, Konflikten und großen Problemen die geflüchteten Jugendlichen direkt nach ihrer Flucht konfrontiert werden. Das Erlernen einer fremden Sprache stellt für Viele schon die erste Hürde dar. Führt man sich dann auch noch vor Augen welchen Kulturschock sie erleben, wenn sie zum ersten Mal einen westlichen Industriestaat betreten, wird dieser Schock grundsätzlich gewaltig sein. Es muss sich für Viele anfühlen, als seien sie in einer komplett neuen Welt gelandet. Mittelalter trifft auf Neuzeit! Folgt man den Ausführungen des niederländischen Kulturwissenschaftlers Geert Hofstede ist jedes Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft mit „deren Software“ programmiert und handelt auch in den verschiedenen Situationen danach [vgl. Förderzentrum Ranke-Heimann, 2017].
Betrachtet man lediglich die geographischen und landschaftlichen Unterschiede, ist es schon schwierig die Orientierung nicht zu verlieren. Plötzlich sieht man sich in einem Land mit Bergen, Wäldern, Flüssen und Seen. Das muss sich merkwürdig anfühlen, wenn es im Herkunftsland nur Wüsten und Steppen gab. Auch die Wetterlage mit Eis, Schnee und Kälte kann zu großen Verwirrungen führen. Sie müssen nicht nur ihre Kleidung an die neuen Gegebenheiten anpassen, sondern werden auch mit völlig fremdartigen Pflanzen und Tieren in Berührung kommen.
Ein weiterer Aspekt, der nicht unerheblich ist, ist die völlig veränderte Infrastruktur. So sehen sich die Migranten einem gut ausgebauten Straßennetz mit ständig fließendem Straßenverkehr gegenüber. Was muss in ihnen vorgehen, wenn sie aus einem Land einreisen, wo die Hauptverkehrsmittel Ochsenkarren und maximal Pferde oder Kamele sind? Überall sind Häuser, mit fließendem Wasser und Strom, große Fabriken, Baustellen, Geschäfte und Supermärkte zu sehen. Plötzlich gibt es Nahrung und Kleidung im Überfluss und auch die ärztliche Versorgung ist sichergestellt. Das scheint sich auf den ersten Blick positiv auf die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auszuwirken, kann aber auch zu weiteren kulturellen Verwirrungen führen. Auch die Regeln und Traditionen in Deutschland, die plötzlich auch für sie gelten sollen, tragen erheblich dazu bei. So ist es für die Bevölkerung im westlichen Kulturkreis völlig normal, dass man nicht, oder nur in bestimmten Fällen, mit den Fingern isst oder beim Essen schmatzt. Auch ist es hierzulande völlig normal auch die linke, unreine Hand zum Essen zu benutzen [vgl. Förderzentrum Ranke-Heimann, 2017]. Gerade männlichen Migranten fällt es häufig schwer, dass in Deutschland allgemeingültige Frauenbild und die Gleichberechtigung zu verstehen oder gar zu akzeptieren. Für Einige war es unter Strafe verboten in ihrem Herkunftsland mit einer Frau zu sprechen. Jetzt kommt eine Frau als Sozialarbeiterin in der Erstaufnahmeeinrichtung oder später in einer Wohngruppe der vollstationären Jugendhilfe plötzlich auf sie zu. Sie bietet nicht nur Hilfe und Unterstützung an, sondern fordert auch die Einhaltung von Regeln ein. Das wäre in den eigenen Kulturkreisen nicht vorstellbar und kann, wie auch im Interview mit G.H. näher beschrieben, zu Konflikten und Spannungsfeldern und Diskrepanzen führen.
Der US-amerikanische Anthropologe Kalvero Oberg spricht in diesem Zusammenhang von fünf Phasen des Kulturschocks. Die beiden ersten Phasen, die Euphorie- und Entfremdungsphase, sollen hier lediglich erwähnt werden und direkt in Phase drei, der Eskalationsphase, münden. Für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge stellt sich das sehr ambivalent dar. Einerseits können sie erwarten und auch davon ausgehen, dass sie Hilfe und Unterstützung von außen erhalten. Andererseits geben sie sich selbst die Schuld daran, dass sie Schwierigkeiten haben, in der fremden Kultur anzukommen. Jetzt tritt Heimweh auf und die eigene Kultur wird verherrlicht und versucht weiterhin zu leben [vgl. Förderzentrum Ranke-Heimann, 2017].
Gelingt den fallzuständigen Sozialarbeiter*innen eine Integration, werden problemlos die Missverständnis- und die Verständigungsphase erreicht. Die Flüchtlinge können dann die neuen kulturellen Spielregeln mehr oder weniger verstehen, diese erlernen und im besten Fall auch annehmen. Sie können sich dann neben ihrem heimischen Kulturkreis auch diesem neuen Kulturkreis zugehörig fühlen.
Betrachtet man in diesem Zusammenhang die zentralen Zielorte unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland, so wird ersichtlich, dass diese Hamburg, Frankfurt am Main, München und Berlin sind. Das lässt sich einerseits auf die geographische Lage zurückführen, da diese Städte zentral oder an wichtigen und großen internationalen Flughäfen liegen. Andererseits nehmen Großstädte mehr Flüchtlinge auf, als kleinere Städte und bieten daher größere Chancen. In einer Großstadt fällt es den jugendlichen Flüchtlingen leichter Kontakte zu knüpfen oder Ansprechpartner zu finden. Zudem sind Großstädte häufig besser in der Lage, neu eingereiste Jugendliche bedarfsorientiert und effektiv zu versorgen, als dies in kleineren Städten der Fall ist [vgl. Jordan, 2000, S. 20 ff.].
3.1. Rechtliche Grundlagen der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
Die rechtlichen Grundlagen im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nehmen einen bedeutenden Stellenwert ein. Fachkräfte, die in diesem Arbeitsfeld tätig sind müssen nicht nur über Kenntnisse des Achten Buches des Sozialgesetzes verfügen, sondern auch die rechtlichen Maßnahmen und gesetzlichen Vorgaben kennen, um die Jugendlichen unterstützen zu können und um Hilfe-stellungen zu leisten. Um den Rahmen dieses Kapitels nicht zu sprengen wird hier nur auf die gesetzlichen Grundlagen innerhalb Deutschlands eingegangen. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention werden hierbei nicht betrachtet.
Wichtigste Rechtsgrundlage für alle Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland ihren tatsächlichen oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, ist das SGB VIII. Aufgrund dessen ist es auch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anzuwenden, da sie aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Hierbei wird grundsätzlich von einem gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen. Minderjährige Migrant*innen bleiben nach der Einreise für eine längere Zeit in Deutschland, weil sie von rechtlichen oder wirklichen Abschiebehindernissen betroffen sind [vgl. Schwarz, Tamm, 2010, S. 38].
Die Kinder- und Jugendhilfe hat die Inobhutnahme als Aufgabe nach § 42 SGB VIII. Dieser Paragraph besagt, dass das Kindeswohl, bei einer Gefährdung, geschützt und sichergestellt werden soll. Die Inobhutnahme ist eine zeitlich begrenzte Schutzmaßnahme im Sinne einer sozialpädagogischen Krisenintervention, die dazu dient, durch die sofortige Aufnahme des Minderjährigen und weitere Maßnahmen eine aktuelle Notlage zu beseitigen.
Das Gesetz ist für alle in Deutschland lebenden Minderjährigen gültig und demnach auch anzuwenden. Daher ist das Jugendamt nach § 42 SGB VIII Satz 1 Nummer 3 berechtigt und verpflichtet ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn der Minderjährige unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Es ist nicht davon abhängig zu machen, ob sich die Minderjährigen rechtmäßig in Deutschland aufhalten oder nach ihrer Einreise Asyl beantragen [vgl. Deutscher Bundestag, 2018, S. 6].
Die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings ist eine zeitlich begrenzte Maßnahme. Während dessen werden die Jugendlichen in einer Pflegefamilie, bei in Deutschland lebenden Verwandten oder einer geeigneten vollstationären Wohngruppe, als Clearingstelle untergebracht. Hier soll ein geschütztes Aufwachsen der jungen Menschen sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang findet auch das Erstscreening statt. Dabei wird der allgemeine Gesundheitszustand überprüft und im Zuge dessen erfolgt auch die erste Altersüberprüfung [vgl. BAMF, 2021].
Das Diese subjektiv zu betrachten sind, lässt sich aus unseren Interviews erkennen.
In Deutschland werden die Clearingverfahren nicht einheitlich gehandhabt, wenn auch angestrebt wird, dass ein Schema vorhanden sein soll, nach welchem jeder Kinderflüchtling betrachtet werden soll. Während dieser Verfahren sollen die Fluchtgeschichte, die Fluchtmotive, der Kontakt zur Herkunftsfamilie, Bildungsstand und weitere persönliche Gründe und Bedarfe geklärt werden. Weiterhin dient dieses Verfahren der Beratung in ausländerrechtlichen Fragen. Die geschulten Fachkräfte haben die Aufgabe, mit den Flüchtlingen gemeinsam, ein Asylverfahren einzuleiten oder einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen nach dem § 25, Abs. 5 AufenthG zu beantragen oder dem Schützling andere Möglichkeiten für einen rechtlichen Aufenthalt in Deutschland aufzuzeigen.
Das örtlich und sachlich zuständige Jugendamt trifft die Entscheidung darüber, ob durch die folgenden Verteilungsverfahren eine Kindeswohlgefährdung hervorgerufen werden kann. Deshalb wird überprüft, ob die Möglichkeit einer Familienzusammen-führung mit bereits in Deutschland lebenden Verwandten möglich ist oder ob die psychischen Auswirkungen bei einer gemeinsamen Unterbringung, mit durch die Flucht bekannten, anderen unbegleiteten Minderjährigen, vermindert werden können.
Ist das Verteilungsverfahren abgeschlossen, was innerhalb von zwei Wochen der Fall sein sollte, wird eine Vormundschaft beantragt. Eine Entscheidung über die Vormundschaft wird durch das nun zuständige Familiengericht getroffen. Die Vormundschaft gilt bis zum Erreichen der Volljährigkeit, wobei sich hier am Recht der Herkunftsländer orientiert wird [vgl. BAMF, 2021].
Wichtig zu wissen ist, dass beim Asylverfahren die Regelungen in Deutschland gelten. So müssen Flüchtlinge, auch wenn sie in ihrem Herkunftsland noch als minderjährig gelten, den Asylantrag in Deutschland selbst stellen, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben.
Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, welches im Jahr 2005 entstand, ist verantwortlich für die Änderung des §42 SGB VIII und somit für eine neue rechtliche Grundlage. Seitdem werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge explizit im Gesetzestext benannt. Somit verfolgt diese Änderung in erster Linie das Kindeswohl der jugendlichen Flüchtlinge und bietet ihnen gesetzliche Schutzmaßnahmen, die für alle Minderjährigen gelten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
3.2. Spannungsfelder bei der Arbeit mit jugendlichen Migrant*innen
Pädagog*innen geraten gerade bei der Arbeit mit minderjährigen Geflüchteten an ihre Grenzen. Soziale Arbeit steht immer im Kontext des Doppelmandats zwischen Hilfe und Kontrolle. So werden in diesem Arbeitsfeld die Grenzen der Hilfen in besonderer Weise deutlich, die der Sozialen Arbeit durch politische und rechtliche Vorgaben gesetzt sind.
[...]