Im Zuge der Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts kam es u. a. auch zu gravierenden Veränderungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse. Sozioökonomische Prozesse veränderten beispielsweise die Arbeitsteilung und Ausbildung der Geschlechter, prägten Individualbestrebungen von Mann und Frau und führten sogar zur Veränderung von sozial-politischen Bewegungen (z. B. Frauen- und Männerbewegungen). Diese Veränderungen führten auch zur Transformation von Sexualität und Partnerschaft, die wiederum Konsequenzen für das gesellschaftliche Subjektverständnis nach sich zog.
Anthony Giddens - Wandel der Intimität
Im Zuge der Modernisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts kam es u. a. auch zu gravierenden Veränderungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse (vgl. Oechsle & Wetterau 2000, S. 19). Sozioökonomische Prozesse veränderten beispielsweise die Arbeitsteilung und Ausbildung der Geschlechter, prägten Individualbestrebungen von Mann und Frau und führten sogar zur Veränderung von sozial-politischen Bewegungen (z. B. Frauen- und Männerbewegungen) (vgl. Drinck 2005, S. 193). Diese Veränderungen führten auch zur Transformation von Sexualität und Partnerschaft, die wiederrum Konsequenzen für das gesellschaftliche Subjektverständnis nach sich zog (vgl. Burkart 2008, S. 4741).
Das Subjektverständnis veränderte sich: Der „ moderne “ Mensch wird seither als ein nach Individualisierung strebendes Subjekt angesehen, das in der Lage ist, sich von traditionellen Beziehungsnormen und gesellschaftlichen Vorgaben zu lösen (vgl. Giddens 1993, S. 200 f.). Anstelle von Beziehungsnormen, die auf traditionellen Geschlechterdifferenzen beruhen oder unreflektiert zur Anwendung kommen, treten in nachtraditionellen Gesellschaften (hier: Spätmoderne) selbstreflexive Entscheidungen in den Vordergrund (vgl. Bethmann 2010, S. 228). Institutionen, wie etwa lebenslange monogame Ehen, das Zusammenwohnen von Mann und Frau oder traditionelle Rollenbilder (z. B. Mann als Familienernährer, Frau als Mutter und Hausfrau) verloren hingegen ihre Verbindlichkeit (vgl. Bach 2006, S. 46). „Liebesbeziehungen seien damit zu Lebensstiloptionen geworden, die man wählen, wandeln, individuelle gestalten - und vor allem mit dem Partner oder Partnerin demokratisch aushandeln kann.“ (Bethmann 2010, S. 228). Moderne Liebesbeziehungen werden damit nicht mehr als feststehende starre Gebilde betrachtet, die normbestimmt sind, sondern als „ offene demokratische Projekte “ die flexibel, frei verhandelbar - und selbstbestimmt sind (vgl. Burkart 2008, S. 4742 f.). Innerhalb dieser Projekte können die Individuen ihre Intimität (z. B. Gefühle von Liebe, intensive persönliche Beziehungen oder Sexualität) selbstbestimmt und frei ausleben (vgl. Schadler & Villa 2016, S. 11). Giddens (1993, S. 203) bezeichnet diesen Umstand als Demokratisierung von Intimität. Die Intimität des Subjekts wird dabei durch die Idee der „ reinen Beziehung “ bestimmt (vgl. Lewandowski 2004, S. 32). Letztere wird als Idealtyp einer egalitären „ partnerschaftlichen Liebe “ angesehen, die keinem spezifischen Zweck dient, sondern lediglich ihrer selbst willen eingegangen und aufrechterhalten wird (vgl. Riedl 2018, S. 214). Im Idealtyp der reinen Beziehung, in der weder innere Zwänge (z. B. Familiengründung) noch äußere Zwänge (z. B. finanzielle Abhängigkeit) existieren, steht die Intimität offen zur Disposition, ebenso, wie andere Aspekte der Beziehung (z. B. Bedürfnisse, Wünsche) abgesprochen werden (vgl. Burkart 2008, S. 4742).
Die reine Beziehung ist bestimmt von zwei autonomen und gleichberechtigten Personen, unabhängig welchen Geschlechts, die willens aber auch in der Lage sind, sich kommunikativ gegenüber dem/der Partner/-in zu öffnen (vgl. im Folgenden Lenz, Dreßler & Scholz 2013, S. 36). In der reinen Beziehung rücken die sexuelle Erfülltheit sowie die eigene Selbstverwirklichung des Einzelnen in den Mittelpunkt. Dadurch wird der Fokus von der anderen Person abgewendet und auf das eigene Selbst gerichtet, wobei aber gleichzeitig die andere Person in ihrer Individualität respektiert wird. Dies erfordert von den Beteiligten eine hohe Reflexivität: Persönliche Wünsche und Bedürfnisse müssen ständig mit- und gegeneinander abgeglichen werden, ihre Umsetzung - und damit der persönliche Nutzen der Beziehung - unterliegen also einer ständigen Kontrolle. Ist ein solcher Nutzen für eine Person nicht mehr gegeben, darf diese die Beziehung beenden (vgl. Giddens 1993, S. 97). Dies unterscheidet die reine Beziehung von der romantischen Beziehung bzw. Liebe: „In der romantischen Liebe steht die Besonderheit der geliebten Person im Mittelpunkt. Deswegen gehört es zur Liebe, um dieser Person willen auch Opfer zu bringen oder an einer unglücklichen Beziehung, um der Liebe willen festzuhalten.“ (Bethmann 2010, S. 228 f.).
Die von Gidden vertretene Theorie von der „ reinen Beziehung “, die auf der partnerschaftlichen Liebe (hier: „ confluent love “) fußt und die romantische Liebe als unrealistisches Ideal verwirft, wird in der deutschen Soziologie durch andere Thesen erhärtet (vgl. Lenz & Scholz 2014, S. 102 f.). Dazu gehören u. a. Luhmanns These vom „ Niedergang der romantischen Liebe “ (vgl. Luhmann 1982) sowie Cancians These von „ androgynous love “ (vgl. Cancian 1987, S. 30). Letztere These basiert auf der Forschungsarbeit von Francesca M. Cancian (1987): „ Love in America “, in der insbesondere von einer Entstehung einer neuen (partnerschaftlichen) Liebessemantik in modernen Gesellschaften gesprochen wird. Alle diese Thesen haben allerdings eines gemeinsam: Sie sind nicht das Ergebnis empirischer Studien, sondern vielmehr das Ergebnis von Überlegungen, die aus unterschiedlichen Theoriekontexten abgeleitet worden sind (vgl. Lenz & Scholz 2014, S. 103). Gleichwohl fehlt es bisher an empirischen Studien, die die Gültigkeit dieser Aussagen untersucht haben. Das Fehlen solcher Studien stellt zwar kein Argument gegen die Validität dieser Überlegungen dar, es ermöglicht aber konträre Annahmen aufzustellen. Morikawa (2014, S. 15), um ein Beispiel zu nennen, vertritt konträr zu Giddens die Meinung, dass sich die romantische und partnerschaftliche Liebe in modernen Gesellschaften eben nicht voneinander unterscheiden, weil in der romantischen Liebe alle zentralen Bestimmungen der partnerschaftlichen Liebe enthalten sind. Für Giddens (1993, S. 203 ff.) kann die romantische Liebe kein Fundament für eine stabile Beziehung sein, da sie (1) heterosexuell ist und ausschließlich der Fortpflanzung dient, (2) stets finanzielle Sicherheit und materielle Behaglichkeit mit ehelicher Liebe verbindet und (3) mehr eine spirituelle als eine sexuelle und sinnliche Liebe darstellt. Morikawa (2014, S. 15) weist Giddens Argumente als nicht stichhaltig und haltbar zurück: So stellt er mit Blick auf das erste Argument fest, dass die Elternschaft nicht immer mit der Fortpflanzung einhergehen muss, da gerade in modernen Gesellschaften (wie z. B. in Deutschland) das gegenwärtige Recht von gleichgeschlechtlichen Paaren auf Kindesadoption belegt, dass die Elternschaft keine Heterosexualität impliziert. Auch erscheint es - mit Blick auf das zweite Argument - unmöglich, aus der Idee der romantischen Liebe eine finanzielle Sicherheit und materielle Behaglichkeit im Eheleben abzuleiten (vgl. Morikawa 2014, S. 15). Es lässt sich in diesem Kontext lediglich konstatieren, dass die Heiratspraktiken der damaligen Zeit nicht ganz von finanziellen bzw. materiellen Überlegungen entkoppelt waren (vgl. Mo- rikawa 2014, S. 15). Gegen das dritte Argument führt Morikawa (2014, S. 15) an, dass die Einbettung der Sexualität in die Liebessemantik und die Auflösung des alten Kontrastes von spiritueller und sinnlicher Liebe gerade in der (Früh-)Romantik ihren Ursprung finden (vgl. z. B. Lenz & Scholz 2014, S. 98 f.)
Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass das von Giddens konzipierte Modell der „ reinen Beziehung “ als neue Liebesmantik seinen Ausdruck in heutigen modernen Gesellschaften findet (vgl. Giddens 1993, S. 211). Sein Modell baut konsequent auf den Begriff eines autonomen Subjekts auf, das sich selbst und seine Liebesbeziehungen reflektiert und frei in seinen Entscheidungen ist (vgl. Bethmann 2010, S. 25). Zentrales Ziel des Modells ist eine umfassende Demokratisierung des Persönlichen zur Verwirklichung individueller Emanzipation (vgl. Rüling 2007, S. 33). Das Ideal der „ romantischen Liebe “ hingegen wird in Giddens projektiven Überlegungen als unrealistisch verworfen und durch die partnerschaftliche Liebe ersetzt (vgl. Giddens 1993, S. 205 f.). An dieser Stelle konnte allerdings aufgezeigt werden, dass die romantische Liebe als Bestandteil von Paarbeziehungen keineswegs aus der modernen Gesellschaft verschwunden ist, sondern neben der partnerschaftlichen Liebe fortbesteht (vgl. Lenz & Scholz 2014, S. 111 f.). Die romantische Liebe bezieht sich immer auch und teilweise sogar speziell auf die Beziehungsanfänge, während die Partnerschaft als Liebesideal vielmehr im Laufe der Fortdauer der Beziehung zum Vorschein kommt (vgl. Lenz 2003, S. 42). Daraus lässt sich ableiten, dass die Partnerschaft weder ausreicht, um eine Paarbeziehung in Gang zu bringen (z. B. zur Partnerwahl zu motivieren), noch um sie aufrechtzuerhalten und ihr Dauerhaftigkeit zu verleihen (vgl. Leupold 1983, S. 323 ff.). Die Konsequenz daraus führt zur Einsicht, dass die „ Liebe “ eine unabdingbare Voraussetzung für den Bestand einer Paarbeziehung ist (vgl. Burkart 2018, S. 220).
Literaturverzeichnis
Bach, S. (2006). Theatralität und Authentizität zwischen Viktorianismus und Moderne. Romane von Henry James, Thomas Hardy, Oscar Wilde und Wilkie Collins. Tübingen: Gunter Narr.
Bethmann, S. (2010). Liebe Revisited - Romantisierte Ungleichheit oder egalitäre Partnerschaft? Freiburger GeschlechterStudien, 24, 223-239.
Burkart, G. (2008). Subjekt und Sexualität bei Giddens und Foucault. In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 (S. 4737-4746) . Frankfurt am Main: Campus.
Burkart, G. (2018). Soziologie der Paarbeziehungen. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer.
Cancian, F. M. (1987). Love in America: Gender and Self-Development. Cambridge: University Press.
Drinck, B. (2005). Vatertheorien. Geschichte und Perspektive. Opladen: Barbara Budrich.
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Lenz, K.; Dreßler, S. & Scholz, S. (2013). Paar und Elter(n)-Kind-Liebe in der soziologischen Diskussion. In S. Scholz, K. Lenz & S. Dreßler (Hrsg.), In Liebe verbunden. Zweierbeziehungen und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute (S. 11-48) . Wiesbaden: Springer.
Lenz, K. & Scholz, S. (2014). Romantische Liebessemantik im Wandel? In A. Steinbach, M. Hennig & O. A. Becker (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenshaft (S. 93-116) . Wiesbaden: Springer.
Leupold, A. (1983). Liebe und Partnerschaft. Formen der Codierung von Ehen. Zeitschrift für Soziologie, 12, 297-327.
Lewandowski, S. (2004). Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld: Transcript.
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- Anonymous,, 2021, Anthony Giddens – Wandel der Intimität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1144704