Möglichkeiten einer Förderung und Früherkennung der Legasthenie im Kindesalter


Magisterarbeit, 2007

123 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Was heißt Legasthenie?
1.2. Historischer Rückblick

2. Ursachen der Legasthenie
2.1. Genetische Erklärungsansätze
2.2. Neurobiologische Erklärungsansätze
2.3. Weitere Erklärungsansätze

3. Symptome der Legasthenie und ihre Auswirkungen
3.1. Die Primärsymptomatik
3.2. Auswirkungen der Legasthenie auf die psycho-soziale Lage
3.2.1. Primäre und sekundäre Komorbidität
3.2.2. Prognose für die schulische, berufliche und soziale Entwicklung
3.2.3. Spätlegasthenie und funktionaler Analphabetismus

4. Förderund Differentialdiagnostik
4.1. Die Relevanz der Anamnese
4.2. Testdiagnostische Verfahren
4.2.1. Basisdiagnostik
4.2.1.1. Verfahren zur Diagnostik der Rechtschreibstörung
4.2.1.2. Verfahren zur Diagnostik der Lesestörung
4.2.2. Zusatzdiagnostik
4.2.2.1. Intelligenztests
4.2.2.2. Untersuchung der Sprachentwicklung
4.2.2.3. Untersuchung der motorischen Entwicklung
4.2.2.4. Verfahren zur Überprüfung der Aufmerksamkeit
4.2.2.5. Verfahren zur Erfassung von emotionalen und Verhaltensproblemen
4.3. Integration aller Ergebnisse

5. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Förderung
5.1. Schulische Förderung
5.1.1. Die Erlasse und Richtlinien der Bundesländer
5.1.2. Organisation und Gestaltung des Förderunterrichts
5.1.3. Selbsthilfe durch die Eltern
5.1.4. Die Hausaufgabensituation
5.2. Außerschulische Förderung
5.2.1. Woran erkennt man eine gute Therapie?
5.2.2. Beispiele für Förderprogramme
5.2.2.1. Der Kieler Leseund Rechtschreibaufbau nach Dummer-Smoch und Hackethal (2002, 2001)
5.2.2.2. Die Lautgetreue Rechtschreibförderung nach Reuter-Liehr (1992)
5.2.2.3. Das Marburger Rechtschreibtraining nach Schulte-Körne und Mathwig (2001)
5.2.3. Computerprogramme
5.3. Sozialrechtliche Hilfen

6. Legasthenie, Gesellschaft und Schule – Prävention der Legasthenie
6.1. Früherkennung von Risikokindern
6.2. Frühförderung als Prävention
6.3. Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Hab` ein altes Heft gefunden Mit krak`liger Kinderschrift. Abgewetzt, vergilbt, geschunden – Und ein böser, roter Stift

Metzelt in den Höhenflügen Meiner armen Niederschrift Mit sadistischem Vergnügen

Und verspritzt sein Schlangengift. Und ich spüre, jeder rote

Strich am Rand trifft wie ein Pfeil. Die Zensur ist keine Note,

Die Zensur ist wie ein Beil. Ich spür`s, als ob`s heute wäre Und ich blick` zurück im Zorn, Sträfling auf einer Galeere

Und der Einpeitscher steht vorn.“

(aus: Der unendliche Tango der deutschen Rechtschreibung von Reinhard Mey)

- John F. Kennedy (1917-1963) – 35. Präsident der Vereinigten Staaten,
- Winston Churchill (1874-1965) – ehem. Premierminister von Großbritannien und Nobelpreisträger,
- Albert Einstein (1879-1955) – Physiker und Nobelpreisträger,
- Charles Darwin (1809-1882) – britischer Naturwissenschaftler,
- Leonardo da Vinci (1452-1519) – Maler, Bildhauer, Architekt,
- Walt Disney (1901-1966) – amerikanischer Filmproduzent,
- Jackie Stewart (geb. 1939) – ehem. britischer Rennfahrer,
- Cher (geb. 1946) – amerikanische Sängerin und Schauspielerin,
- Tom Cruise (geb. 1962) – amerikanischer Schauspieler und Filmproduzent,
- Reinhard Mey (geb. 1942) – deutscher Liedermacher,

Alle diese berühmten Persönlichkeiten haben eines gemeinsam: Sie waren oder sind Legastheniker und hatten Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens

Immer mehr hört man heutzutage: Mein Kind hat Legasthenie! Was aber heißt das genau? Legasthenie ist keine Modeerscheinung, sondern eine medizinisch nachweisbare Teilleistungsstörung im Bereich der Sprachverarbeitung, die auch negative Auswirkungen auf das Leben des Kindes haben kann. Wie sehr einige Kinder unter der Störung leiden, zeigt die obige Strophe aus dem Lied „Der unendliche Tango der deutschen Rechtschreibung“ von Reinhard Mey, der in diesem Lied beschreibt, wie er sich damals als Kind gefühlt hat (vgl. http://www.reinhard-mey.de)

Oft besitzen die Lehrer nicht die nötigen Qualifikationen, erkennen die Legasthenie zu spät oder gar nicht und stempeln die betroffenen Kinder als dumm oder faul ab, was zu schweren psychischen Schäden führen kann. Wichtig ist deshalb eine frühe Diagnose und Förderung, denn legasthene Kinder sind nicht dumm oder faul, im Gegenteil, oft sind sie sogar hochintelligent und auf ganz unterschiedlichen Gebieten sehr begabt. Haben sie ihre Ausbildung erfolgreich absolviert, findet man unter ihnen nicht selten Rechtsanwälte, Ärzte oder Ingenieure. Wie man auch bei den aufgezählten berühmten Persönlichkeiten sieht, liegen ihre Begabungen oft im sportlichen, kreativen oder technischen Bereich

Wie eine frühe Diagnostik und Förderung aussehen kann, soll im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden. Ehe im vierten Kapitel die diagnostische Vorgehensweise und im fünften Kapitel die unterschiedlichen Fördermöglichkeiten ausführlich dargestellt werden, wird im ersten Kapitel erläutert, was man genau unter Legasthenie versteht und seit wann man sich mit diesem Phänomen beschäftigt. Das zweite Kapitel befasst sich dann mit den unterschiedlichen Erklärungsansätzen zum Entstehen einer Legasthenie und im dritten Kapitel wird dargelegt, woran man erkennt, ob ein Kind eventuell Legasthenie hat und welche Auswirkungen die Diagnose auf das gesamte spätere Leben haben kann. Das letzte Kapitel zeigt dann, dass es Möglichkeiten gibt, Risikokinder frühzeitig zu erkennen, und dass Fördermaßnahmen bereits im Vorschulalter erfolgreich angewendet werden können

1.1. Was heißt Legasthenie?

In der Literatur findet man für den Begriff Legasthenie1 viele verschiedene Ausdrücke, wie z.B. Lese-Rechtschreibstörung, Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und Dyslexie2 (internationaler Begriff). Unter Legasthenie versteht man eine massive und langandauernde Störung des Schriftspracherwerbs. Allerdings sollte man zwischen einer Legasthenie und einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) unterscheiden, da eine LRS durch bestimmte Ereignisse, wie häufiger Lehreroder Schulwechsel, krankheitsbedingte Abwesenheit oder Familienkrisen, hervorgerufen werden kann und zumeist vorübergehend ist, während eine Legasthenie bereits in der frühen Kindheit entsteht bzw. schon als Anlage mitgebracht wird und über Jahre hinweg existiert (vgl. KLASEN, 1995, S. 15)

In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) zählt die Legasthenie zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen (F8), d.h. dass nur eine Fertigkeit – hier der Schriftspracherwerb – gestört und die allgemeine Entwicklung unauffällig ist. Die Voraussetzungen umschriebener Entwicklungsstörungen sind, dass

- sie im Kleinkindalter oder in der Kindheit beginnen,
- eine Einschränkung oder Verzögerung in der Entwicklung von Funktionen vorliegt, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verbunden ist und
- ein stetiger Verlauf auftritt (vgl. DILLING u.a., 1993, S. 262)

Laut ICD-10 werden die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten unterschieden in

- die Leseund Rechtschreibstörung (F81.0), bei der das Lesen und Rechtschreiben deutlich hinter der zu erwartenden Leistung zurückbleibt und
- die isolierte Rechtschreibstörung (F81.1), bei der nur der Rechtschreib-, aber nicht der Leseprozess gestört ist

Die Leseund Rechtschreibstörung (Legasthenie) wird hierbei definiert als „eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch Visus-Probleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und die Leistungen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, können sämtlich betroffen sein. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht wurden. [] Zusätzlich zum schulischen Mißerfolg sind mangelhafte Teilnahme am Unterricht und soziale Anpassungsprobleme häufige Komplikationen, besonders in den späteren Hauptschulund den Sekundärschuljahren.“ (DILLING u.a., 1993, S. 274)

Hauptmerkmal der isolierten Rechtschreibstörung ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten, ohne Auftreten einer umschriebenen Lesestörung (vgl. a.a.O., S. 276)

Auffallend ist, dass Jungen häufiger von einer Legasthenie betroffen sind als Mädchen (vgl. WARNKE u.a., 2002, S. 14)

Über die Verbreitung existieren viele unterschiedliche Meinungen. GASTEIGER- KLICPERA/KLICPERA (2004) gehen davon aus, dass 2 bis 4 % der Schüler und 5 bis 10 % der Jugendlichen und Erwachsenen betroffen sind (vgl. S. 47); WARNKE u.a. (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von 4 bis 8 % aller Schüler (vgl. S. 9); KOPP-DULLER (2003) hingegen sagt, dass mindestens 10 % der Weltbevölkerung legasthen sind (vgl. S. 17). Hier kommt es natürlich darauf an, welche Kinder als legasthen bezeichnet und ob unterschiedliche Schweregrade unterschieden werden. KOPP-DULLER (2003) differenziert drei Schweregrade der Legasthenie: eine leichte, eine mittelschwere und eine schwere, wobei 78 % an einer leichten, 18 % an einer mittelschweren und nur 3 % an einer schweren Legasthenie leiden (vgl. S. 17)

Desweiteren wird eine verbale von einer literalen Legasthenie unterschieden. Die literale Legasthenie stellt hierbei die Schwerstform dar, bei der nicht einmal einzelne Buchstaben dauerhaft eingeprägt und unterschieden werden können. Mit dem Begriff der verbalen Legasthenie ist lediglich eine schwach ausgebildete Fähigkeit der akustischen Unterscheidung von Lauten gemeint (vgl. ebd.)

1.2. Historischer Rückblick

Die alphabetische Schrift wurde ca. 1800 v. Chr. erfunden. Ihr Anfang wird dabei in der semitischen, syrisch-palästinensischen Konsonantenschrift gesehen. Gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. fügten dann die Griechen den Konsonanten3 die Vokale4 hinzu. Die Anfangsbuchstaben Alpha und Beta gaben dabei unserem Alphabet den Namen. Das Besondere daran war, dass die Schriftzeichen begrenzt wurden. Zweck der Schriftsprachentwicklung war die Nutzung zur zwischenmenschlichen Verständigung. „Funktionell läßt sich die Entstehungsgeschichte der Schriftsprache begreifen als eine Vervollkommnung menschlicher Fähigkeit, sprachlich-akustische Informationen (gesprochene Worte) durch räumlich-seriell-visuelle Informationen zu verschlüsseln (Schrift) und umgekehrt visuell vorgegebene Buchstaben und Buchstabenfolgen (geschriebene Worte) einer akustisch sprachlichen Informationsverarbeitung zugänglich zu machen (Lesen). “ (WARNKE, 1990, S. 1)

Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren es vor allem Mediziner, die feststellten, dass bei Kindern der Schriftspracherwerb gestört sein kann. 1861 gelang es dem französischen Arzt Paul Broca, bei einem Patienten mit motorischer Sprachstörung das motorische Sprachzentrum bei Rechtshändern in der linken Hirnhälfte zu lokalisieren (heute: Broca-Sprachzentrum). Kussmaul, Neurologe und betroffener Vater, bezeichnete 1877 das Phänomen als „erworbene Wortblindheit“. Legte man Kindern und Erwachsenen Bilder vor, so konnten sie die Gegenstände eindeutig benennen. Bei Buchstaben und einfachen Wörtern hatten sie jedoch allergrößte Schwierigkeiten. 1885 bezeichnete der deutsche Arzt Berkhan schwere Grade des gestörten Schriftspracherwerbs als „Schreibstammeln“ und sprach sogar von partieller Idiotie. Er war es auch, der erste Forschungsergebnisse im deutschen Sprachraum veröffentlichte (vgl. a.a.O., S. 17)

Der englische Augenarzt Morgan sah als Ursache der Störung eine mangelhafte Entwicklung des Lesezentrums, das er im Gyrus angularis, einer Großhirnregion in der linken Hirnhälfte zwischen Schläfenund Scheitellappen lokalisierte. Nach Morgans Ansicht führte diese Fehlentwicklung zu Schwierigkeiten bei der Verarbeitung visueller Informationen. Er prägte dafür den Begriff der kongenitalen oder angeborenen Wortblindheit, um diese Problematik von der durch Hirnverletzung oder Erkrankung erworbenen Wortblindheit abzugrenzen (vgl. a.a.O., S. 18 f.)

Den Begriff der kongenitalen Wortblindheit findet man auch heute noch in der Medizin. Der Verdienst Morgans lag vor allem in der Tatsache begründet, dass dieser ein neues Krankheitsbild schuf und so zu einer weltweiten Erforschung Anstoß gab (vgl. SCHENK- DANZINGER, 1991, S. 19)

1916 führte der Budapester Neurologe Paul Ranschburg die Bezeichnung „Legasthenie“ für den Begriff der Leseschwäche ein. In seiner 1928 erschienenen Monographie „Die Leseund Schreibstörungen des Kindesalters“ definierte er Leseschwäche als „eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes“ (Ranschburg, 1928, S. 88, zit. nach WARNKE, 1990, S. 21). Ranschburg differenzierte als erster zwischen Leseschwachen und Leseunfähigen, wobei er Letztere für nicht therapierbar hielt. Diese Auffassung hatte zur Folge, dass lange Zeit legasthene Kinder an Hilfsschulen verwiesen wurden, auch wenn sie geistig völlig normal waren (vgl. SCHENK-DANZINGER, 1991, S. 20)

Die Isolierung Deutschlands zwischen 1930 und 1945 sorgte dafür, dass in Deutschland erst in den fünfziger Jahren eine breitere Diskussion über das Phänomen der Legasthenie begann. Einen großen Anteil daran hatte die Schweizer Psychologin Maria Linder. Ihr gelang es mit ihrer Diskrepanzdefinition, die Legastheniker aus ihrer Isolierung hervorzuholen. Sie untersuchte legasthene Kinder auf deren Intelligenz und definierte Legasthenie als eine „spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbständigen fehlerfreien Schreibens) bei sonst intakter oder – im Verhältnis zur Lesefähigkeit – relativ guter Intelligenz.“ (LINDER, 1975, S. 13)

Die folgenden fünfziger und sechziger Jahre bezeichnet man auch als die empirisch-kasuistische Phase. In dieser Zeit wurden die unterschiedlichsten Forschungsergebnisse über das Phänomen der Legasthenie publiziert. Linders großer Verdienst und die zahlreichen veröffentlichten Fallstudien führten dazu, dass in den sechziger Jahren viele Bundesländer kultusministerielle Richtlinien herausbrachten, die zur Einrichtung von Legasthenikerkursen, -klassen und –schulen führten. Außerdem gab es besondere Maßnahmen bei der Benotung in Deutsch, bei Versetzungen, Befreiung von Klassenarbeiten und viele Arbeitsmaterialien zur Unterstützung im Unterricht. Dieser sog. Legasthenieboom führte dann in den siebziger Jahren zu einer regelrechten Anti-Legasthenie-Bewegung (vgl. KLASEN, 1995, S. 19; SCHENK- DANZINGER, 1991, S. 22)

Hauptvertreter der Anti-Legasthenie-Bewegung waren Sirch (1975) und Schlee (1974), die die Legasthenie als Unfug und wissenschaftlich nicht haltbar bezeichneten. Ihre Argumente waren:

- die Auswahl der als Legastheniker bezeichneten Kinder sei willkürlich,
- die Diskrepanztheorie sei wissenschaftlich nicht fundiert, da es zwischen Intelligenz und Leistung immer eine Diskrepanz gäbe und
- Lernbedingungen seien Schuld an den gestörten Lese-Rechtschreibleistungen (vgl. PREGL, 2000, S. 17)

SIRCH (1975) stellte die These auf, dass Legasthenie „ein teilweises oder völliges Mißlingen des Lesenund/oder Rechtschreibenlernens aufgrund mangelhafter Motivation oder fehlender didaktischer Grundlegung der Methoden“ (S. 12) sei. Schlee (1974) ging sogar soweit zu behaupten, „Legasthenie ist eine überflüssige Leerformel. [] Das Legastheniekonzept ist nicht nur überflüssig, sondern auch pädagogisch gefährlich, da es den Schülern, die an den Unzulänglichkeiten und Widersprüchen der schulischen Lehrund Lernverhältnisse scheitern, eine krankheitsähnliche Lernstörung zuschreibt. Es ist daher ersatzlos zu streichen. Konsequenterweise ist auch die Legasthenieforschung unverzüglich einzustellen.“ (S. 289, zit. nach SCHENK-DANZINGER, 1991, S. 27)

Dies alles hatte zur Folge, dass sich die Situation der Legastheniker in Deutschland erheblich verschlechterte. Vergünstigungen wurden gestrichen und Legasthenikerkurse gab es nur noch vom 4. Schuljahr an, wo die Störung nur noch mit viel Mühe therapiert werden kann (vgl. SCHENK-DANZINGER, 1991, S. 28). 1978 schaffte die Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen für die Länder den Begriff Legasthenie vollständig ab. Damit wurden alle Fördermöglichkeiten zunichte gemacht. Stattdessen sollten jetzt alle Schüler gefördert werden, die besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens haben. Diese Schwierigkeiten seien ein rein schulpädagogisches, vorübergehendes Problem, welches mit rein unterrichtlichen Maßnahmen behandelt werden kann (vgl. KLASEN, 1995, S. 72 f.)

1984 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie eine Denkschrift über die „Schulische und außerschulische Förderung von Legastheniekindern“, in der sie die Grundsätze der Kultusministerkonferenz bemängelt und dazu auffordert, die Diagnose Legasthenie wieder einzuführen. Bis heute aber gelten die Grundsätze unverändert (vgl. ebd.)

Da in Deutschland jedes Bundesland seine eigene Kulturhoheit mit unterschiedlichen rechtlichen Bestimmungen besitzt, können sich die Bundesländer an den Grundsätzen der Kultusministerkonferenz orientieren. Es gibt keine einheitliche Regelung, aber einige Länder, wie z.B. Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern, greifen auf das klassische Legastheniekonzept zurück (vgl. Kap. 5.1.1.; NAEGELE, 2001, S. 97)

2. Ursachen der Legasthenie

Seit der Erforschung der Legasthenie haben sich unterschiedliche Erklärungsansätze über die möglichen Ursachen ihrer Entstehung herausgebildet, nicht zuletzt vor allem durch die Entwicklung der neuen bildgebenden Verfahren zur Untersuchung von Hirnleistungen. Die Forschungsergebnisse bestätigen zunehmend, dass die Legasthenie eine heterogene Störung ist, für die es nicht nur eine Ursache gibt, sondern viele verschiedene

2.1. Genetische Erklärungsansätze

Für eine genetische Ursache sprechen Ergebnisse aus Familienstudien, Zwillingsstudien und molekulargenetischen5 Untersuchungen

a) Familienstudien

Familienstudien beruhen auf Stammbaumanalysen. Dabei finden sich familiäre Häufungen über mindestens drei Generationen hinweg. Man geht dabei von einem autosomal6 -dominanten Erbgang aus. Die Häufigkeit einer Legasthenie bei erstgradig Verwandten liegt dabei zwischen 30 und 60 % (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 29; WARNKE, 1996, S. 30; WARNKE u.a., 2004, S. 20)

Bereits KLASEN (1971) fand heraus, dass bei einem legasthenen Kind in fast 40 % der Fälle mindestens ein Familienmitglied unter Lese-Rechtschreibstörungen litt. „Alle Angaben wurden im Elterngespräch ermittelt, und es war oft interessant zu beobachten, wie erstaunt die Eltern selbst waren, wenn ihnen, durch unsere Fragen angeregt, gleich mehrere nähere Verwandte in den Sinn kamen.“ (S. 120)

b) Zwillingsstudien

Ziel von Zwillingsstudien ist es, den Anteil der genetischen und der nicht-genetischen Varianz7 eines Merkmals aufzuzeigen. Dabei werden einund zweieiige Zwillingspaare miteinander verglichen und überprüft, ob bei einem legasthenen Zwilling auch der zweite Zwilling eine Legasthenie hat, also ob eine Konkordanz (Übereinstimmung) diesbezüglich besteht. In früheren Untersuchungen fand sich bei eineiigen Zwillingen eine Konkordanzrate von bis zu 100 %, während sie bei zweieiigen Zwillingen nicht höher als 30 % lag. Neuere Untersuchungen gehen von einer Rate zwischen 50 und 60 % bei eineiigen Zwillingen aus (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 30 f.; WARNKE, 1996, S. 30; WARNKE u.a., 2004, S. 20 f.)

c) Molekulargenetische Untersuchungen

Durch Kopplungsuntersuchungen mittels molekulargenetischer Techniken versucht man, die für eine Legasthenie relevanten Genorte zu bestimmen und deren genetische Veränderungen zu erkennen. Es gibt nicht nur ein „Legasthenie-Gen“, sondern viele verschiedene Genorte. Bisher fand man solche Genorte auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18. Vor allem die Chromosomen 6 und 15 scheinen hierbei eine wichtige Rolle zu spielen. Bisherige Untersuchungen zeigten, dass das Chromosom 6 mit dem Merkmal „phonologische Bewusstheit“ gekoppelt, also für phonologische8Prozesse relevant ist, und dass das Chromosom 15 mit dem Merkmal „Wortlesen“ gekoppelt ist und somit für die nicht-phonologischen Anteile an der Lesefähigkeit bedeutsam erscheint (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 32 f.; WARNKE, 1996, S. 30 f.; WARNKE u.a., 2004, S. 21)

Im Jahr 2005 hat erstmals ein deutsch-schwedisches Team von Wissenschaftlern den Beitrag eines spezifischen Gens an der Legasthenie nachweisen können. Das Gen (kurz: DCDC2- Gen) befindet sich in der Region von Chromosom 6 und scheint bei der Wanderung von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn eine Rolle zu spielen und damit wichtig für die Verarbeitung von Sprachinformationen beim Prozess des Schreibens zu sein (vgl. DÜWERT, 2005)

Dies alles sind gewiss noch eher vorläufige Ergebnisse. Sicher ist, dass es ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Gene gibt, die zu einer Legasthenie führen können. Unklar ist allerdings noch die Art der genetischen Übertragung. Es wird deshalb noch viel Arbeit sein, die verantwortlichen Gene eindeutig zu identifizieren

Neben den genetischen Erklärungsansätzen konzentrieren sich die Forschungen zunehmend auf neuroanatomische9, histologische10, neurophysiologische11 und neuropsychologische12 Korrelate, die im nächsten Kapitel zusammengefasst unter den neurobiologischen13 Erklärungsansätzen dargestellt werden sollen

2.2. Neurobiologische Erklärungsansätze

Neurobiologische Befunde weisen auf Störungen der zentral-nervösen Informationsverarbeitung hin. Dies betrifft vor allem Hirnregionen, die mit der visuellen und sprachlichen Informationsverarbeitung verknüpft sind

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Modell zur Informationsverarbeitung beim Lesen und Rechtschreiben eines Wortes

(vgl. SILBERNAGL/LANG, 2005, S. 345)

In der Abbildung 1 ist die Area 39, der Gyrus angularis und Gyrus supramarginalis, das sog. Lese-Rechtschreibzentrum, dargestellt. Hier werden lautsprachlich über das Ohr und die Hörrinde wahrgenommene Informationen (I) mit visuellen über das Auge und die Sehrinde wahrgenommenen Informationen (II) miteinander verbunden. Danach werden unterschiedliche Hirnregionen (Broca-Region, Kleinhirn, Thalamus, Motocortex) eingeschaltet, die letztendlich zum gelesenen, gesprochenen oder geschriebenen Wort führen. Störungen können dabei auf jeder einzelnen Verarbeitungsstufe auftreten. Neurobiologische Befunde weisen vermehrt auf eine Dysfunktion der Area 39 hin (vgl. ebd.)

Wichtige Forschungsergebnisse sind dem amerikanischen Hirnforscher Galaburda und seinen Mitarbeitern zu verdanken. Er untersuchte die Gehirne verstorbener Legastheniker und kam zu folgenden Befunden:

- linkshemisphärisch14, im Bereich des Gyrus angularis und Gyrus supramarginalis, also der Area 39, dem Lese-Rechtschreibzentrum, fanden sich ungewöhnliche Zellgruppen, die normalerweise nicht in der Hirnrinde zu finden sind, abnorme Gefäßverläufe und eine ver- änderte Struktur der Hirnrinde;
- im Zentralnervensystem im lateralen15 Nucleus geniculatus, von dem aus das Netzhautbild
zur Sehrinde weitergeleitet wird, stieß er auf ungewöhnlich kleine und in der Größe variablere Zellen;
- im linken medialen16 Nucleus geniculatus, mit dem eine Umschaltung von Sprachlautrei-
zen in das Gehirn erfolgt, gab es eine Überzahl vieler kleinerer Neuronen und
- im Planum temporale, welches für die sprachliche Informationsverarbeitung wichtig ist, bestand eine unerwartete Häufung der Symmetrie dieses Hirnareals, welches normalerweise asymmetrisch ist (vgl. WARNKE, 1996, S. 31 ff.; WARNKE u.a., 2004, S. 12)

Durch bildgebende Verfahren, wie z.B. MRT (Magnetresonanztomographie), EEG (Elektroenzephalogramm) oder PET (Positronenemmissionstomographie), konnten diese Befunde teilweise bestätigt werden. Hiermit wurden bei der zentralnervösen Informationsverarbeitung schriftsprachlich relevanter Aufgaben die Stoffwechselsowie hirnelektrischen Vorgänge gemessen. Dabei stieß man bei Legasthenikern auf eine Verlangsamung der hirnelektrischen Leitung visueller Potenziale und auf Besonderheiten der Aktivierung im cortikalen visuellen System. Dennoch scheint die Beeinträchtigung sprachlicher Informationsverarbeitung eine größere Bedeutung für die Ursachenklärung zu haben als die Störungen im visuellen System. Vor allem die defizitäre Verarbeitung phonologischer Informationen spielt dabei eine große Rolle (vgl. WARNKE u.a., 2004, S. 13 f.). Hier fand man bei sprachlich-akustischen Aufgaben heraus, dass bei Legasthenikern die Informationsverarbeitung zwischen den sprachrelevanten Hirnarealen anders verläuft, z.B. ist die Aktivierung des Glucosestoffwechsels während dieser Aufgaben im Bereich des Occipitallappens nicht nur in der linken (wie bei normaler Informationsverarbeitung), sondern auch in der rechten Hemisphäre erhöht (vgl. WARNKE, 1996, S. 31 ff.)

Auffallend ist, dass die vorliegenden Befunde immer wieder auf den Gyrus angularis und den Gyrus supramarginalis der linken Hirnhälfte, also das Lese-Rechtschreibzentrum, verweisen, welches der Übersetzung der visuellen in sprachliche Informationen und umgekehrt dient

Und wie die Symptome zeigen, haben legasthene Kinder vor allem bei dieser Übersetzung Schwierigkeiten (vgl. Kap. 3)

Um die Informationsverarbeitung beim Schriftspracherwerb zu verstehen, gibt es verschiedene Stadienund Netzwerkmodelle, die das normale Erlernen des Lesens und Rechtschreibens beschreiben. Das Stufenmodell von Frith (1986) geht dabei von drei Stufen oder Stadien aus. Im ersten sog. logographischen Stadium erfolgt die Worterkennung lediglich an visuellen Merkmalen ohne eine Buchstabenkenntnis. Im folgenden alphabetischen Stadium nutzt das

Kind die Graphem17 -Phonem18 -Korrespondenzregeln, um ein Wort Buchstabe für Buchstabe zu erlesen. Das nennt man auch phonologisches Rekodieren, bei dem die Grapheme den Phonemen zugeordnet werden, um Wörter wiederzuerkennen (vgl. KLICPERA/GASTEIGER- KLICPERA, 1995, S. 17). Im alphabetischen Stadium werden noch keine Rechtschreibregeln angewandt, die Schreibversuche sind lauttreu und das Lesetempo ist noch sehr niedrig. Im letzten Stadium, dem orthographischen Stadium, sind die Buchstabenfolgen eines Wortes im Gedächtnis als vollständige innerliche Repräsentation gespeichert und jederzeit abrufbar, so dass ein rasches Lesen möglich ist und eine Sicherheit beim Schreiben entsteht. In diesem Stadium werden dann auch Rechtschreibregeln angewandt (vgl. WARNKE/ROTH, 2000, S. 463; WARNKE u.a., 2004, S. 14 ff.)

Es gibt anstelle der Stufenmodelle auch Netzwerkmodelle, bei denen der Schriftspracherwerb über „probabilistische“ Verbindungen von zentralnervösen Repräsentationen oder von orthographischen, phonologischen und semantischen Informationen abläuft. Stufenmodelle nehmen an, dass Störungen des Schriftspracherwerbs auf jeder Stufe auftreten können, wohingegen beim Netzwerkmodell die Störungen auf dysfunktionalen Modulen basieren (vgl. WARNKE u.a., 2004, S. 16)

Insgesamt gehen die Forschungen heute davon aus, dass vor allem Besonderheiten in der akustischen und sprachlichen sowie in der visuellen Informationsverarbeitung vorliegen. Deshalb soll hier noch einmal gesondert darauf eingegangen werden

a) Besonderheiten der visuellen Informationsverarbeitung

Die basalen Sinnesfunktionen sind bei legasthenen Kindern zwar intakt, dennoch werden bei 5 bis 10 % visuell-räumliche Wahrnehmungsschwierigkeiten bei der Analyse und Kodierung visueller Informationen angenommen. Der Begriff der kongenitalen Wortblindheit des Augenarztes Morgan wies bereits auf diese Problematik hin (vgl. Kap. 1.2.)

Abbildung 2: Modell zu Störungen der visuellen Informationsverarbeitung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 22)

Unter anderem wird die Hypothese diskutiert, dass das magnozelluläre System beeinträchtigt ist, welches für die Verarbeitung rasch wechselnder visueller Reize und Reize mit niedrigem Kontrast und niedriger Raumfrequenz verantwortlich ist (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 23 ff.; WARNKE u.a., 2004, S. 17)

Außerdem werden Defizite in der orthographischen Verarbeitung angenommen, d.h. dass das orthographische Wissen bei legasthenen Menschen signifikant geringer ausgebildet ist und dadurch Schwierigkeiten entstehen bei der Nutzung der Regelmäßigkeiten von Buchstabenfolgen, Wortbildern sowie grammatikalischen und semantischen Strukturen der Schriftsprache (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 27; WARNKE u.a., 2004, S. 18)

Besonders werden auch Störungen der Blickbewegung als Ursache der Legasthenie diskutiert, da man herausfand, dass die Augenbewegungen bei legasthenen Personen verändert sind. Forschungsergebnisse zeigten, dass die Fixationszeiten verlängert, die Fixationen ungezielter, häufiger und manchmal auch rückwärts gerichtet sind (vgl. WARNKE u.a., 2002, S. 31). Dies erkennt man auch an der unruhigen Pupille der Legastheniker beim Lesen. Buchstaben können dadurch nicht schnell genug erkannt werden, so dass es zu Vertauschungen, Auslassungen von Buchstaben usw. kommen kann (vgl. FIRNHABER, 2002, S. 35). Allerdings gibt es heute immer mehr Studien, die keinen kausalen Zusammenhang sehen, sondern davon ausgehen, dass die gestörten Blickbewegungen Folge der Lesestörung sind (vgl. SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 23)

b) Besonderheiten der auditiven und sprachlichen Informationsverarbeitung

Abbildung 3: Modell zu Störungen der auditiven Informationsverarbeitung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(SCHULTE-KÖRNE, 2002, S. 15)

Studien zu Problemen der akustischen Wahrnehmung zeigten, dass auch die Verarbeitung in den Hörbahnen bei legasthenen Kindern sehr häufig beeinträchtigt ist. Bestimmte Zellen, die die Laute zur Hirnrinde weiterleiten und für die Verarbeitung von rasch aufeinanderfolgenden Lauten zuständig sind, sind kleiner und ungeordneter, so dass kurze, schnelle Laute (vor allem die Stoppkonsonanten) nicht richtig verarbeitet werden und unscharfe Klangbilder entstehen (vgl. FIRNHABER, 2002, S. 36)

Darauf, dass Kinder mit einer umschriebenen Lese-Rechtschreibstörung in ihrer Vorgeschichte häufig eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache haben, wird in der Definition des ICD-10 (F81.0) hingewiesen (vgl. DILLING u.a., 1993, S. 274). Eine Beurteilung der Sprachfunktionen deckt oft folgende Probleme auf:

- sprachlich abhängige Intelligenztestwerte (Verbal-IQ) sind niedriger als sprachfreie,
- der Wortschatz ist geringer,
- es kommt zu Wortfindungsstörungen,
- die Grammatik wird weniger gut beherrscht,
- Gedächtnisleistungen bei sprachlichem Lernstoff sind beeinträchtigt usw. (vgl. WARNKE, 1996, S. 33 f.; WARNKE u.a., 2002, S. 33)

Besonders relevant sind dabei die Defizite in der phonologischen (lautsprachlichen) Informationsverarbeitung. Zu dieser gehören die phonologische Bewusstheit, das phonologische Rekodieren beim Zugriff auf das semantische Gedächtnis und das phonetische Rekodieren im Arbeitsgedächtnis. Die phonologische Bewusstheit ist die Fähigkeit, „sprachliche Einheiten (Worte, Reime, Silben, Phoneme) zu erkennen und mit ihnen zu operieren.“ (WARNKE/ROTH, 2000, S. 463) Legasthene Kinder zeigen oft Defizite in der phonologischen Bewusstheit, d.h. es gelingt ihnen nicht, ein Wort in seine Phoneme zu zerlegen (Phonemanalyse) und einzelne Phoneme zu einem Wort zusammenzusetzen (Phonemsynthese) [vgl. ebd.]. Es gibt Studien, die belegen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen phonologischer Bewusstheit im Vorschulalter und einem späteren Schulerfolg im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (z.B. die Würzburger Studien; vgl. Kap. 6.2.). Allerdings ist dieses Ergebnis nur vorläufiger Art (vgl. WARNKE u.a., 2004, S. 18)

Das phonologische Rekodieren beim Zugriff auf das semantische Gedächtnis ist die Fähigkeit, „schriftliche Symbole (geschriebene Wörter, Bilder) zu rekodieren (in eine lautsprachliche Struktur zu übertragen), um schließlich aus dem Langzeitgedächtnis deren Bedeutung abzurufen.“ (WARNKE/ROTH, 2000, S. 464) Dieser Abruf ist bei Legasthenikern deutlich verlangsamt (vgl. ebd.)

Außer dem Abruf aus dem Langzeitgedächtnis spielt auch eine kurzfristige Speicherung der schriftlichen Symbole im Arbeitsgedächtnis eine Rolle. Die Buchstaben oder Phoneme müssen solange gespeichert werden, bis das gesamte Wort erlesen oder geschrieben ist (phonetisches Rekodieren). Auch hier haben legasthene Kinder eine eingeschränkte Merkfähigkeit (vgl. ebd.)

Studien, die den Zusammenhang zwischen Schriftspracherwerb und phonologischer Bewusstheit untersucht haben, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einerseits wird die phonologische Bewusstheit als Voraussetzung des Schriftspracherwerbs angesehen, andererseits aber auch als Folge der Schriftsprachkenntnisse. Die plausibelste Antwort wäre, dass phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb sich gegenseitig beeinflussen (vgl. SCHULTE- KÖRNE, 2002, S. 20 f.)

Schließlich ist anzumerken, dass es sowohl sprachgestörte Kinder gibt, die nie eine Legasthenie aufweisen, als auch legasthene Kinder, die in ihrer Vorgeschichte keine Sprachstörungen hatten

2.3. Weitere Erklärungsansätze

Seit der empirisch-kasuistischen Phase der fünfziger und sechziger Jahre gibt es die unterschiedlichsten Theoriebildungen über die Entstehung des Phänomens Legasthenie, die aber zum Teil bereits widerlegt werden konnten

a) Störung des intraund interhemisphärischen Informationsflusses

Es gibt nicht die eine dominante Hirnhälfte, sondern beide Hemisphären haben sich spezialisiert, wobei jede Hemisphäre ihre Aufgaben hat. Die rechte Hirnhälfte ist für das bildhafte, räumliche und ganzheitliche Denken verantwortlich und für das Erfassen optischer Zeichen. In der linken Hirnhälfte finden dagegen sprachliche, lautanalytische und auf Sprache basierende kognitive Prozesse statt. Hier werden zeitliche und räumliche Abfolgen wahrgenommen, Begriffe gebildet, Verlaufsmuster erfasst und Laute analysiert. Weiterhin ist hier die Feinmotorik verankert. Beide Hirnhälften müssen zur richtigen Zeit im richtigen Ausmaß interagieren, was bei Legasthenikern nicht der Fall ist (vgl. KLASEN, 1995, S. 41; SCHENK- DANZINGER, 1991, S. 40 ff.)

b) Minimale cerebrale Dysfunktion

Prä-, periund postnatale Ereignisse (wie z.B. Infektionskrankheiten der Mutter, Quetschung des Kopfes während der Geburt oder Infektionskrankheiten und fieberhafte Erkrankungen in den ersten Lebensjahren) können minimale Hirnschäden hervorrufen. Diese Hirnschäden wurden wiederholt mit Teilleistungsstörungen in Verbindung gebracht. Beobachtet wurden insbesondere:

- eine wenig entwickelte Feinmotorik,
- eine gestörte Sprachentwicklung,
- Schwierigkeiten beim Erfassen von Raum-Lage-Beziehungen und bei der Raumorientierung,
- Mängel bei der optischen und akustischen Wahrnehmung von zeitlichen und räumlichen Abläufen,
- Schwächen im Kurzzeitund Langzeitgedächtnis für schriftsprachliche Informationen und
- eine mangelhafte Fähigkeit zu intersensorischen Leistungen (vgl. SCHENK-DANZINGER, 1991, S. 81 f.)

Neuere Studien gehen allerdings davon aus, dass die Annahme einer Hirnschädigung nicht gerechtfertigt ist, da dieser Risikofaktor eher unspezifisch und nicht gehäuft auftritt (vgl. WARNKE u.a., 2004, S. 10 f.)

c) Legasthenie und Linkshändigkeit

In der Vergangenheit fiel einigen Forschern auf, dass viele Legastheniker Linkshänder sind. Man fand heraus, dass bei Linkshändern eine untypische Form der Hemisphärendominanz vorliegt, und zwar insofern, dass die Hemisphärenasymmetrie für sprachliche Reize weniger ausgeprägt ist als bei Rechtshändern, was zu einer höheren Anfälligkeit für Sprachstörungen führen kann (vgl. SCHENK-DANZINGER, 1991, S. 86 f.)

Diese Annahme der gestörten Lateralisation von Hirnfunktionen konnte bisher nicht bestätigt werden. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen Händigkeit und Legasthenie konnte nicht gefunden werden (vgl. STREHLOW, 2002, S. 43-60)

Im Zusammenhang mit der Linkshändigkeit wird außerdem diskutiert, ob es durch eine Umerziehung auf Rechtshändigkeit und einer damit verbundenen Unterdrückung der bevorzugten Motorik zu einer Schädigung der Sprachentwicklung (z.B. Legasthenie oder Stottern) kommen kann, da eine Mechanisierung der Handlungsabläufe nicht möglich ist und Unsicherheiten beim Kind entstehen (vgl. PREGL, 2000, 33 f.). Auch diese Hypothese bedarf weiterer wissenschaftlicher Überprüfungen

d) Legasthenie und Milieu

Ein Zusammenhang von Legasthenie und Milieu wurde wiederholt von einigen Forschern festgestellt, denen aufgefallen war, dass Legastheniker in einem sozio-ökonomisch schlechter gestellten Milieu aufwuchsen. VALTIN (1973) kam zu dem Ergebnis, dass folgende Umweltbedingungen schlechte Rechtschreibleistungen bewirken:

- eine geringere Bildung der Mutter (dadurch geringes Einkommen und geringe Schulbildung),
- hohe Geschwisterzahlen,
- mittlere Position in der Geschwisterreihe,
- schlechte Wohnverhältnisse,
- Eltern besitzen keine Bücher, deshalb geringes Leseinteresse,
- mangelhaftes sprachliches Vorbild der Eltern,
- fehlende Lernanreize und dadurch Störungen der kindlichen Leistungsmotivation (vgl. S. 204 ff.)

Die Eltern haben eine Vorbildfunktion im familiären Umfeld. Reagieren sie mit Verunsicherung, Verärgerung oder Resignation auf Misserfolge ihrer Kinder, stellt das für diese eine Belastung dar. Aber auch die schulische Förderung spielt eine wichtige Rolle. Hier sind es Faktoren, wie die Art der Unterrichtsgestaltung, die Qualität des Unterrichts, die Anzahl der Lehrerwechsel, mangelhafte Ausbildung der Grundschullehrer oder das Lehrerverhalten, welches die Kinder beeinflussen können (vgl. PREGL, 2000, S. 48 ff.)

Es gibt allerdings auch Kinder mit Legasthenie, die aus einem sehr guten Milieu kommen, weshalb die Schichtzugehörigkeit als Ursache zwar nicht in Frage kommt, sich aber erschwerend auf eine bereits bestehende Legasthenie auswirken kann (vgl. SCHENK-DANZINGER,

1991, S. 32 ff.). „Wenn auch nicht die Entstehung, so hängen doch Grad, emotionale Auswirkung, Verlauf und Behandlungserfolg der Legasthenie weitgehend davon ab, ob das Kind in einer geschlossenen, kultivierten, wirtschaftlich gesicherten Familie aufwächst, ob die Eltern seine Problematik verstehen oder sich darüber objektiv zu informieren versuchen. Besonders gute Erfolgsaussichten haben erfahrungsgemäß solche Legastheniker, die in der glücklichen Lage sind, daß sich beide Eltern an ihrer Rehabilitation aktiv beteiligen.“ (KLASEN, 1971, S. 251)

Folgende weitere Hypothesen wurden im Rahmen der Ursachenforschung diskutiert:

- eine abnorme anatomische, strukturelle cerebrale Entwicklung,
- eine gestörte Sehfunktion,
- Störungen der selektiven Aufmerksamkeit,
- eine Beeinträchtigung in der sequentiellen Reizverarbeitung und
- Dysfunktionen des Gedächtnisses (vgl. WARNKE/ROTH, 2000, S. 465 f.)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Polyätiologie vorliegt und Wechselwirkungen zwischen genetischen und nicht-genetischen, neurobiologischen Faktoren bestehen, die zu Besonderheiten der kognitiven Informationsverarbeitung führen, wobei das Alter, die Persönlichkeitsentwicklung und Umwelteinflüsse eine modifizierende Rolle spielen (vgl. a.a.O., S. 462 f.)

3. Symptome der Legasthenie und ihre Auswirkungen

3.1. Die Primärsymptomatik

Da die Legasthenie eine Störung des Schriftspracherwerbs darstellt, zeigen sich die meisten Probleme erst nach der Einschulung, wenn das Kind mit Buchstaben und Zahlen konfrontiert wird. Oft sind die Eltern schockiert, welch schlechte Leistungen ihr Kind im Lesen und Schreiben erbringt. Ist es doch in der Vorschulzeit durch besondere Begabungen aufgefallen, so z.B. durch seine hohe Auffassungsgabe und durch besondere sportliche, handwerkliche, künstlerische oder technische Fähigkeiten (vgl. KLASEN, 1995, S. 27). Umso wichtiger ist es, dass Eltern auf erste Anzeichen einer sich anbahnenden Legasthenie achten. Diese kann man bereits im Säuglingsund Kleinkindalter vermuten. Folgende Symptome sind möglich:

- das Kind hat gar nicht oder nur sehr wenig gekrabbelt, so dass eine Raumerkundung nicht ausreichend stattfinden konnte,
- das Kind hat Bewegungsängste und schätzt Gefahren nicht richtig ein,
- das Erlernen des Klarsprechens findet später statt,
- es werden ähnliche oder Ersatzwörter verwendet,
- das Kind hat eine starke Abwehr gegen Berührungen und Schwierigkeiten, Teile des eigenen Körpers zu berühren,
- es hat Probleme nach Vorlagen zu bauen und
- es kann rechts/links, oben/unten, hinten/vorne nicht unterscheiden (vgl. FIRNHABER, 2002, S. 51 ff.; KOPP-DULLER, 2005, S. 15 f.)

Im Kindergarten fällt dann auf:

- dass die Kinder tollpatschig und ungeschickt sind,
- sie spielen schlecht Ball,
- sie ziehen Schuhe und Kleidung verkehrt herum an und haben Schwierigkeiten beim Basteln, Turnen und Malen,
- sie denken schneller als sie handeln,
- es treten Schwierigkeiten auf beim Umgang mit Messer, Gabel und Schere,
- Radfahren oder Schwimmen wird nur mühsam erlernt,
- Kinderreime und Lieder werden nur schlecht behalten,
- Rhythmen können nur schlecht nachgeklopft werden,
- die Kinder haben ihre eigene Ordnung,
- sind aber sehr oft kreativ und haben, wie bereits erwähnt, eine hohe Auffassungsgabe für technische Dinge (vgl. ebd.; KOPP-DULLER, 2003, S. 20 ff.)

Auch nach der Einschulung sind die genannten Auffälligkeiten teilweise noch zu beobachten, es kommen aber weitere Anzeichen hinzu:

- die Kinder können ihre Schuhbänder nicht zur Schleife binden, keinen Ball fangen, schlecht Seilspringen u.ä.,
- sie können Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden, sind leicht ablenkbar, abwesend und tagträumend,
- sie sind sehr unordentlich, das Ordnen der Gedanken bei einem Aufsatz z.B. ist erschwert,
- oft haben sie eine verkrampfte Körperhaltung, reiben die Augen, blinzeln und äußern Sehprobleme und verschwommene Buchstaben,
- sie fragen immer wieder nach und haben scheinbar auch Hörprobleme,
- in Alltagssituationen sind sie oft auffällig wach und interessiert und in Spielsituationen völlig mit den Gedanken dabei,
- sie haben eine geringe Merkfähigkeit beim Auswendiglernen und dem Einmaleins,
- sie haben eine verwaschene Sprache, eine herabgesetzte Körperkoordination und eine mangelnde Raumund/oder Zeitkoordination,
- sie trödeln bei der Bearbeitung von Aufgaben, gehen Anforderungen aus dem Weg, schwatzen und zeigen allgemeine verbale Unruhe,
- sie sind überaktiv, zeigen einen vermehrten Bewegungsdrang, reagieren aggressiv, unkontrolliert oder fahrig,
- außerdem haben sie oft ein geringes Selbstwertgefühl und sind in sich zurückgezogen (vgl. ebd.)

Viele dieser Symptome weisen darauf hin, dass die Sensorische Integration gestört ist. „ Sensorische Integration ist der Prozeß des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke (sensorischen Inputs), so daß das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken erzeugen kann. Die sensorische Integration sortiert, ordnet und vereint alle sinnlichen Eindrücke des Individuums zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion. “ (AYRES, 1984, S. 37)

Es gibt unterschiedliche Arten sensorischer Information, die zusammenkommen müssen, um die Funktionen auszubilden, die ein Kind benötigt. Hierbei spielen das auditive (Hören), das vestibuläre (Schwerkraft und Bewegung), das propriozeptive (Muskeln und Gelenke), das taktile (Berührung und Tastsinn) und das visuelle System (Sehen) eine wichtige Rolle. Beispielsweise sind Berührungsreize für das Saugen und Essen oder für die Mutter-Kind-Bindung notwendig, und für Augenbewegungen, Haltung, Gleichgewicht, Muskeltonus und Schwerkraftsicherheit müssen das vestibuläre und das propriozeptive System funktionieren (vgl. a.a.O., S. 83 ff.). Das Ergebnis der sinnvollen Ordnung und Aufgliederung der Sinneserregungen ist die Wahrnehmung der Umwelt, und diese Wahrnehmung dient natürlich auch dem Erlernen des Lesens und Schreibens (vgl. KOPP-DULLER, 2004, S. 74)

Wenn die genannten Auffälligkeiten bei einem Kind auftreten, bedeutet das aber nicht unbedingt, dass es an einer Legasthenie leidet. „Nicht jeder Mensch, der keine Krabbelphase durchgemacht hat, ist ein Legastheniker!“ (ebd.)

Am auffälligsten sind natürlich bei einer Legasthenie die großen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Laut ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation zeigt sich die Lesestörung zu Beginn des Leselernprozesses durch Schwierigkeiten

- beim Aufsagen des Alphabets,
- bei der korrekten Benennung der Buchstaben,
- bei der Bildung einfacher Wortreime und
- bei der Kategorisierung und Analyse von Lauten (vgl. DILLING u.a., 1993, S. 275).

Später treten dann beim Vorlesen Fehler auf. Dies sind folgende Symptome:

- Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen,
- eine niedrige Lesegeschwindigkeit,
- Startschwierigkeiten beim Vorlesen,
- langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text,
- ungenaues Phrasieren und
- Vertauschung von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern (vgl. ebd.)

Außerdem zeigen sich folgende Defizite im Leseverständnis:

- Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben,
- Unfähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen und
- Unfähigkeit, allgemeines Wissen als Hintergrundinformation zu verwenden anstelle von Informationen aus einer Geschichte beim Beantworten von Fragen über diese Geschichte (vgl. ebd.)

Abbildung 4: Erscheinungsbild der Lese-Rechtschreibstörung nach ICD-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(LENHARD, 2005)

Dennoch lernen fast alle Kinder mit großer Mühe und mehr Zeitaufwand das Lesen im Laufe der ersten Schuljahre (vgl. WARNKE u.a., 2004, S. 3). Die Rechtschreibprobleme sind dann vor allem in der späten Kindheit und im Erwachsenenalter noch vorhanden (vgl. DILLING u.a., 1993, S. 275). Diese zeigen sich durch folgende Fehlersymptome:

- Reversionen (Verdrehungen von Buchstaben im Wort, z.B. b-d, p-q),
- Reihenfolgefehler (Umstellungen von Buchstaben im Wort, z.B. bei-bie),
- Auslassungen von Buchstaben oder Wortteilen, z.B. warten-waren,
- Einfügungen von falschen Buchstaben oder Wortteilen, z.B. ach-auch,
- Regelfehler, z.B. Dehnungsfehler, Fehler in der Groß- und Kleinschreibung,
- Wahrnehmungsfehler, z.B. d-t, g-k und
- eine Fehlerinkonstanz, d.h. dasselbe Wort wird z.B. im gleichen Text immer wieder unterschiedlich falsch geschrieben (vgl. DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR KINDER- UND JU- GENDPSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE u.a., 2003, S. 208)

Rechtschreibfehler können von Kindern, die leicht auswendig lernen, bis zur 3. Klasse gut kompensiert werden. Danach aber, wenn ungeübte Diktate und ein höheres Leistungsniveau gefordert werden, zeigt sich auch bei ihnen die Lese-Rechtschreibstörung (vgl. ebd.)

Bei einer Legasthenie ist es wichtig, zwischen „normalen“ Rechtschreibfehlern und Wahrnehmungsfehlern zu unterscheiden, da sonst die Gefahr besteht, dass das Kind falsch eingeschätzt wird. Ein legasthenes Kind macht Wahrnehmungsfehler durch seine differenzierte Wahrnehmung, deshalb werden auch Wörter, die eigentlich einfach und schon längst gelernt worden sind, falsch geschrieben und Wörter, die eigentlich besonders schwierig sind, zum Teil richtig geschrieben. Rechtschreibfehler eines nicht legasthenen Kindes kommen meist durch die Unkenntnis des Wortes oder durch mangelndes Regelwissen zustande. Deshalb schreiben diese Kinder ein Wort auch immer wieder auf die gleiche Art und Weise falsch (vgl. KOPP-DULLER, 2003, S. 34 ff.; KOPP-DULLER, 2005, S. 29 ff.)

Nicht jedes legasthene Kind hat die gleichen Symptome, sondern jedes hat seine eigene Legasthenie. Manche Autoren gehen von verschiedenen Erscheinungsformen der Legasthenie aus. FIRNHABER (2002) unterscheidet dabei zwischen der akustischen (auditiven) Erfassungsschwäche (Lautnuancentaubheit), der visuellen (optischen) Wahrnehmungsund Speicherschwäche (Gestaltmerkschwäche), der Leseschwäche mit mangelndem Leseverständnis und der Raumlagelabilität mit der Störungsform der willkürlichen Reihungen (vgl. S. 60 ff.)

Bei der akustischen Erfassungsschwäche werden die klanglichen Feinheiten eines Lautes nicht gehört. So werden ähnliche Laute (ä-e, i-e-ü-ö, usw.), Stoppkonsonanten (p, k, b, t), Schärfungen (Maße-Masse), kurze und lange Laute sowie Umund Zwielaute verwechselt. Außerdem werden oft die Endungen nicht gehört und einfach weggelassen (aus Messer wird Messe usw.). Die visuelle Wahrnehmungsund Speicherschwäche zeigt sich durch Schwierigkeiten beim Einprägen der Form eines Zeichens. Hier werden ähnlich aussehende Buchstaben (m-n, o-a, d-b), Zahlen oder Rechenzeichen verwechselt und es treten Schwierigkeiten auf bei seltenen Buchstaben (x, y, z) sowie bei der Groß- und Kleinschreibung. Außerdem gibt es Probleme beim Einprägen der Wortund Satzstruktur. Kinder, die diese Gestaltmerkschwäche aufweisen, haben deshalb oft eine schwer lesbare Schrift, weil sie sich beim Schreiben immer wieder verbessern und Buchstaben und Wörter durchstreichen oder überschreiben (vgl. ebd.)

Bedingt durch die beiden oben genannten Schwächen resultiert eine mangelnde Lesefähigkeit, da beim Lesen um jeden Buchstaben oder jedes Wort gerungen und so natürlich auch der Textinhalt gar nicht verstanden wird. Dieses mangelnde Leseverständnis merkt man auch an der leierigen Betonung beim Vorlesen eines Textes. Die Raumlagelabilität tritt eher selten auf und nur bei schweren Legasthenien. Betroffene Kinder haben ein gestörtes Verhältnis zur Lage im Raum, d.h. sie können rechts-links, oben-unten usw. nicht unterscheiden, können keine Uhrzeit lesen und haben Probleme beim Behalten willkürlicher Reihungen, wie z.B. Telefonnummern, dem Einmaleins, dem Alphabet oder den Monatsnamen (vgl. ebd.)

Alle bis hierher genannten Symptome zählen zur sog. Primärsymptomatik. Wird die Legasthenie nicht gleich erkannt oder falsch behandelt, kann dies leider auch negative Auswirkungen nach sich ziehen. Welche das sind, wird im Folgenden beschrieben

3.2. Auswirkungen der Legasthenie auf die psycho-soziale Lage

3.2.1. Primäre und sekundäre Komorbidität

Komorbide Störungen sind Begleitstörungen, die zusätzlich zur Lese-Rechtschreibstörung auftreten können. Primäre Begleitstörungen existieren bereits teilweise in der Vorschulzeit und sind, im Gegensatz zu den sekundären Begleitstörungen, nicht als Folge einer Legasthenie anzusehen. Zu den primären Begleitstörungen zählen die Sprachentwicklungsstörungen, von denen immerhin 60 bis 80 % der legasthenen Kinder betroffen waren oder sind. 5 bis

10 % haben außerdem psychomotorische19 Schwierigkeiten und Störungen der visuellen

Wahrnehmung und der visuomotorischen Koordination. Bei etwa 30 % der Kinder kann ferner eine hyperkinetische Störung (Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, motorische Unruhe undImpulsivität) auftreten, was den Schriftspracherwerb natürlich erheblich erschwert (vgl. WARNKE/ROTH, 2000, S. 455; WARNKE u.a., 2004, S. 6 ff.).

[...]


1 griech. legein = lesen + astheneia = Schwäche (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 534)

2 griech. dys = schlecht, schwer, schwierig, widrig + lexis = Redeweise, Ausdruck (vgl. a.a.O., S. 231)

3 Mitlaute, Geräuschlaute (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 494)

4 Selbstlaute (vgl. a.a.O., S. 994)

5 Molekulargenetik = die Erforschung der chemischen Natur der Gene und ihrer Funktionen; Vererbungsgenetik (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 604)

6 genetischer Faktor liegt nicht auf den Geschlechts-, sondern auf den Körperchromosomen

7 Größenmaß für die durchschnittliche Abweichung eines Einzelwertes von einem Mittelwert (vgl. WAHRIG- BURFEIND, 2001, S. 981)

8 Phonologie = Lehre von den Lauten und Lautgruppen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Wörter (vgl. a.a.O., S. 715)

9 Neuroanatomie = Anatomie des Nervensystems (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 631)

10 Histologie = Lehre von den Körpergeweben (vgl. a.a.O., S. 361)

11 Neurophysiologie = Teilgebiet der Physiologie, das sich mit der Tätigkeit des Nervensystems befasst (vgl. a.a.O., S. 632)

12 Neuropsychologie = Teilgebiet der Psychologie, das die Zusammenhänge von Nervensystem und psychischen Vorgängen untersucht (vgl. ebd.)

13 Neurobiologie = Teilgebiet der Biologie, das sich mit Aufbau und Funktionen der Nerven und des Nervensystems befasst (vgl. a.a.O., S. 631)

14 in der linken Hälfte des Großhirns

15 lateral = seitlich (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 531)

16 medial = zur Mitte hin gerichtet (vgl. a.a.O., S. 578)

17 kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der geschriebenen Sprache, z.B. Buchstabe (vgl. WAHRIG- BURFEIND, 2001, S. 336)

18 kleinste Einheit der Phonologie; Laut, der im Vergleich zu einem anderen Laut in derselben Stellung eine unterschiedliche Bedeutung ausdrückt (a.a.O., S. 714)

19 Psychomotorik = Gesamtheit der psychisch bedingten und vom Willen abhängigen Bewegungen, im Unterschied zu den vom Willen unabhängigen Bewegungen (vgl. WAHRIG-BURFEIND, 2001, S. 772)

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Möglichkeiten einer Förderung und Früherkennung der Legasthenie im Kindesalter
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
2,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
123
Katalognummer
V114158
ISBN (eBook)
9783640144983
Dateigröße
2089 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Möglichkeiten, Förderung, Früherkennung, Legasthenie, Kindesalter
Arbeit zitieren
Anja Behr (Autor:in), 2007, Möglichkeiten einer Förderung und Früherkennung der Legasthenie im Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114158

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