Der Roman Luz de las crueles provincias nimmt sowohl im Werk Tizóns als auch in der Literatur der Einwanderung eine besondere Stellung ein: Die in LCP dargestellten Einwanderer wählen eine ungewöhnliche Route. Statt in die Küstenregion gehen sie in den Nordwesten des Landes – entgegen der Abwanderungsbewegung der dort ansässigen Bevölkerung. Aber nicht nur der Handlungsort, auch die Erzählperspektive ist gegenüber anderen Immigrationsgeschichten verschoben. Indem Tizón das Geschehen an die Peripherie der argentinischen Nation verlegt und den Lebensweg seiner Protagonisten aus der Perspektive der lokalen Kultur, also der ‘Anderen’, erzählt, erzeugt er eine neue Sicht auf die Einwanderung, die sich wesentlich von Einwanderungsgeschichten aus der Perspektive der Immigranten oder der kulturellen Eliten des Ziellandes unterscheidet. So folgt in LCP eine kollektive und vernakulare Erzählstimme den bikulturellen Spuren der Migranten – Spuren, in denen sich Elemente aus der Kultur ihres Herkunfts- und ihres Bestimmungslandes überlagern.
Andrés Rivera wird nicht zu den zentralen Autoren der jüdisch-argentinischen Literatur gerechnet. Sosnowski und Senkman erwähnen ihn in ihren Studien zwar, gehen aber nicht näher auf ihn ein. Die argentinische Literaturkritik behandelt Rivera mehrheitlich direkt innerhalb des nationalen Kanons. Dennoch darf bei der Interpretation von El verdugo en el umbral auch nicht umgangen werden, dass es sich bei den Hauptfiguren um Juden handelt; zumal gerade die Abkehr vom Glauben seiner Eltern für die Zentralgestalt des Romans, Moises Reedson, einen wesentlichen Wendepunkt in seiner Biographie darstellt. Die Entzauberung einer vormals religiös erfahrenen Welt steht bei Rivera in einer Entwicklungslinie mit der von den Figuren vollzogenen Selbstermächtigung zum Widerstand. Die Kategorie des Schicksals entlarvt sich im Kontext einer Abkehr vom Glauben als Verschleierung von sozialen Konstellationen, in denen es Menschen gibt, die über einen größeren Handlungsspielraum verfügen und entscheidungsmächtiger sind als andere. Auf eine Welt, die als ungerecht empfunden wird, kann nicht mehr überzeugend mit dem Rekurs auf eine göttliche Weltordnung geantwortet werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Herbeigeschriebene Einwanderer
- I. Eine Literatur der Einwanderung
- 1.1. Die Emergenz der Einwanderungsliteratur
- 1.2. Das Projekt der Nation und die Immigration
- 1.3. Bilder von Einwanderern
- 1.4. Familienbiographie als subversive Geschichtsschreibung
- II. Héctor Tizón: Die bikulturellen Spuren der Migranten
- 2.1. Aus der Perspektive der ‘Anderen'
- 2.2. Schreiben auf der Grenze
- 2.3. Der Werkzusammenhang
- 2.3.1. Die Verunsicherung der Repräsentation in La casa y el viento
- 2.3.2. Fiktion als Widerstand: Hombre que llega a un pueblo
- 2.4. Wandernde Identitäten: Luz de las crueles provincias
- 2.4.1. Titel
- 2.4.2. Struktur
- 2.4.3. Das Bild der Auswanderung
- 2.4.4. Die Aushöhlung der migrierenden Identitäten
- 2.4.5. Immigration als Geschichte einer späten Emanzipation
- 2.4.6. Im dunklen Herzen der Provinzen
- 2.4.7. Der Richter und der leere Koffer: den Verlust erzählen
- 2.4.8. Das nicht gelebte Leben: Migration des Selbst
- III. Andrés Rivera: Revolutionäre Einschreibungen
- 3.1. Die drohende Grenze
- 3.1.1. Zum Begriff der jüdischen Identität'
- 3.1.2. Die jüdisch-argentinische Literatur
- 3.1.3. Einschreibungen
- 3.2. El verdugo en el umbral als aleph proletario
- 3.2.1. Struktur
- 3.2.2. Das Bild der Juden in der Erzählung der Mutter
- 3.2.3. Die Erzählung des Vaters
- 3.2.4. Das Leben in Buenos Aires
- 3.2.5. Die Einwanderung aus der Sicht der Mutter
- 3.2.6. Die Notizen des Sohnes
- 3.1. Die drohende Grenze
- Schluss: Momente des Interkulturellen
- Bibliographie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende wissenschaftliche Hausarbeit befasst sich mit der Darstellung von Einwandererbildern in der argentinischen Gegenwartsliteratur. Sie analysiert zwei Romane, Luz de las crueles provincias von Héctor Tizón und El verdugo en el umbral von Andrés Rivera, um die spezifischen Herausforderungen und Erfahrungen der Einwanderung in Argentinien zu beleuchten. Die Arbeit untersucht, wie die beiden Autoren die Einwanderung als ein zentrales Thema in ihren Werken behandeln und wie sie die Identitätsbildung von Einwanderern und ihren Nachkommen in einem multikulturellen Kontext darstellen.
- Die Rolle der Einwanderung in der argentinischen Geschichte und Literatur
- Die Konstruktion von Identitäten im Kontext der Einwanderung
- Die Darstellung von kulturellen Konflikten und Spannungen
- Die Bedeutung der Erinnerung und der Familienbiographie
- Die literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Marginalisierten
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die argentinische Einwanderungsgeschichte und die Bedeutung der Einwanderung für die argentinische Literatur vor. Sie beleuchtet die Entstehung der Einwanderungsliteratur und die verschiedenen Perspektiven auf die Einwanderung in der argentinischen Literatur. Die Einleitung führt außerdem die beiden Romane von Héctor Tizón und Andrés Rivera ein, die im Zentrum der Arbeit stehen.
Kapitel I analysiert die Einwanderungsliteratur als ein Genre, das sich mit den Erfahrungen und Herausforderungen der Einwanderung auseinandersetzt. Es untersucht die verschiedenen Bilder von Einwanderern in der Literatur und die Bedeutung der Familienbiographie als subversive Geschichtsschreibung.
Kapitel II widmet sich dem Werk von Héctor Tizón und seiner Darstellung der Einwanderung in Luz de las crueles provincias. Es analysiert die Struktur des Romans, die Darstellung der Auswanderung und die Aushöhlung der migrierenden Identitäten. Das Kapitel beleuchtet auch die Bedeutung der Erinnerung und der Familienbiographie in Tizóns Werk.
Kapitel III untersucht das Werk von Andrés Rivera und seine Darstellung der Einwanderung in El verdugo en el umbral. Es analysiert die Struktur des Romans, die Darstellung der jüdischen Identität und die Einwanderung aus der Sicht der Mutter und des Sohnes. Das Kapitel beleuchtet auch die Bedeutung der Erinnerung und der Familienbiographie in Riveras Werk.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die argentinische Einwanderungsliteratur, die Einwandererbilder in der Literatur, die Identitätsbildung von Einwanderern, die Familienbiographie, die Erinnerung, die Geschichte der Marginalisierten, die kulturellen Konflikte und Spannungen, die literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Marginalisierten, Héctor Tizón, Luz de las crueles provincias, Andrés Rivera, El verdugo en el umbral, Argentinien, Immigration, Kultur, Identität, Geschichte.
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- M.A. Timo Berger (Author), 2001, Wandernde Identitäten - Immigrantenbilder in der argentinischen Gegenwartsliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114369