Die Seele als Maßstab der Gerechtigkeit. Das Abstraktionsproblem und seine Lösung in "Politeia" Buch I, IV


Hausarbeit, 2021

14 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Abstraktionsproblem (327a-336a): Kephalos und Polemarchos

3 Sokrates’ Lösung für das Abstraktionsproblem: Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele

4 Ein Triumph oder ein Fehlschluss? Eine Debatte über platonische Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele
4.1 Gerechte Seele und gerechte Handlung
4.2 Gerechte Seele und das Gute des anderen
4.2.1 Indirect justice strategy
4.2.2 Impartial justice approach
4.2.3 Self-interested justice approach

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Unter Abstraktion verstehe ich den Versuch das, was an Lebenswirklichkeit in einen Begriff einzugehen vermag, durch weitere Begriffe zu untermauern, damit es sich nicht widerlegen lässt. Wenn dieser Versuch nicht erfolgreich ist, bezeichne ich ihn als Abstraktionsproblem.1 Exemplarisch dafür ist Polemarchos’ Abstraktion. Nachdem Polemarchos die Rede seines Vaters in Rep.I übernommen hat, formuliert er präziser, was der Vater unter Gerechtigkeit versteht, indem er den Gerechtigkeitsbegriff davon abhängig macht, was für eine Beziehung der Einzelne zum anderen hat: ,,Also Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses […] sei die Gerechtigkeit“ (332d 4). Polemarchos’ Abstraktion durch die Begriffe von Freund und Feind erweist sich als nicht hilfreich, denn diese Abstraktion genügt erkenntnis-theoretischen Ansprüchen bei der Suche nach dem Wesen der Gerechtigkeit nicht. Kephalos und Polemarchos befürworten jeweils, was sie den Individualbereich betreffend unter Gerechtigkeit verstehen. Was zumindest den Individualbereich betrifft, besteht die Gerechtigkeit jedoch laut Sokrates in der Wohlgeordnetheit der Seele. Daher ist die Entsprechung der Gerechtigkeit in der Seele meines Erachtens die Lösung für das Abstraktionsproblem. Nun stellt sich aber die Frage, ob diese Lösung überhaupt vertretbar ist. Wenn sich die Gerechtigkeit ausschließlich auf die eigene Seele bezieht, welche Rolle spielt das Gute bzw. die Glückseligkeit des anderen dabei? Ist denn die Gerechtigkeit nach Platon eine rein esoterische Tugend?

Im Folgenden soll die Ansicht vertreten und begründet werden, dass sich der platonische Gerechtigkeitsbegriff nicht ausschließlich auf den Individualbereich anwenden lässt. Wenn es sich so verhält, ist die Gerechtigkeit nach Platon keine rein esoterische Tugend. Bei der Verteidigung dieser These werde ich wie folgt vorgehen: Zu Beginn meiner Ausführungen will ich die Argumentation von Kephalos und Polemarchos analysieren (Kapitel 2). Daraufhin wird Sokrates’ bereits erwähnte Lösung für das Abstraktionsproblem, nämlich Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele, zu erörtern sein (Kapitel 3). Danach werde ich zwei Argumente aus der Forschungsliteratur detailgetreu rekonstruieren, deren Autoren (Pappas, Singpurwalla) die Ansicht widerlegen wollen, die Gerechtigkeit hänge nach Platon nicht vom Guten des anderen ab. Schließlich lege ich meine eigene Ansicht zu der Frage dar, warum Singpurwallas Argument beweiskräftiger ist (Kapitel 4).

2 Das Abstraktionsproblem (327a-336a): Kephalos und Polemarchos

In Rep. I werden zwei Vorstellungen von Gerechtigkeit dargestellt die des Polemarchos, nämlich die aus der von Kephalos entwickelt wird, und die des Thrasymachos. Der erste Teil von Politeia, genauer Buch I und die erste Hälfte von Buch II (bis 367c), dienen dazu, die Unterschiede zwischen eigener und traditioneller Position zu beleuchten, sie sind als Folie (vgl. II 367b) der eigenen Konzeption gedacht. Die Argumentationen von Kephalos und Polemarchos werde ich in diesem Beitrag schwerpunktmäßig überprüfen. Dabei wird insbesondere auf folgende Fragen einzugehen sein:

i. Kann der Gesprächpartner die Besonderheit2 und die Allgemeinheit3 des Guten durch seinen Begriff der Gerechtigkeit vereinigen?
ii. Kann er das Esoterische (Entsprechung der Gerechtigkeit in der Seele) und Exoterische (Entsprechung der Gerechtigkeit außerhalb der Seele) des Begriffs der Gerechtigkeit vereinigen?

Statt über die Beschwerden des Alters zu klagen, sieht Kephalos darin das Glück, dass man die Tyrannei körperlicher Begierden überwunden habe (328d, 329c). Er spricht aber von seiner Furcht, dass man im Jenseits eine Strafe für begangenes Unrecht verbüßen muss; man lebe in schlimmer Erwartung. Wer gerecht lebe, d. h., niemanden betrogen habe oder niemandem etwas schulde, sei dagegen guter Hoffnung (330e ff.). Damit stellt er die für die ganze Politeia wegweisende Frage nach dem guten Leben. Nach Kephalos besteht die Gerechtigkeit darin, das zurückzugeben, was man von einem anderen erhalten hat.

Zum einen besteht die Widersprüchlichkeit der Gerechtigkeitsauffassung von Kephalos darin, dass man sich solcher Gerechtigkeit gemäß verhalten und zugleich ungerecht handeln kann, was Sokrates anhand eines Gegenbeispiels nachweist: Es sei nicht gerecht, einem Freund, der von Sinnen ist und ausgeliehene Waffen zurückfordert, diese auch zu geben (331c). Zum anderen muss dem Problem Rechnung getragen werden, dass seine Argumentation zirkulär ist: ,,[D]amit wäre der erst zu bestimmende Begriff in der Bestimmung selber enthalten: ,gerecht ist, in gerechter Weise anvertrautes Gut zurückzugeben‘ – ein Zirkel” (Schütrumpf 2015:25f., Hervorheb. S.N.). In diesem Fall besteht die Gerechtigkeit in der gerechten Handlung. Sokrates’ Gegenbeispiel verdeutlicht zunächst, dass Kephalos’ Gerechtigkeitsbegriff der beanspruchten Tugendhaftigkeit der Gerechtigkeit widerspricht. Sokrates impliziert darin seine im Weiteren betonte Ansicht, dass der Gerechte niemandem schadet (334d,335d). Zweitens zeigt Sokrates’ Gegenbeispiel, dass Kephalos nur auf seine eigene Glückseligkeit achtet. Er hat selber schon eingangs von seiner Furcht gesprochen, dass er im Jenseits für begangenes Unrecht Strafe erleiden muss. Insofern stelle ich mit Sokrates fest, dass Kephalos’ Gerechtigkeitsbegriff nicht tugendhaft ist. Er beinhaltet zudem nur das Besondere des Guten und bleibt dementsprechend rein exoterisch. Hervorzuheben ist übrigens, dass Kephalos, bei all seiner Frömmigkeit, diejenige Gerechtigkeit befürwortet, die nur praktiziert wird, ,,[…] weil man den nachteiligen Folgen von Ungerechtigkeit, z. B. aus Furcht vor den Göttern, entgehen will.” (Schütrumpf 2015:25f.).

Anschließend nimmt Polemarchos an, Gerechtigkeit bestehe darin, Freunden Gutes zu tun und Feinden zu schaden. (332a 8). Sokrates versucht schrittweise, die These des Polemarchos zu widerlegen. Zunächst beurteilt er die Gerechtigkeit in Analogie u.a. zur Medizin. Diese Analogie bestätigt schließlich die Annahme, dass die Gerechtigkeit eine Überlistung sei (334b 5), weswegen der Gerechte der beste Dieb ist. Diese Schlussfolgerung veranlasst Polemarchos, an seinem Gerechtigkeitsbegriff zu zweifeln. Er beharrt jedoch darauf, dass die Gerechtigkeit den Freunden nutzt und den Feinden schadet (334b 8).

Damit nimmt er, wie schon vor ihm Kephalos, einen Einzelfall gerechten Handelns an und erhebt ihn zur Allgemeingültigkeit, was notwendigerweise dazu führt, dass sich der Fall entweder durch Gegenbeispiele widerlegen lässt, wie das bei seinem Vater der Fall war, oder dass die beanspruchte Allgemeingültigkeit sich als begrenzt bzw. nicht universal erweist (ebd.:26f.). Infolgedessen setzt sich Sokrates mit der Frage auseinander, wer Freund ist: Wer gutartig scheine und es auch sei, sei ein Freund (334e 10). Abschließend beurteilt Sokrates Polemarchos’ Annahme in Analogie zu Tieren. Die Folgerung besagt, Menschen würden wie Tieren durch Schaden bösartiger (335c). An dieser Stelle vertritt Sokrates erstmals seine Ansicht über Gerechtigkeit, und zwar in Form von rhetorischer Frage: ,,Aber ist nicht Gerechtigkeit menschliche Tugend ? […]” (335c 3). Da Gerechtigkeit eine Tugend ist, schadet der Gerechte niemandem. Die Form der rhetorischen Frage deutet meines Erachtens darauf hin, dass Sokrates den Nachweis dieser Annahme von Anfang an bewusst geplant hat und dementsprechend die Ansichten der Gesprächspartner in Rep. I widerlegt.

Angesichts der obigen Ausführungen kann ich feststellen: Polemarchos’ Gerechtigkeitsauffassung ist exoterisch. Die Gerechtigkeit hängt nämlich nach Polemarchos davon ab, was für eine Beziehung das Individuum zu den anderen Menschen hat. Deswegen sind die Besonderheit und Allgemeinheit des Guten nicht vereinigt. Die Tugendhaftigkeit der Gerechtigkeit wurde zudem nicht beachtet, wie ich soeben erörtert habe.

Schütrumpf (2015:25f.: Hervorheb. S.N.) legt ebenfalls fest: ,,Sie [Gerechtigkeitsauffassungen von Kephalos und Polemarchos, S.N.] enthalten die Forderung, nach ein paar Regeln zu handeln, aber ignorieren jegliche ethische Dimension, die durch die Qualität der Seele des Handelnden determiniert ist.”

Auf das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Seele verweist Sokrates erstmals am Ende des ersten Buchs (353e 6). Warum aber ist dieses Verhältnis notwendig? Welche Rolle spielt es bei der Lösung des Abstraktionsproblems? Lässt sich das Abstraktionsproblem dadurch lösen oder führt es wiederum zu neuen Problemen?

Mit diesen Fragen werde ich mich in den folgenden Kapiteln befassen.

3 Sokrates’ Lösung für das Abstraktionsproblem: Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele

Nachdem Sokrates in der vortrefflichen Stadt die Gerechtigkeit gefunden hat, kündigt er seine Absicht an, deren Entsprechung in der Seele festzustellen und zu überprüfen, ob die Gerechtigkeit in beiden Fällen dieselbe ist. Wenn dies nicht der Fall wäre, wäre die Untersuchung erneut durchzuführen(434d–435a). Die Analogie zur Stadt dient deshalb v.a. dem Zweck, die Gerechtigkeit in der Seele zu finden. Eine Seele ist weise, wenn ihr vernünftiger Teil regiert, mutig, wenn ihr temperamentvoller Teil tapfer wirkt (441c-e) und besonnen, wenn die Regeln der Vernunft von den anderen Teilen akzeptiert werden (442c-d). Gerechtigkeit besteht laut Platon darin, dass jeder Teil der Seele die ihm angemessenen Aufgaben erfüllt (441d-e). Ihr Wesen ist die Einheit: Durch die Gerechtigkeit wird der Mensch ,,einer aus vielen‘‘ (443e). Wenn die Seele so beschaffen ist, wie Platon sie beschreibt, ist sie nur dann tugendhaft bzw. gesund, wenn die Herrschaft des vernünftigen Teils absolut ist. Nur der Mensch, der die gerechte Seele4 hat, handelt gerecht. Die Grundlage der Tugend besteht deswegen weder im Zurückgeben des Empfangenen (Kephalos) noch im Tun des Guten gegenüber Freunden oder darin, dass man Feinden Schaden zufügt (Polemarchos).

So beantwortet Sokrates Glaukons Frage, die da laute: Warum muss man, abgesehen von Folgen, gerecht sein? Worin besteht die Gerechtigkeit in der Seele?

Glaukons Frage bezieht sich allerdings auf die herkömmliche Gerechtigkeit, an die Kephalos glaubt und die nur in gerechten Handlungen besteht. Deshalb bettet Sokrates die herkömmliche Gerechtigkeit in sein eigenes Verständnis von Gerechtigkeit ein, um Glaukons und Adeimantos‘ Frage beantworten zu können, indem er den Schluss zieht, dass ein gerechter Mensch keine Handlung begehen würde, die üblicherweise für ungerecht gehalten wird (442e-443a). Hieraus ergibt sich, dass diejenigen Menschen, die normalerweise für gerecht gehalten werden, nicht notwendigerweise um das Wesen der Gerechtigkeit wissen sollen. Wenn sie wie Kephalos konventionell gerechte Handlungen durchführen, tun sie das weder aus Furcht noch um der guten Folgen willen, sondern, damit ihre Seele im platonischen Sinne des Wortes gerecht bleibt (Pappas 2013:110). Demgemäß könnte Kepahalos, ohne sich darüber begrifflich Rechenschaft zu geben, mit der guten Sinnesart des Menschen eigentlich die gerechte Seele meinen. In Hinblick auf Sokrates’ Lösung müsste das Abstraktionsproblem erkenntnistheoretischer Art sein. Sowohl Kephalos als auch Polemarchos wissen nicht, worüber sie sprechen, wenn sie über die Gerechtigkeit bzw. das Gerechte sprechen, weil ihnen das philosophische Denken vollkommen fremd ist. Sie können nicht philosophisch danach fragen, was das Gerechte ist und worin die Gerechtigkeit besteht: ,,Naturally, without the philosophical analysis we are doomed to misunderstand justice, and likely to deliberate about it in clumsy language.” (ebd.:125).

Deshalb ist Polemarchos’ Freund-Feind-Abstraktion für eine Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit nicht hilfreich. Ihm fehlt, wie seinem Vater, die Schulung in philosophischem Denken. Beide stellen bestenfalls ihre bloße Vorstellung von der Gerechtigkeit fest, ohne zu wissen, wie man danach fragen und suchen soll: ,,Die Erkenntnis selbst ist Erkenntnis des Erkennbaren selbst […], worauf die Erkenntnis sich bezieht; eine gewisse und irgendwie beschaffene Erkenntnis aber nur [die] eines gewissen und irgendwie beschaffenen Erkennbaren” (438c). Die Wohgeordnetheit der Seele als die innere Grundlegung der Tugend ist eine Folge des adäquaten Erkenntnisvorgangs, der sich dem Gegenstand, nämlich der Gerechtigkeit als menschlicher Tugend entspricht.

4 Ein Triumph oder ein Fehlschluss? – Eine Debatte über platonische Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele

Bisher wurde erörtert, was das Abstraktionsproblem und dessen Ursache sind und wie Sokrates es löst. Unter Gerechtigkeit versteht er die Wohlgeordnetheit der Seele, schon um dieser Wohlgeordnetheit willen sollte man gerecht sein, damit die Seele gesund bleibt. Am Ende des vierten Buchs leitet Sokrates aus seiner Untersuchung der menschlichen Seele ebendiese Schlussfolgerung ab (444b-445b), gegen die etliche Interpreten Einwände erhoben haben (vgl. Sachs 1963). In diesem Zusammenhang stellen sich nämlich folgende Fragen bezüglich der Gerechtigkeit als Wohlgeordnetheit der Seele:

i. Inwiefern unterscheidet sich die Gerechtigkeit, wie Sokrates sie in der Politeia definiert, vom üblichen Verständnis der Gerechtigkeit? Worin besteht das Verhältnis der gerechten Seele zur gerechten Handlung?
ii. Wenn die Gerechtigkeit die Wohlgeordnetheit der eigenen Seele ist, beschränkt sich die platonische Gerechtigkeit dann nicht ausschließlich auf das Esoterische? Beachtet der gerechte Mensch nach Platon überhaupt das Gute des anderen ?

Im Folgenden möchte ich mich mit zwei Interpreten befassen, die überzeugende Antworten auf obige Fragen zu geben versuchen. Es soll gezeigt werden, was an Sokrates’ Argumentation problematisch ist und wie die Interpreten jeweils dazu Stellung nehmen. Schließlich werde ich erörtern, welche Position aus meiner Sicht beweiskräftiger ist.

4.1 Gerechte Seele und gerechte Handlung

Pappas (ebd.: 138-142) geht davon aus, dass Sokrates Glaukons Frage im zweiten Buch nur dann durch die Entsprechung der Gerechtigkeit in der Seele überzeugend beantworten könnte, falls platonische Gerechtigkeit und die herkömmliche notwendigerweise miteinander verbunden wären, wovon bei Platon anscheinend überhaupt nicht die Rede ist. Nichtsdestoweniger vertritt Pappas die Ansicht, dass es etliche Beweise für das notwendige Verhältnis der platonischen Gerechtigkeit zur herkömmlichen in Rep.IV gibt, d.h. gerechte Handlungen, die üblicherweise das Glück des anderen zur Folge haben können, sind gute Indizien für eine gerechte Seele. Damit widerlegt er schließlich teilweise die Ansicht, die platonische Gerechtigkeit sei eine rein esoterische Tugend. Eine Widerlegung gelingt damit jedoch deshalb nicht vollkommen, weil Platon selber nie erörtert, wie gerechte Handlungen eine gerechte Seele zur Folge haben könnten. Im Folgenden beabsichtige ich, Pappas’ Argumentation detailgetreu zu rekonstruieren.

Platonische Gerechtigkeit ist die Wohlgeordnetheit der Seele (1). Wenn Sokrates beweisen kann, dass die wohlgeordnete Seele die glücklichste überhaupt ist (2), kann er schlussfolgern, die gerechte Seele sei die glücklichste überhaupt (3). Damit kann er Glaukons Frage überzeugend beantworten. (3) ist dennoch an sich nicht imstande, die Frage überzeugend zu beantworten, ob die Gerechtigkeit an sich und deren Entsprechung in der Seele den gerechten Menschen glücklicher machen als den ungerechten (4). Wir identifizieren die gerechten Menschen durch deren gerechte Handlungen5 (360b–362c). Glaukon fordert Sokrates auf, zu zeigen, dass diejenige Seele glücklich sei, die solche Handlungen verantwortet, die üblicherweise für gerecht gehalten werden (5). Er verweist also auf die herkömmliche Gerechtigkeit. Damit (3) die (5) begründen könnte, müsste es der Fall sein, dass die gerechte Seele die Seele dessen wäre, der meistens fähig ist, gerechte Handlungen zu begehen (6). Demnach wären gerechte Handlungen ihrerseits zuverlässige Symptome für gerechte Seele (7).

[...]


1 Einen Hinweis auf die Ursache dieses Problems im ethischen Zusammenhang findet man bei Kant (MST, 383, Hervorheb. i.O.): ,,Tugend ist aber auch nicht bloß als F e r t i g k e i t und […] für eine lange, durch Übung erworbene, G e w o h n h e i t moralisch-guter Handlungen zu erklären und zu würdigen. Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuteter Grundsätze ist, so ist sie, wie ein jeder andere Mechanismus aus technisch-praktischer Vernunft, weder auf alle Fälle gerüstet noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert.”

2 Mit Besonderheit meine ich, dass der Begriff des Guten auf den einzelnen Menschen beschränkt ist. Dementsprechend bezieht sich der Begriff der Glückseligkeit, die eine Folge von Gerechtigkeit sein könnte, nicht auf Glückseligkeit des anderen. Naturgemäß hat eine solche Gerechtigkeitsauffassung keine gesellschaftlichen und politischen Aspekte. Sie lässt sich nur auf den Individualbereich anwenden.

3 Mit Allgemeinheit meine ich, dass der Begriff des Guten nur über den Einzelnen hinaus Anwendung findet. Was gut ist, hängt nicht unbedingt mit dem Individualbereich zusammen. Demgemäß hängt die Glückseligkeit vorwiegend von gesellschaftlichen und politischen Strukturen ab.

4 Von dieser Stelle an meine ich mit gerechte Seele stets diejenige, die Sokrates für gerecht hält.

5 Von dieser Stelle an meine ich stets damit jene Handlungen, die üblicherweise für gerecht gehalten werden.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die Seele als Maßstab der Gerechtigkeit. Das Abstraktionsproblem und seine Lösung in "Politeia" Buch I, IV
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Proseminar Platons Politeia
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
14
Katalognummer
V1144687
ISBN (eBook)
9783346522849
ISBN (Buch)
9783346522856
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Staat, Platon, Gerechtigkeit, Seele
Arbeit zitieren
Mohammad Hassan Heshmatifar (Autor:in), 2021, Die Seele als Maßstab der Gerechtigkeit. Das Abstraktionsproblem und seine Lösung in "Politeia" Buch I, IV, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1144687

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