Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Situation der Jugend während des Zweiten Weltkriegs
3. Situation der Jugend in der Nachkriegszeit
4. Antwort der Kinder- und Jugendhilfe auf die Bedingungen in der Nachkriegszeit
5. Analyse
6. Fazit
1. Einleitung
Die vorliegende Studienarbeit widmet sich dem institutionellen Wandel der Jugendsozialarbeit in Deutschland, deren Wurzeln vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegen. In diesem Rahmen wird der Umbruch in der Arbeit und dem Umgang mit Jugendlichen, beginnend in der Zeit des Nationalsozialismus und der Teilnahmepflicht in der Hitler-Jugend (HJ) bis hin zu den Anfängen der bedürfnisorientierten Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Nachkriegszeit, verdeutlicht.
Anhand dieser Studienarbeit soll die Frage beantwortet werden, ob die bedürfnisgerechte Offene Kinder- und Jugendarbeit, am Beispiel von Heimen der Offenen Tür (HOT), den Bedürfnissen von Jugendlichen entsprach, die in Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden. Zur Beantwortung dieser Forschungsfrage wird zunächst die Situation der Jugend während des Zweiten Weltkriegs (Kapitel 2) erläutert, bevor in der Folge die Situation der Jugend in der Nachkriegszeit (Kapitel 3) geschildert wird. Kapitel 4 stellt die Anfänge der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und ein ausgewähltes Angebot für Jugendliche vor, sodass in Kapitel 5 eine Analyse vollzogen werden kann, welche die Grundlage liefern wird, um im Fazit (Kapitel 6) die Forschungsfrage zu beantworten.
2. Situation der Jugend während des Zweiten Weltkriegs
Das Leben der Menschen während des Zweiten Weltkrieges wurde geprägt von Zerstörungen durch Bombenangriffe, Hungerleiden sowie Ängsten, die durch Fliegeralarme, Ausgangssperren, Aufenthalten in Luftschutzkellern, dem Leben als Soldat, der Flucht aus dem eigenen Wohnhaus und dem Tod ausgelöst wurden (vgl. Zinnecker 1987, S. 58).
Kinder und Jugendliche wechselten aufgrund von Evakuierungen, Bombenangriffen oder Kriegsflucht teils mehrmals den Wohnort. Viele Familien wurden zu ihrer Sicherheit auf dem Land untergebracht. Die Familienväter hingegen waren entweder im Krieg oder wurden freigestellt und mussten andere Dienste, meist fernab der eigenen Familie und in städtischen Regionen leisten. Familien mussten daher in mehr als der Hälfte der Fälle bei der Versorgung und Erziehung der Kinder ohne ihre Familienväter zurecht kommen (vgl. Preuss-Lausitz et. al. 1991, S. 30 f.).
Bedingt der Nöte von Jugendlichen wird die Jugendgeneration des Kriegs häufig mit Jugend ohne Jugend oder Not der Jugend etikettiert. Jugendliche mussten häufig tragende Rollen in Familien übernehmen und zur Überlebenssicherung beitragen. Nicht selten ersetzten die ältesten Geschwister ein oder sogar zwei Elternteile. Andere Jugendliche, die ihre gesamte Familie verloren, lebten nicht selten in Lagern, Jugenddörfern, Lehrlingsheimen oder irrten durch Deutschland auf der Suche nach Arbeit und Bleibe. Zum Ende des Kriegs, wurden sogar männliche Jugendliche der Jahrgänge 1926 bis 1928 als Kindersoldaten im Zuge des Volkssturms im Jahr 1943 eingesetzt (vgl. Zinnecker 1987, S. 39 f.).
Die bereits im Juli 1926 als nationalistische Jugendbewegung gegründete HJ blieb vorerst weitgehend unbedeutend. 1933 wurden sämtliche Jugendverbände verboten und die HJ wurde von einer Parteijugend zur Staatsjugend. Doch erst durch das Gesetz über die Hitler-Jugend im Jahr 1936 und die Einführung der Jugenddienstpflicht im Jahr 1939, als die Mitgliedschaft in der HJ verpflichtend wurde, stieg die Mitgliederzahl erheblich auf 8,7 Millionen. Im Jahr 1932 lag die Zahl noch bei 100.00 Mitgliedern. Kinder und Jugendliche traten in der HJ uniformiert und militärisch organisiert auf. Die Mitglieder wurden nach Alter und Geschlecht aufgegliedert, 10- bis 14-jährige Jungen waren Teil des Jungvolks, 10- bis 14-jährige Mädchen hingegen gehörten dem Jungmädelbund an. In gleicher Weise wurden die 14- bis 18-jährigen Jugendlichen in die HJ und den Bund Deutscher Mädel (BDM) gegliedert. Freiwillige junge Frauen im Alter von 17 bis 21 konnten vom BDM-Werk Glaube und Schönheit auf die Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Neben feierlichen Aufzügen, Propagandamärschen und Geländespielen war der Heimabend ein wesentlicher Bestandteil des HJ-Diensts. HJ- Truppen trafen sich dazu jedes Wochenende in örtlichen Heimen, um Aktivitäten vorzubereiten und speziell für die Jugend produzierte propagandistische Radiosendungen zu hören (vgl. Struck 2014, o.S.)
Robert Ley, einer der führenden Politiker zur Zeit des Nationalsozialismus, erläuterte die staatliche Erziehung im Jahr 1933, wie folgt: „Unser Staat [ist] ein Erziehungsstaat ein Pädagoge, ein väterlicher Freund. Er lässt den Menschen nicht mehr los von der Wiege bis zum Grabe [...] Und so fangen wir schon beim Kinde von drei Jahren an; sobald es anfängt zu denken, bekommt es schon ein Fähnchen zu tragen. Alsdann folgt die Schule, die Hitlerjugend, die SA, der Wehrdienst. Wir lassen den Menschen nicht mehr los, und wenn das alles vorbei ist, kommt die Arbeitsfront und nimmt die Menschen immer wieder auf und lässt sie nicht los bis zum Grabe, mögen sie sich auch dagegen verwahren.“ (Ley 1933 zit. n. Bencke 2013, S. 109).
Die nationalsozialistische Herrschaft übte ein Konzept mit dem Namen Faschistische Pädagogik aus, welches unter anderem ein wesentlicher Bestandteil in der Arbeit von Schulen, der HJ, dem BDM, der Jungmädel und dem deutschen Jungvolk war. Dieses Konzept, welches mit der Erläuterung Leys aus dem Jahr 1933 einhergeht, sollte zur Herrschaftssicherung beitragen und der Herstellung einer Ideologie dienen, indem es die Erziehung der Jugend als politisches Mittel instrumentalisierte. Dieses Erziehungsprojekt zielte auf eine totale Volkserziehung und strebte an, dass die jungen Menschen das deutsche Volk als ihren Grund zum Leben betrachteten. Der Lehrer, Schriftsteller und Professor Ernst Krieck war der wohl exponierteste nationalsozialistische Erziehungswissenschaftler. Er beschrieb in einer seiner Veröffentlichungen im Jahr 1936 die Ziele des Projekts, wie folgt: „Volk als Ganzheit überpersönlichen Lebens, Volk als Lebensgrund, als Lebens- und Schicksalsraum, daraus alles persönliche Leben der Volksgenossen herauswächst, darin sich alles persönliche Werden vollzieht und erfüllt, indem es seinen Beitrag liefert zur Erfüllung der geschichtlichen Sendung und der schicksalhaften Bestimmung des Volksganzen in seinem Werdegang (Krieck 1936 zit. n. Hafeneger 1988, S. 166).
Mittels der Autorität von Adolf Hitler in der Führerposition entstand bei der neuen Erziehung eine Bindung unter den Jugendlichen sowie eine feste Ordnung und eine gemeinsame Ausrichtung. In der HJ und den der HJ zugehörigen Jugendbünden, wurde die politische Haltung, die Wehrhaftigkeit und das rassische Wertesystem verfestigt und für die Bildung der Wehrmacht ausgewertet. Die Jugendbünde dienten dem Wehrverband somit als Vorbereitung und Auslese, um willensstarke Soldaten mit Dienst- und Treuepflicht für Hitler und dem deutschen Volk gegenüber auszubilden (vgl. ebd., 1988, S. 169). Daher legte Hitler neben der Vermittlung der NS-Ideologie und ihrem dazugehörigen Wertesystem von Gefolgschaftstreue, Kameradschaft, Pflichterfüllung und Willensstärke bei der völkischen Erziehung großen Wert auf körperliche Leistungsfähigkeit und die paramilitärische Ausbildung ( vgl. Struck 2014, o.S.).
Die Erziehungspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus kann in drei Phasen unterteilt werden. Die erste Phase, von 1933 bis 1936, ist geprägt durch die Machtergreifung und Machtsicherung. Die zweite Phase begann 1936 und endete im Herbst 1940, sie war geprägt von Machtdarstellung und Vorbereitung auf Krieg. Die Machtausweitung und der innere Zerfall von 1941 bis 1945 stellen in diesem Zusammenhang die dritte Phase dar (vgl. Benecke 2013, S. 26).
Zum Aufbau seiner Monopolstellung installierte Adolf Hitler 1933 die Dienststelle des Jugendführers des Deutschen Reiches, welche von Baldur von Schirach bekleidet wurde. Dieser stand fortan an der Spitze jeglicher Jugendverbände sowie Studentenschaften und die Gründung von Jugendorganisationen bedurfte fortan seiner Genehmigung (vgl. ebd., 2013, S. 100).
Als eine seiner ersten Amtshandlungen, verbot Schirach den Großdeutschen Bund, welcher erst kurz zuvor gegründet wurde mit der Begründung, dass sich „[...] Menschen und Jugendführer, die sich nationalistisch nennen, auch bedingungslos der Führung der HJ unterordnen [müssen].“ (zit. aus Bencke 2013, S. 101). Folglich wurden die 50.000 Mitglieder des Großdeutschen Bundes in die HJ zwangseingegliedert. Der Großdeutsche Bund bekannte sich zwar teilweise zum Nationalsozialismus, jedoch war die Schaffung eines Gegengewichts zur nationalistischen HJ, das Hauptanliegen zur Gründung, was zum Verhängnis des Bundes wurde (vgl. museenkoeln o.J., o.S.).
In der ersten Rede Schirachs als Jugendführer des Deutschen Reiches betonte er, dass fortan nur Jugendvereine und -verbände bestehen bleiben könnten, die nicht in die Befugnisse der HJ übergreifen würden. Allen Organisationen, die versuchen würden Aufgabengebiete der HJ zu erfassen oder der revolutionären Absicht der HJ entgegen zu wirken, kündigte er an, sich zur Wehr setzen zu wollen (vgl. Bencke 2013, S. 101 f.).
Im Januar 1937 wurden die Adolf-Hitler-Schulen gegründet, welche eine Art Leistungszentrum für Jungen waren, die sich zuvor mit hervorragenden Leistungen empfohlen haben. Der Werdegang an einer Adolf-Hitler-Schule sollte aufstrebende Jungs für die Laufbahn in der NSDAP oder den Staatsdienst vorbereiten (vgl. ebd., 2013, S. 185).
3. Situation der Jugend in der Nachkriegszeit
Die Jugend-Not-Kultur charakterisiert die Notlagen und generationsspezifischen Überlebensstrategien der Jugendlichen von 1945 bis 1950. Viele junge Menschen wuchsen als Folge des Zweiten Weltkriegs in vaterlosen Familien auf und mussten in der Zeit des Wiederaufbaus tragende Rollen bei der Überlebenssicherung der Familien einnehmen (vgl. Zinnecker 1987, S. 40 f.). Ein anderer erheblicher Teil der jungen Menschen erlebte das Kriegsende als Vollwaise, wodurch dieser folglich in unzureichenden Wohnverhältnissen, in Heimen oder auf der Straße lebte, da tausende Einrichtungen der Jugendfürsorge zerstört wurden. Darüberhinaus war circa ein Drittel der Jugendlichen arbeitslos, was zur Wohnungslosigkeit führte (vgl. Jordan & Sengling 1992, S. 59f.). Als Folge nahm unter anderem die Jugendkriminalität zu. So gehörte nur circa jeder neunte Bürger der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zur Altersgruppe der Jugendlichen, jedoch wurde jede fünfte verurteilte Straftat von einem Halbwüchsigen begangen und etwa jeder 68. erhielt eine Gerichtsstrafe (Kaufmann 1966, S. 203).
Die familiären Verhältnisse und Konstellationen waren in der Nachkriegszeit in einem Wandel. Junge Mütter übten zunehmend Berufe aus und hatten folglich weniger Zeit für ihre Kinder, moderne Ehepaare heirateten jünger und dies nicht mehr lediglich wegen des Kinderwunsches und die Anzahl der Kinder pro Familie sank ebenfalls stark. Auch die gesellschaftlichen Ansichten bezüglich Kindern und kinderreicher Familien veränderte sich ins negative, vor allem aufgrund der herrschenden Nahrungs- sowie Wohnraumnot und der unter anderem daraus resultierenden Jugendkriminalität (vgl. Kaufmann 1966, S. 57 ff.).
Teilweise lernten Heranwachsende ihre Väter erst nach vielen Jahren kennen, da diese im Krieg oder in Gefangenschaft waren, andernfalls ihre Dienststelle in einer Stadt hatten und die Familie auf dem Land untergebracht war. Die zunächst vaterlos aufgewachsenen Kinder, die ihre ersten Lebensjahre von der Mutter, ihren älteren Geschwistern, Verwandten oder Bekannten großgezogen wurden, mussten in der Folge akzeptieren, dass fortan ein für sie Fremder bei der Familie lebt und dieser ihr Vater ist. Es ist nur zu erahnen, wie belastend diese Situation für alle Beteiligten gewesen sein muss. Sicher ist jedoch, dass dies schädlich für die Entwicklung der Kinder gewesen sein muss (vgl. Preuss-Lausitz et. al. 1991, S. 31)
Die Tage von Eltern und Kinder verliefen meist getrennt voneinander. Erwachsene und auch Kinder waren mit der Nahrungsbeschaffung und dem Wiederaufbau beschäftigt. Viele Kinder mussten bei unterschiedlichen handwerklichen Tätigkeiten oder den örtlichen Bauern auf den Feldern helfen. Sie verbrachten nur selten gemeinsame Freizeit mit den eigenen Eltern. Für das gemeinsame Spielen oder Urlaube fehlte sowohl das Geld, als auch die Zeit. Kinder waren zwar durch ihre Arbeit und die räumliche Nähe am Leben der Erwachsenen beteiligt, jedoch verhielten sich die Erwachsenen den Jüngeren gegenüber häufig nicht altersentsprechend. Neben der Kinderarbeit gehörte auch die Prügelstrafe, wie beispielsweise Ohrfeigen oder Schläge mit dem Teppichklopfer als Mittel zur Erziehung, zum Normalzustand (vgl. ebd., S. 34 f.).
Des Weiteren waren die Eltern in der Nachkriegszeit sehr verunsichert, was sie ihren Kindern beibringen sollten. Alles woran sie sich die deutsche Bevölkerung bis ins Jahr 1945 orientiert hatte, wie beispielsweise der Krieg, die arische Rasse, der deutsche Gruß oder die Hakenkreuzfahne, war fortan verloren, verpönt oder verboten. Erwachsene scheiterten daran, den Kindern zu erklären, weshalb zuvor gängige Abläufe, wie etwa die Begrüßung mit gereckter Hand und Heil Hitler, nun zu unterlassen seien. Diese Unsicherheit führte ferner dazu, dass Ge- und Verbote für Kinder aufgestellt wurden und zunehmend auf Erklärungen verzichtet wurde (vgl. ebd., S. 36 f.).
Aufgrund der akuten Wohnraumnot lebten Familien teilweise mit weiteren Personen, die Unterschlupf benötigten, in ein bis zwei Räumen. Ein eigenes Zimmer hatte kein Jugendlicher, viele teilten sich auch Betten. Daher war es in der Regel unerwünscht, dass Freunde mit nach Hause gebracht wurden, sodass sich junge Menschen fast nur im Freien trafen, wo sich abenteuerliche Möglichkeiten boten. Das Spielen in den Trümmern von zerbombten Häusern sowie die Kontaktaufnahme mit den jeweiligen Besatzungstruppen, wurde zwar von den Eltern strengstens untersagt, jedoch wurde dies täglich von den Halbwüchsigen praktiziert. Überall dort, wo Kinder und Jugendliche lebten, bildeten sich sogenannte Banden, bei denen sich meist die Ältesten zu den Anführern durchsetzten und die Kleinen wurden lediglich geduldet. Banden formierten sich aus den Nachkommen eines Hauses, einer Straße oder einer ganzen Nachbarschaft und die weitere Umgebung der Nachbarschaft war für sie feindliches Gebiet, wo andere Banden an der Macht waren. Gelegentlich begangen die Banden Diebstähle, wenn sie Rüben und Kartoffeln von Feldern oder Obst, Gemüse, Flaschen und Kohlen in der Nachbarschaft stahlen. Sowohl die Diebstähle, als auch das Spielen in den Trümmern und der Kontakt mit den Soldaten der Besatzungstruppen geschah jenseits der elterlichen Kontrolle. Jugendliche versuchten den Informationsaustausch bezüglich ihres Tagesablaufs daher größtenteils geheim zu halten, sodass ihre Eltern die Verstöße gegen ihre Gebote nicht mitbekamen (vgl. ebd., S. 33 ff.).
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