Kafka - das Judentum, der Zionismus


Hausarbeit, 1989

61 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

I. Einleitung

II. Hauptteil
1 Umgebung und Innenwelt
2 Begegnung und Qual
3 Freundschaft und Theater
4 Rede und Berührung mit dem Ostjudentum
5 Philosophisches
6 Das Schloss
7 Vom Prozess und den Aphorismen
8 Antisemitismus
9 Zionismus
10 Affe und Westjudentum

III. Schlusswort

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweis

I. Einleitung

Zur Einleitung in diese Hausarbeit über Franz Kafka und sein Verhältnis zum Judentum und zum Zionismus, wie er von einigen seiner Freunde vertreten wurde, sei gleich gesagt, dass es eine Schwierigkeit war, Kafka, der keine klare Position zu seiner Abstammung einnahm, unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten – die hier vorliegende Analyse muss, obwohl durchaus mit dem Anspruch auf Vollständigkeit angetreten, angesichts des Mangels an spezieller, auf dieses Verhältnis bezogene Fachliteratur, sich damit begnügen, einen mit Vorsicht und mit Sympathie für diesen Dichter verfassten oberflächlichen Text zu versuchen. Der muss kurz ausfallen.

Er ist trotzdem, was der Autor dieser Hausarbeit jedenfalls hofft (gerade auch der Linie Kafkas persönlicher Begegnungen folgend), so gut ausgefallen, inhaltsreich und das Wichtigste ansprechend, dass der Leser keine Probleme haben wird, sich in die Welt Kafkas zu versetzen, sie auch zu genießen; denn Kafka darf nicht, das will ich betonen, unter ferner Liefen abgehandelt und als ein Dichter unter vielen angesehen werden.

Kafka ist nämlich als Mittler der verschiedensten Inhalte auch ein Mittler der gegensätzlichen Kulturen – für die Prag, seine Heimatstadt, in den Jahrhunderten ihrer Existenz stand. Sein Vater stammte vom Land und war tschechischer Nationalität, aber auch ein Jude. Die Mutter hingegen kam aus einer großbürgerlichen Familie Prags. So war die Wurzel gelegt, die die tieferen Gründe für sein Schaffen verständlich werden lässt.

Das Fernweh, was Kafka so intensiv empfand, stand in einem engen Bezug zu seiner Heimatstadt. Er war Prag stets – schließlich aber recht schmerzlich – verbunden.

An dieser Stelle müssen einige Stationen seines Lebens aufgeführt werden, die im folgenden wissenschaftlichen Text nicht weiter berücksichtigt werden können, da sie ohne unmittelbare Relevanz sind; sie haben aber für das Verstehen von Kafkas Persönlichkeit einen nicht unerheblichen Stellenwert.

Er wurde im Jahr 1883 geboren, besuchte von 1889 bis 1893 die Knabenschule am Fleischmarkt in Prag; im Jahr 1893 wechselte er auf das humanistische Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag-Altstadt. 1901 machte er das Abitur.

Und im Jahr 1906 begann er ein Volontariat in einer Advokatur, im gleichen Jahr am 18. Juni promovierte er zum Dr. Juris.

Die erste Veröffentlichung kam 1908: 8 Prosastücke aus dem späteren Band „Betrachtung“ in der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift Hyperion. Im Juli 1906 trat er als Aushilfsbeamter in die Arbeiter- und Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag ein.

Kafka war zeitlebens auf seine Heimatstadt Prag fixiert, unternahm aber immerhin zahlreiche Dienstreisen nach auswärts, manche Wochenenden und Urlaube verbrachte er mit Freunden in Städten wie Wien. Er hielt sich in Oberitalien auf (mit Max Brod), wo er in Riva am Gardasee ein Sanatorium aufsuchte. Die letzten Jahre seines Lebens musste er öfters Sanatorien wegen seiner Krankheit (Lungentuberkulose) in Anspruch nehmen. Im Jahr 1922 wurde er pensioniert.

Fortan widmete er sich noch intensiver der literarischen Tätigkeit, verfasste „Das Schloss“, studierte Hebräisch und plante die Übersiedlung nach Palästina.

In dieser Hausarbeit kann und soll nicht übermäßig Biografisches zur Ausbreitung kommen. In den gefragten Kontext einreihen muss sich das Erwähnte aber allemal: Kafka und das Judentum, wie es ihm begegnete und welchen Einfluss es auf ihn ausübte.

Am Anfang steht allerdings die Frage: Was ist Judentum? Gemeint wäre ein Judentum, welches mit Kafka in Verbindung gebracht werden kann, der ein Mensch war, der kaum als ein gläubiger Mensch zu bezeichnen ist.

Weil er sich abgestoßen fühlte, distanzierte er sich von den religiösen Riten, die von den Westjuden seinerzeit praktiziert wurden. Der grobschlächtige Vater hatte ihm – dies betreffend – keine ergiebige Pflichtauffassung mit auf den Weg gegeben.

Das Judentum ist als Einheit von Nation und Religion zu begreifen. Bis zum Zeitalter der Emanzipation war diese Einheit unbestritten. Die Juden und ihre religiöse Einheit – das Judentum als Sammelbegriff – kann als für Kafka nicht besonders wichtig gelten. Er ließ sich nämlich vom Chassidismus beeinflussen, der sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts von der Orthodoxie abspaltete.

Somit ist dieser Zweig des Judentums als Quelle der religiösen Beeinflussung Kafkas erkannt.

II. Hauptteil

1 Umgebung und Innenwelt

Mit einigem Recht kann Franz Kafka zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellern, sogar zu denen mit Weltgeltung, gezählt werden.

Wichtig war er aber nicht nur wegen seiner bedeutenden schöpferischen Tätigkeit, sondern auch wegen der in seinem Leben sich vereinigenden widersprüchlichen Elemente, die ihn innerlich, und das ist in der Kafka-Forschung deutlich geworden, dauerhaft auf eine Zerreißprobe stellten. Von daher muss in ihm eine ungeheure Motivation zum Verfassen von Texten auffindbar gewesen sein.

Seine Psyche war nicht eben die eines Weltfremden, aber doch eines Menschen, der sich von Kräften, gerade solchen, die tief drinnen wüteten, bedroht sah.

Kafka ist als ein Mensch zu begreifen, der in seiner der extremen Gewissenhaftigkeit, ausdauernden, auf soziale Anpassung bedachten, der sozialen Unauffälligkeit verschriebenen Verhaltensart immer zeigte, das er das Gesetz (das Höhere, Höchste, die Vollkommenheit in der Definition Franz Kafkas) zwar zu achten gewillt war, dasselbe nichtsdestotrotz über sich in weiter, luftiger Höhe unscharf konturiert wahrnehmen konnte. Aus diesem Grund hatte er das Verlangen nach Erreichung eines eigentlich Unerreichbaren. Anzunehmen ist, dass er diesem Unerreichbaren in vollem Bewusstsein seines Nichtgenügens gegenüberstand.

Er war mit sich im Unreinen. Die Pflicht und das stete Bestreben, die Erfüllung in der Ehe mit einer Frau zu finden, führten zu Komplikationen.

Da Kafka für sich das Absolute erstrebte, muss dieses als krasser Gegensatz zum Gegenwärtigen verstanden werden, dem er Tribut zahlen musste.

Das Scheitern war eine immer gegebene Möglichkeit. So manifestierte sich in Kafka die ganze Verworfenheit menschlichen Daseins; zu dieser gesellte sich die Aufrichtigkeit eines Menschen, welcher über eine Ausnahmefähigkeit verfügte: die Schriftstellerei.

Nach der späten Lösung von seiner Prager Familie konnte er diese starke Ausnahmefähigkeit stärker nutzen.

Die harten Attacken seines Vaters hatten ihn zermürbt. Beide verstanden sich nicht sonderlich, Vater Kafka hielt nichts von den Ambitionen seines Sohnes, insonderheit von den literarischen. Im „Brief an den Vater“ stellte der Sohn die komplizierte Beziehung zum Vater dar.

Der Betrachter von Kafkas Lebensverhältnissen, aus der Perspektive eines wissenschaftlich Beschreibenden, Analysierenden, Urteilenden kann nicht umhin, neben dieses Vater-Sohn-Verhältnis Kafkas Verhältnis (und dessen Verhaltensweisen) zum weiblichen Geschlecht zu stellen.

Die Frauen, mit denen er näheren Umgang pflegte, begriffen hinsichtlich der Ehewünsche und seiner Schriftstellerei den Anspruch so gut wie gar nicht, welchen er an sich selbst stellte. Seine ihnen kaum geöffnete Vorstellungswelt beäugten sie mit Misstrauen.

Eine Ausnahmestellung nahm allerdings seine Freundin Milena ein, mit der er einen regen Briefwechsel unterhielt, der sehr bekannt geworden ist. Aber auch Dora Diamant, Kafkas Lebensgefährtin der letzten Zeit vor seinem frühen Tod (in Berlin 1923/24) schließt hieran an.

In seinen Korrespondenzen betrieb er reichlich Aufklärungsarbeit über seinen Charakter und die für das Eheleben geplanten Maßnahmen, wie er sie sich genau vorstellte. (Es handelte sich gar bis ins Detail gehende Beschreibungen, z. B. wie welche Wohnung auszusehen habe.)

Das muss man als dem Ziel einer ehelichen Verbindung auch unbewusst entgegenwirkend ansehen.

Sorgen machte ihm außerdem die von ihm als unerträglich empfundene Beamtentätigkeit in einer Versicherungsanstalt, - und nicht weniger die drei Verlobungen, die viel Pein verursachten.

Mit seiner zweimaligen Verlobten Felice Bauer kam er erstmals im August 1912 zusammen. Und am 1. Juni des Jahres 1914 verlobten sie sich schon. Ihre Beziehung währte nicht lang: der 12. Juli desselben Jahres brachte die Entlobung. Die letzte, zweite Entlobung fand im Dezember 1917 statt, nachdem er in einem fünfjährigen regen Briefverkehr mit ihr gestanden hatte.

Zum Verständnis sei ein Zitat genannt, das diese Beziehung vielleicht ein wenig zu erhellen vermag: „... ich müsste durch mein Schreiben unglücklich machen, und mir ist doch nicht zu helfen. Um das einzusehen, hätte ich es nötig gehabt, alle Uhrenschläge der heutigen Nacht aufzuzählen ... Vergessen Sie rasch das Gespenst, das ich bin, und leben Sie fröhlich und ruhig wie früher.“ (1)

Schüchternen Annäherungen in Briefen folgte häufig ein Zurückweichen. Nach dem oben zitierten Brief wurde der Briefwechsel fortgesetzt. Doch die junge Frau wurde einer sich plötzlich offenbarenden Unheimlichkeit Kafkas gewahr, der nun mit Eifer Freundin Felice zu halten versuchte.

Eine gewisse Unsicherheit herrschte in Kafka.

Und das Prosastück „Elf Söhne“ gilt als Beleg dafür, dass Kafka die Vaterschaft, die Familiengründung als Wunschbild in sich trug. Das musste ihm gelingen! Spätere Interpreten seines Widerstrebens oder des gespaltenen Willens bezüglich seiner Suche nach dem Festen und Beständigen und zum anderen seiner Jugendgewohnheit, flüchtige Liebschaften einzugehen, ließen den Ödipuskomplex als Ursache naheliegend erscheinen.

Dieser ist die Erklärung Sigmund Freuds für Kafkas Hinneigung zu seiner Mutter. Es ist dies wohl die übergroße, ja inzestuöse Liebe zur Mutter, welche in einer stark gefühlsbetonten mütterlichen Erziehung begründet liegt.

Die Drohung einer Strafe schwebt über dieser Beziehung. Somit ängstigt sich der Sohn stets vor dem Vater.

Es soll in dieser Untersuchung nicht intensiv auf das schriftstellerische Werk Franz Kafkas eingegangen werden, doch muss die Bemerkung hinsichtlich Sigmund Freud und Franz Kafka erlaubt sein, dass Franz Kafka die Psychoanalyse in seinem schriftstellerischen Werk weitestgehend unberücksichtigt ließ. Kafkas genauere Kenntnis der Schriften Sigmund Freuds wäre also lediglich eine Annahme. Er brachte den Inhalt dieser Schriften jedenfalls auch nicht direkt mit seiner eigenen persönlichen Lebensproblematik in Zusammenhang.

Allenthalben befand sich Kafka immer auf der Suche nach der Wahrheit.

Nachdem seine religiöse Entwicklung eingesetzt hatte, die ja unter dem Einfluss Max Brods und des „Prager Kreises“ vor sich ging, verließ ihn nie die Strenge in der Beurteilung von moralischen Angelegenheiten.

Und wenn in dieser Untersuchung auch auf den Zionismus und seine Bedeutung für Franz Kafka eingegangen wird, so ist jetzt schon darauf hinzuweisen, dass dieser für Franz Kafka einen insgesamt – bezogen auf das ganze Leben und

Arbeiten des Juristen und Schriftstellers – eher unbedeutenden Aspekt ausmachte! Denn Kafka war weder ein besonders der Tagespolitik zugewandter Mensch, noch jemand, der speziell einem politischen Ideal anhing.

Er konnte sich immerhin zeitweilig, gerade auch als Beobachter, den für eine Sache Engagierten anschließen, diskutierte sogar lebhaft mit Freunden. Zudem versenkte er sich in Dichtungen berühmter, von ihm lebhaft verehrter Dichter (Goethe, Hebbel, Dickens).

Immer wahrte Kafka Distanz zu den Menschen und Dingen.

In der Tat hielt er nicht viel vom Engagement derjenigen, die heißblütig in politischen Auseinandersetzungen einseitig Partei ergriffen. Seine stille, zurückgezogene Art, die aber einen Sinn für Witz und geistreichen Humor aufwies, machte ihn für die mit ihm befreundeten Intellektuellen wie z. B. Baum, Felix Weltsch oder Jugendfreunde wie Pollack, attraktiv. Der Umgang mit Freunden, besonders in der Schilderung Max Brods in dessen Biographie „Über Kafka“, ließ Franz Kafka als Mensch hell leuchten. Sein Wesen beeindruckte wahrscheinlich einige Menschen.

Dabei war er wahrlich kein leichtlebiger, kein erfolgsverwöhnter Mensch.

Und die Regelung seiner juristischen Berufstätigkeit war so, dass er wenigstens in mancher Nacht, wenn auch bloß schubweise, schriftstellerisch tätig zu werden vermochte. Sein Arbeitstag endete werktäglich nach 6 Stunden im Büro um 14 Uhr. Dann ging er zum Essen, woraufhin er sich schlafen legte. Zur Nachtstunde nahm er die schriftstellerische Tätigkeit auf. Doch die Monotonie, deren Folgen physisch wie psychisch zu spüren war, wirkte oftmals negativ nach. Das Büro war für ihn eine einzige Quälerei. Sie beanspruchte ihn sehr, die Arbeit. Und sie verhinderte seine volle künstlerische Entfaltung.

An jedem Tag mussten erst einmal wieder die Kräfte gesammelt werden, bevor es ans Schreiben ging.

2 Begegnung und Qual

Manchmal fasste Kafka doch recht Merkwürdiges ins Auge. Um seine individuelle Existenz zu festigen wollte er seine Zugehörigkeit zur Außenweltkonstruktion im Alltag lösen. Die sozialen Bindungen sollten sich allmählich lockern, was aber im eindeutigen Gegensatz zu seinem Verhalten stand: Er dachte nämlich an das SICH-VERLIEBEN-IN-FREMDE-FRAUEN, und an die Freuden des Reisens in die Fremde. Ferne Länder lockten, aber genauso die Dörfer rund um seine Heimatstadt Prag.

Reiseunternehmungen (Er fuhr wirklich mit seinen Freunden am Wochenende ins Freie.) sollten ihn „erlösen“. Immer wieder auftauchende Unerträglichkeiten des Daseins waren für ihn schrecklich. Er empfand sich selbst als innerlich zerrissen. Ein Entrinnen aus der Zerrissenheit war denkbar, aber eben nur denkbar.

Weil er nicht genau wusste, wie er einen Lösungsvorgang richtig beginnen konnte, blieb es beim Erkennen des Horizonts der Möglichkeit. Die Literatur war das Universum, in dem er sich verwirklichen konnte und durfte.

Sie hatte eine gewaltige Bedeutung für ihn. Innerhalb ihrer Grenzen konnte er sich in einer vermeintlichen Freiheit tummeln. Einer Freiheit jedoch, die in der Außenwelt leider keine Entsprechung hatte. Dort haftete an ihm eine persönliche Unentschlossenheit, die sein Handeln stets hemmte.

In der Literatur trug er Konflikte aus, sah Eventualitäten eines wirklichen Handelns voraus, die aufkamen, wenn er den Mut aufbringen konnte (hätte aufbringen können), trotz unversöhnlicher Wünsche einen entscheidenden Schritt zu tun.

In seinen Büchern sah er die Gefahren eines möglichen ersehnten realen Handelns, wobei er die Chancen erblickte, die mit ihm einher gingen. Es war ein geistiges Experimentieren, was er durchführte, kein auf eine bestimmte Richtung zugeschnittener Plan.

Das war ein Denken in Möglichkeiten. Kafka hielt dieses Möglichkeitsdenken durch, aber er konnte natürlich nicht ganz vermeiden, einem inneren Verharren anheim zu fallen, welches im sozialen Handeln resultativ zu nichts führte, denn er befand sich gewissermaßen auf einem Beobachtungsposten. Auf diesem saß er und hielt Ausblick, notierte sich alles Wissenswerte. Doch tat er das nicht, um sich zu entfernen, genauso wenig, weil er einen Grund für sein Bleiben finden wollte.

Es war deswegen, weil er beobachtete, wie das Volk der Juden sich selbst definierte. Auch wie es seinen sozialen Status bestimmte, nicht zwischen Recht und Unrecht hin- und her pendelte, sondern Wurzeln hatte: diese von ihm so bewunderten Wurzeln sah er bei den osteuropäischen Juden, die in Prag ansässig wurden.

Es kam sogar so weit, dass er ein von Pragern besuchtes Treffen aufsuchte – schrieb danach: er empfindet Bewunderung für die „schönen kräftigen Sonderungen im Judentum. Man bekommt Platz. Man sieht sich besser, man beurteilt sich besser“. (2)

Wenig später sagte er im gleichen inhaltlichen Zusammenhang zu seinem Freund Hugo Bergmann: „ich habe jedenfalls nichts zu tun damit“ (3)

Da schien es bei Kafka doch wohl ein sehr zwiespältiges Verhältnis gegenüber den Ostjuden in Prag zu geben, die in dieser Zeit, im September 1911, erst mit 6 000 Menschen kamen, deren Gesamtzahl aber während des I. Weltkrieges auf rund 15 000 Menschen anwuchs.

Auch angesichts dieser Tatsache trat das Ostjudentum verstärkt ins Bewusstsein Kafkas.

Und, ohne Zweifel, Kafka war kein Anhänger des jüdischen Antisemitismus! Mithin sah er die Ostjuden bei weitem nicht so negativ wie viele Prager, die die Ostjuden mit argwöhnischen Blicken empfingen.

Seiner damaligen Verlobten Felice legte er nahe, in die „geistige Schule“ ihrer Zöglinge zu gehen (Sie war in der deutschen Metropole Berlin Lehrerin für Flüchtlinge.), und er schickte sie zu der deutschen Pietistin Erdmuthe von Zinzendorf. Sie sollte deren Beispiel folgen.

Damit drückte Kafka aus, dass er die Sekte der „mährischen Brudergemeinde“, von Zinzendorf bei einigen Aktionen geführt, eines Besuches für wert erachtete.

Kafkas Gefühl der Verlorenheit wurde durch sein erwachtes Ursprungsbewusstsein (mit Bezug auf die Ostjuden Prags) gemildert.

Er wollte es weitergeben als eine positive Erfahrung inmitten einer an negativen Erfahrungen reichen gettoisierten jüdischen Gemeinschaft, deren Wurzeln teilweise heraus gerissen worden waren. Oder die zumindest halbherzig, mit Widerwillen (also der Form halber), von den christlichen Mitbürgern geduldet wurden. Unter den Assimilaten, der überwiegenden Zahl der Prager Juden, die ein Drittel der Deutschen in der Stadt ausmachten und die größtenteils Mittelschichtangehörige waren, war das Streben normal, die soziale und religiöse Zugehörigkeit abzusichern, - was auf ein soziales Anpassungsverhalten hinauslief. Es gelang nur leider nicht immer so, wie sie es sich dachten. Denn selbst ein reicher Jude war auf der sozialen Leiter nicht höher eingestuft als irgendein Akademiker deutscher Nationalität. So schossen viele eitle Bestrebungen ins Leere.

Kafka wollte hier ansetzen, entstandene und entstehende Ängste mittels des Jiddischen zu bewältigen beziehungsweise abzubauen.

Kafka bewunderte die Schauspieler des jiddischen Theaters. Sie schienen die Leiden der Assimilation nicht zu kennen.

Waren ihre öffentlich aufgeführten Theaterstücke vom künstlerischen Qualitätsurteil her als bestenfalls mittelmäßig anzusehen, wertete Kafka ihre Hingabe an die schauspielerisch verkörperte Kultur positiv.

Auf Schauspieler aus Lemberg ist noch einzugehen. Sie sollen im nächsten Kapitel beschrieben werden, besonders sein Freund Izchak Löwy, welchem Kafka viel Zuneigung entgegenbrachte.

Kafka bewunderte die Lebendigkeit des jiddischen Theaters.

Hier gab es einen glatten Gegensatz zum theoretischen, wenn auch nicht eigentlich mit diesem Theater vergleichbaren Zionismus mit klaren politisch-philosophischen Inhalten und Zielsetzungen.

Der Zionismus wurde in Prag vom Bar Kochba, der zionistischen Vereinigung an der Universität Prag, vertreten.

3 Freundschaft und Theater

Ab Mai 1910 verspürte Kafka ein tiefes Interesse am jiddischen Theater. Doch das war in dieser Zeit im Niedergang begriffen. Die Traditionen waren erstarrt, Konventionen bemächtigten sich seiner Ausdrucksformen. Zudem diente es mehr der Erbauung und Unterhaltung als das es als Kunst anzusehen war.

Kafka lernte Izchak Löwy kennen; die Bekanntschaft erweiterte sich zu einer Freundschaft, die Kafka fesselte.

Es entstand eine enge menschliche Bindung zu diesem Warschauer Juden, der aus Lemberg, der Hauptstadt Galiziens kam (also aus der nordöstlichsten Provinz Österreichs mit dem höchsten Judenanteil an der Gesamtbevölkerung).

Kafka stand in einem regen geistigen Austausch mit dem ostjüdischen Theater: nach den Theatervorstellungen im beengten Café Savoy in Prag setzte sich Kafka mit Löwy und dem Familienclan zusammen, um zu diskutieren. Und Kafka erfuhr auf langen Spaziergängen vom Leben und den Riten, Festen und Erzählungen der Ostjuden, hörte Legenden der Wunderrabbi. In der Tat konnte er viel Gutes über Löwy und seine Theatertruppe sagen, zumal er die charakterliche Verfasstheit Löwys bewunderte, dessen Bescheidenheit und Kreativität von Kafka hoch eingeschätzt wurden.

Die Bindung zu ihm war wichtig, erstmals eine wichtige im direkten Zusammenhang mit dem Judentum. Jetzt erkannte Kafka manchen Sinn in jüdischen Riten, der ihm vorher, seine ganze Jugend hindurch, völlig schleierhaft gewesen war.

Er meinte, dass es Löwy verstand, „Dinge und Ideen in Brand zu stecken, was ebensoviel Respekt wie Verwunderung einflößt“ (4).

Löwy trug dazu bei, Kafka konkrete Vorstellungen, Bilder zu vermitteln, ja er machte ihm vielfältige Informationen über das jüdische Gemeinschaftsleben in Osteuropa zugänglich. Zwischen November 1911 und Januar 1912 fanden diesbezüglich Notizen zu Gesprächen, Gebräuchen und Vorstellungen Eingang Kafkas Tagebuch. Am 25. Dezember 1911 schilderte Kafka detailliert eine jüdische Beschneidung, wie sie ihm Löwy geschildert hatte. In der Tagebucheintragung des gleichen Tages findet sich die Beschreibung der Beschneidung eines Neffen Kafkas, deren Augenzeuge er am Tage zuvor wohl gewesen war.

Löwy sorgte dafür, dass Kafkas Bewusstsein hinsichtlich des jüdischen Kulturguts stärker wurde.

Die jiddische Sprache half Kafka enorm. Man weiß allerdings nur von einem Buch jiddischer Sprache, welches Kafka las, obschon er in seinen ersten zwei Gymnasialjahren Anfangsgründe in Hebräisch gelernt hatte, und, aufgrund der Verwandtschaft der Sprache zum Deutschen, in der praktischen Anwendung dieser Sprache wahrscheinlich gewandt war.

Der Schluss liegt nahe, dass es die schwierige Beschaffbarkeit jiddischer Literatur war, die Kafka davon abhielt, mehr als das Schauspiel von Gordin, „Die Schhite“ (das Schächtchen) zu lesen. Es war wahrscheinlich eine Leihgabe Löwys.

Im Januar 1912 erreichte Kafkas Interesse am Jiddischen einen Höhepunkt. So stürzte er sich auf die Doktorarbeit von Pines (lebte von 1881 – 1944, in Paris promoviert), der eine talmudische Erziehung genossen, doch die weitere universitäre Ausbildung in Frankreich und in der Schweiz erhalten hatte, außerdem bei der Konkurrenzorganisation zur zionistischen Organisation, der jüdischen Territorialorganisation, mitwirkte.

Diese liebäugelte mit der Errichtung von jüdischen Siedlungen in Übersee. Das Buch von Pines bot Kafka einen umfassenden Überblick über die jiddische Literatur (der vollständige Dissertationstitel im Anhang des vorliegenden Werks, Anm. des Verfassers). Es war also für Kafka äußerst wertvoll.

Aus Kafkas Bemerkungen dazu, die in englischer Sprache vorliegen, lässt sich ersehen, dass verschiedene Aspekte jiddischer Literatur für ihn von höchstem Interesse waren. Als da war die Beziehung von Literatur zum Menschen, betreffend die Volkslieder.

Und dann auch der Einfluss, welcher von der von Moses Mendelsohn begründeten Bewegung der jüdischen Aufklärung ausgegangen war, der Haskalah; diese benutzte das Jiddische nur als Medium, um die Menschen zu erreichen, womit sie unbeabsichtigt zur Verbreitung des Jiddischen einiges beitrug.

Die Pogrome von 1881 ließen ihre Assimilationsbemühungen als sinnlos erscheinen. Kafka schätzte aber, dass von ihr die Arbeit mit den Händen anerkannt wurde.

In seinem Tagebuch notierte sich Kafka die Klagen Gordins, dass sich begabte Autoren für das Theaterschreiben nicht hergäben.

Das offensichtlich entschiedene Eintreten Kafkas für das Jiddische bewies, so könnte man sagen, sein unabhängiges Urteilsvermögen. Schließlich verachteten seit Moses Mendelsohn die angepassten Juden diese Sprache, nicht weniger taten das die Zionisten. Der bedeutende Zionist Herzl trat für einen Mehrsprachenstaat mit Deutsch als bevorzugter Sprache ein, andere Zionisten hingegen für Hebräisch, da die Diaspora dem Jiddischen zu sehr anhaften würde.

Fast mit wissenschaftlichem Eifer ging Kafka daran, das Judentum und die für ihn eher neue Gedankenwelt zu erobern.

Intensiv befasste er sich mit dem Chassidismus, dem Löwy als abtrünnig galt, denn er brach die Strenge der Riten.

Nun, Kafka hing als intellektuelle Persönlichkeit durchaus einem dunklen Skeptizismus an. Man könnte ihn aber nun einmal auch als einen positiv denkenden, sportlichen (er ruderte, mochte das Schwimmen, ging leidenschaftlich gern spazieren, liebte die Gartenarbeit, aß vegetarisch) Mann sehen – als einen Menschen, der dem Leben zugewandt war. Das vermittelt uns Max Brods Kafka-Biographie, noch mehr sein Roman „Zauberreich der Liebe“, in dem Kafka als eine Figur wieder aufersteht (Brod verfasste diesen Roman in Reaktion auf Kafkas frühen, sehr schmerzlichen Tuberkulose-Tod. Es war Brod nur auf diese Weise möglich, Kafkas Tod künstlerisch und angesichts einer Busenfreundschaft, nämlich durch kreative Erinnerungsarbeit zu bewältigen).

Kafka erfreut sich in Brods Roman einer lichten, sonnigen Beschreibung, die viele ergiebige Einzelheiten über seine Tagesmühen enthält.

Brod durfte natürlich auf seine reale, zu diesem Zeitpunkt schon historisch zu nennende persönliche Freundschaftsbeziehung verweisen, auf eine große Palette verschiedenster Erfahrungen aus dem Umgang mit Franz Kafka. Das tat er insbesondere dann, wenn er sich gegen gewisse Unterstellungen anderer Personen, die Kafka gewiss viel weniger kannten und die Kafka bloß als einen weltfremden Schwächling darstellen wollten, zur Wehr setzen musste.

Manche Kritiker wollen ihn gar als einen Dekadenten abtun, eventuell als einen ganz und gar Verzweifelten, kurz: einen Menschen hinstellen, der nicht ernst genommen werden muss. Das sei, so Max Brod, ein zu nahe liegender Schluss.

Dieser wird allzu leicht nach einem ziemlich oberflächlichen, mit Vorurteilen überlagerten Konsum von Kafkas Literatur gezogen.

Max Brod muss zumindest als zuverlässiger Berichterstatter des persönlichen Lebensstils, der Gewohnheiten, Ansichten etc. Kafkas betrachtet werden, denn beide, das will doch viel heißen (und ist sehr praktisch gedacht), verbrachten viel Zeit zusammen.

Sie trafen sich in ihren ersten Berufsjahren täglich nach der Arbeit gegen 14 Uhr, legten den Nachhauseweg gemeinsam zurück, sahen sich häufig abends, durchaus auch in der Freizeit am Wochenende. Dann machten sie zusammen mit anderen Freunden Ausflüge, u. a. in die Prager Umgebung.

Brod ist aber eben auch der Berichterstatter, besser gesagt: der Überlieferer nicht nur der Eigenschaften des Menschen Kafka und der Arbeitsweise, die seine Dichtung betraf, sondern auch des Prager Kreises jüdisch-deutscher Intellektueller.

Er meinte auch, dass Kafka einfache und ehrliche Gefühle hatte, wenngleich sein Intellekt von komplizierter Bauart gewesen sei. Der schöpferische Kafka sei also vom durchaus liebenswerten Kafka zu trennen. Wie hätte es sonst sein können, dass derartig labyrinthische Gedankengänge, wie sie sein Werk aufweist, entstehen konnten!? Hatte er einerseits „einen unzerbrechlichen Glauben an den allgemeinmenschlichen Frieden und an den Fortschritt des Menschengeschlechts“ (5), habe, so Brod, er andererseits schon die Schatten der Zukunft erahnt, also: „In seiner zarten Seele fühlte er den Terror der Nazibestien voraus“ (6)

Nun mag diese fast ausnahmslos im Licht rückblickender Freundschaftsgefühle vorgebrachte Flut an überschwänglichen, wohl wahrheitsgemäßen, in Einzelheiten sich flüchtende Schilderungen, ihre Wichtigkeit für die Analyse Kafkas und seines Werkes haben (sowie für die Beziehung zum Judentum seiner Zeit). Es bleibt die Notwendigkeit bestehen, Klarheit zu suchen.

In Kafka war anscheinend keine Charakterlinie so stark ausgeprägt, dass eine Klarheit leicht zu finden, alsdann auch leicht zu vermitteln wäre.

Als Sohn Prags habe Kafka, so Brod, seine Wurzeln ebenso in der jüdischen deutschen Kultur wie in der tschechischen gehabt. Er sprach ja auch die tschechische Sprache fließend, die er in frühester Jugend von seinem Kindermädchen gelernt hatte. Das war die Sprache, die er späterhin in häuslicher Umgebung, aber insbesondere im Geschäft seines Vaters praktizierte, in welchem vorwiegend Tschechen beschäftigt waren.

Und nun muss noch eine der Tagebucheintragungen Kafkas (Januar 1912) Erwähnung finden, in der die Judentumlektüre und das Engagement für die Schauspieltruppe Löwys offenbar gemacht werden. Das Kafkasche Glaubensbedürfnis spielt hier eine große Rolle. Kafka benennt Judentumlektüre und das Engagement als Gründe für die Unterbrechung seiner Tagebucheintragungen. Ein Hinweis auf den Zionismus kommt in dieser Eintragung vor. (7)

[...]

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Details

Titel
Kafka - das Judentum, der Zionismus
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Integrierter Studiengang Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Humanismus und Zionismus - Identität und gesellschaftliches Handeln bei M. Brod und F. Kafka
Note
1,0
Autor
Jahr
1989
Seiten
61
Katalognummer
V114064
ISBN (eBook)
9783640150533
ISBN (Buch)
9783640150595
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Judentum, Zionismus, Humanismus, Zionismus, Identität, Handeln, Brod, Kafka
Arbeit zitieren
Diplom-Sozialwissenschaftler Kay Ganahl (Autor:in), 1989, Kafka - das Judentum, der Zionismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114064

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Titel: Kafka - das Judentum, der Zionismus



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