Der EU-Beitrittsprozess Nordmazedoniens


Examensarbeit, 2020

73 Seiten, Note: 1,66


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Rahmen - Europäische Integrationstheorien
2.1 Klassische Integrationstheorien
2.2 Ansatz der differenzierten Integration
2.3 EU-Osterweiterung
2.3.1 Vertragliche und politische Grundlagen
2.3.2 Die EU nach der Osterweiterung

3. Beitrittskandidat Nordmazedonien
3.1 Transformation seit 1991
3.2 Bevölkerungsdaten
3.2.1 Ethnische Zusammensetzung
3.2.2 Das Bildungssystem
3.3 Ökonomische Indikatoren
3.3.1 Staatsfinanzen und Bruttoinlandsprodukt
3.3.2 Einkommen der Bevölkerung
3.3.3 Arbeitslosigkeit und Emigration

4. Beitrittsprozess zur Europäischen Union
4.1 Voraussetzungen für den EU-Beitritt
4.1.1 Beitrittskriterien zur Europäischen Union
4.1.2 Die EU und der Westbalkan
4.2 Verlauf der Verhandlungen
4.3 Fortschritte unter der Regierung der Sozialdemokraten
4.4 Erfüllung politischer Kriterien
4.5 Erfüllung wirtschaftlicher Kriterien und Wachstumspotential

5. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die Republik Nordmazedonien1 besitzt bereits seit dem Jahr 2005 den offiziel­len Bewerberstatus für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union (EU). Dabei dauerte es ganze elf Jahre, in welchen die Europäische Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen immer wieder empfahl, der Europäische Rat sich jedoch nicht auf die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen einigen konnte. Erst im März 2020 wurde dann relativ überraschend verkündet, dass den Verhandlungen nun der Weg freigegeben werde (vgl. Europäischer Rat 2020). Dabei war es doch gerade das kleine Land Nordmazedonien(NM), wel­ches bereits im Jahr 2001 als erster Balkanstaat ein Stabilisierungs- und Asso­ziierungsabkommen (SAA) mit der EU verabschiedete (vgl. Europäischer Rat 2001). Nachdem das Land daraufhin im Jahr 2004 den Antrag zum EU-Beitritt einreichte, führten sowohl innenpolitische Herausforderungen als auch außen­politische Konflikte immer wieder dazu, dass der Beitrittsprozess gebremst wurde. Bisheutegilt die Republik Nordmazedonien als ein junger Staat, welcher durchaus noch auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist (vgl. Daskalovski 2019; Ceka 2018). Trotz der langsamen Fortschritte im EU-Beitrittsprozess ist die Entwicklung des Landes selbst äußerst dynamisch. So war die Republik Nordmazedonien bis zum Jahr 1991 Teil der sozialistischen Republik Jugosla­wien. Als einzige Teilrepublik gelang es ihr, ihre Unabhängigkeit im am 8. Sep­tember 1991 nach einem Referendum friedlich zu erklären (vgl. Calic 2014). Auch wenn dies als wirtschaftlich schwacher Staat und aufgrund verschiedener politischer Dispute durchaus konfliktgefährdet (vgl. Pettifer 2001). Als vorrangi­ges Ziel der neuen politischen Arbeit in der Republik NM sollte bereits früh der Beitritt zur Europäischen Union benannt werden, obwohl diplomatische Bezie­hungen tatsächlich erst später einsetzen werden2.

Mitte der 1990er Jahre waren es zunächst die nachbarschaftlichen Beziehun­gen, die das Land wirtschaftlich stark belasteten. So fallen einerseits in Richtung Norden die Handelsbeziehungen zu Serbien aufgrund des Krieges weg, andererseits beendet auch der südliche Nachbar Griechenland die wirt­schaftliche Zusammenarbeit, da er den konstitutionellen Namen der Republik Mazedonien nicht anerkennt (vgl. Dobrkovic 2001; Drezov 2001). Griechenland postuliert die namentliche Bezeichnung Republika Makedonija als historisch falsch, da ein Großteil des antiken Makedoniens in Griechenland läge. Aus Angst davor, dass Mazedonien bei einem EU-Beitritt Ansprüche auf dieses Ge­biet erheben würde, solle das Land seinen Namen ändern. Erst im Jahr 2018 finden die beiden Streitparteien einen Kompromiss, welcher zur Namensände­rung der Republik Mazedonien in Republik Nordmazedonien führt (vgl. Chryssogelos & Stavreska 2019).

Als frühe, innenpolitische Herausforderung zählte der zunehmende ethnische Konflikt zwischen der in Nordmazedonien albanischen3 und mazedonischen Bevölkerung. Dieser erreichte jedoch erst im Jahr 2001 seinen Höhepunkt, als ein drohender Bürgerkrieg nur durch die Hilfe von UN- und EU-Botschaftern gerade noch einmal durch das Ohrid-Abkommen verhindert werden konnte. Durch dieses Abkommen wurde der albanischen Minderheit mehr Rechte zu­gesprochen und der Frieden in Nordmazedonien vorerst gesichert (vgl. Vankovska 2007).

Für die Republik Nordmazedonien bedeutet ein möglicher Beitritt zur EU das Erreichen politischer, vorrangig jedoch auch wirtschaftlicher Stabilität. So zeigte sich bereits in der Vergangenheit, dass das Wirtschaftswachstum und Handels­volumen durch bereits erlangte Zusammenarbeit gestärkt wurde und noch wei­teres Potential besitzt (vgl. Schrader & Laaser 2019). Dennoch steht die Re­publik auch weiterhin vor Herausforderungen, in verschiedensten Bereichen. So liegt, wie auch in den Nachbarstaaten, bis heute ein hohes Maß an Korrup­tion vor. Die politischen Parteien sind nicht nur in ihrer politischen Orientierung gestreut, auch sind sie sich oft intern und somit in ihren eigenen Programmen uneinig. Nationalistische Parteien profitieren häufig von den Krisen des Landes und das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Ethnien wird dadurch immer wieder auf die Probe gestellt. Der mögliche EU-Beitritt, der seit nunmehr als 15 Jahren von der Regierung versprochen wird, in welchem bis dato jedoch kaum für die Bevölkerung greifbare Fortschritte erzielt wurden, verstärkt das wachsende Misstrauen gegenüber der Politik. Dabei könnte es gerade dieser sein, der die Demokratisierungsprozesse auch zukünftig fördert (vgl. Peshkopia 2014). Die Europäische Unionwirkt dem Misstrauen der mazedonischen Bevöl­kerung, aber auch dem aufkommenden Misstrauen der Politikerinnen und Poli­tiker selbst, mit neuen Initiativen entgegen. Beispiele hierfür sind die Einrichtung des High Level Accession Dialogue im Jahr 2012, oder die verabschiedete Westbalkanstrategie 2018. Dabei soll gesagt sein, dass es in der Forschung durchaus umstritten ist, ob diese Strategien der Republik Nordmazedonien tat­sächlich auf ihrem Weg in die EU helfen oder ob sie ihr dadurch nur mehr zu erfüllende Bedingungen und Hürden auferlegen (vgl. Karadjoski 2015; Reljic & Bonomi 2017).

Nach der jüngsten innenpolitischen Krise in den Jahren 2015/2016 und einer langen Phase der Stagnation des Beitrittsprozess schaffte es die neue Regie­rung der Sozialdemokraten, gemeinsam mit ethnisch-albanischen Parteien, un­ter Premierminister Zoran Zaev, neuen Schwung in diesen Prozess zu bringen. So wurden in den Jahren 2017 bis 2019 Reformen zur EU-Annäherung konse­quenter verfolgt, nachbarschaftliche und regionale Beziehungen gestärkt, und sogar der Namensstreit mit Griechenland konnte durch das historische Prespa- Abkommen (möglicherweise) gelöst werden (vgl. Schwarz 2019). Gleichzeitig wächst jedoch die Skepsis gegenüber der Europäischen Union seit Jahren im­mer weiter an, wobei sich diese Antieuropa-Haltung durch alle Alters- und Ge­sellschaftsgruppen zieht (Miltojevic 2019; Dzihic/ Akbulut/Günay 2018). Zaev's fortschrittlich wirkende Politik wird von der Bevölkerung nicht unbedingt positiv angenommen. Er kündigte daher im Dezember 2019 seinen Rücktritt an, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen (vgl. SDK 2020). Aufgrund der weltwei­ten Corona-Krise finden diese jedoch nicht wie geplant im April 2020 statt. Wäh­rend der anhaltenden Pandemie wird die Republik Nordmazedonien trotzdem noch im März 2020 Mitglied der NATO und die Aufnahme von Beitrittsverhand­lungen zur Europäischen Union wird nach 15 Jahren im selben Monat durch den Europäischen Rat bestätigt (vgl. Europäischer Rat 2020). Wurde zunächst prognostiziert, dass gerade die nationalkonservative Partei VRMO-DPMNE bei Neuwahlen wieder an Stimmen gewinnen könne, bleibt nun abzuwarten, wel- cheAuswirkungen der Beginn der Beitrittsverhandlungen haben wird und ob die Sozialdemokraten nun wieder Glaubwürdigkeit erlangen können.

Um den aktuellen Forschungsstand zur Republik Nordmazedonien und der EU- Erweiterung darlegen zu können, erfolgt eine Unterteilung in verschiedene Teil­bereiche.

Ein allumfassendes Werk zu dem mazedonischen EU-Beitrittsprozess gibt es bis dato nicht. Forscherinnen und Forscher untersuchen in ihren Studien zu­meist nur einzelne Teilbereiche, wie beispielsweise die Integrationsfähigkeit an­hand wirtschaftlicher oder sozialer Faktoren oder durch Vergleiche zwischen EU-Beitrittsstaaten untereinander. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf Be­richte der Europäischen Kommission sowie Schlussfolgerungen des Europäi­schen Rates. Weiterhinauf Daten der mazedonischen Regierung, den verschie­denen Ministerien und des Statistischen Amtes Nordmazedoniens. Anzumer­ken ist jedoch, dass dies unter einer durchaus kritischen Begutachtung erfolgt. Schließlich erschloss sich aus der Recherche, dass Zahlen innerhalb der Be­richte und Erfassungen häufig sehr unterschiedlich interpretiert werden. Es wirkt, als werde die gegenwärtige politische und soziale Situation in Nordmaze­donien verschönert, explizite Beispiele hierfür werden vor allem in Kapitel 3 be­nannt. Grundsätzlich steht der EU-Beitrittsprozess Nordmazedoniens unter dem Schirm der Westbalkanstrategie, basierend auf dem Versprechen von Thessaloniki des Jahres 2003, welches denjenigen Staaten, die im Rahmen der Osterweiterung noch nicht der Europäischen Union beitreten konnten, trotzdem eine EU-Beitrittsperspektive garantiert (vgl. Europäischer Rat 2003; 2018).

Zur Einführung und Darstellung der EU-Erweiterung und verschiedener Integ­rationstheorien erweist sich das Werk Ingeborg Tömmels (2014) über das poli­tische System der EU als durchaus hilfreich. Neben den klassischen Integrati­onstheorien des Neofunktionalismus (Haas 1958), dem (liberalen) Intergouver- nementalismus (Moravscsik 1998), werden hierin auch Neuinterpretationen der Theorien sowie Alternativen vorgestellt (Burley & Mattli 1993; Cowles 1995; Checkel 1999). Einen weiteren Ansatz bildet auch die differenzierte Integration ab, welche vor allem im Rahmen der EU-Osterweiterung thematisiert wird. Da­bei ist das Europa verschiedener Geschwindigkeiten keineswegs ein völlig neues politisches Feld. So lodert die Debatte um die gestufte Integration bereits in den 1970er und 1980er Jahren auf, als Tindermann (1975) erkennt, dass Stagnationsphasen der Europäischen Integration durch die Anwendung von dif­ferenzierten Integrationsstrategien gelöst werden können. Dies stützt sich auch auf die Aussagen Willy Brandts (1974), welcher wirtschaftliche Differenzierun­gen im Rahmen des Integrationsprozesses der EG vorschlägt. Hans Eckart Scharrer (1977) hingegen kritisiert diesen Ansatz und wird von vielen Politikern in der Meinung unterstützt, dass schwächere Staaten durch die gestufte In­tegration möglicherweise abgehängt werden. Anja Riedeberger (2015) analy­siert in ihrer Dissertation Die EU zwischen einheitlicher und differenzierter Integration zudem die soziologische Bedeutung einer gestuften europäischen Integration und zeigt hierbei, dass es, trotz Kritik, bereits in der Vergangenheit gestufte Integration in einzelnen Politbereichen gab und die Europäische In­tegration somit keineswegs als einheitlicher Prozess zu bewerten sei. Zu nen­nen sind an dieser Stelle auch die Jahrbücher der Europäischen Integration, herausgegeben von Wolfgang Wessels und Werner Weidenfeld. Das jährlich erscheinende Sammelwerk fasst die EU-Integration zusammen und stützt sich hierbei auf aktuelle Literatur und Fortschrittsberichte. Mit der Integration der Westbalkanstaaten in die EU setzt sich vor allem der Politikwissenschaftler Vedran Dzihic auseinander. Dabei behandelt dieser die Europavorstellungen und die Rolle der EU in den Demokratisierungsprozessen der ehemals kommu­nistischen Staaten (2012; 2013; 2015; 2018). Auch Theresia Töglhofer beschäf­tigt sich mit der Annäherung zwischen der EU und dem Westbalkan. Für sie gibt es, ebenso wie für Dzihic, keine Alternative zu einem EU-Beitritt der Westbal­kanstaaten und sie fordert dazu auf, im Rahmen der EU-Erweiterung keine Zeit zu verlieren (2011; 2012; 2019). Neutral und umfassend stellt zudem der inter­national bekannte Politikwissenschaftler Dusan Reljic die EU-Erweiterungspoli­tik im Westbalkan dar, wobei er sowohl die Herausforderungen der einzelnen Beitrittsstaaten, gleichzeitig aber auch die aktuellen Krisen der EU selbst in sei­nen Arbeiten aufgreift (2013; 2017).

Bezogen auf die Republik Nordmazedonien sind es fortführend folgende Wis­senschaftler, die sich mit der Bedeutung der EU-Erweiterung auseinanderset­zen. Simonida Kacarska, Direktorin des europäisch politischen Institutes in der mazedonischen Hauptstadt Skopje, gibt in ihren Publikationen vor allem Ein­blick in die soziale Situation des Landes und den Umgang mit Minderheiten und die Repräsentation dieser in der Parteienlandschaft (2013; 2014). In neueren Aufsätzen behandelt sie weiterhin auch den bisherigen Beitrittsprozess zur EU und stellt Chancen des Landes vor (vgl. Kacarska 2019). Ebenso beschäftigt sich Dane Taleski (2016) mit der Parteienlandschaft und der politischen Unei­nigkeit des Landes, welche immer wieder zu Unruhen führte. Die ökonomische Lage und wirtschaftlichen Herausforderungen Nordmazedoniens fassen unter anderem Lazarov und Slavevski (2019) in ihren Werken zusammen. Sie stützen sich dabei vor allem auch auf die Daten der world bank data und des Statisti­schen Amtes der Republik Nordmazedonien.

Das Ziel der vorliegenden Ausarbeitung ist es, der Frage nachzugehen, wie der bisherige EU-Beitrittsprozess der Republik Nordmazedonien zu erfassen ist und welchen Herausforderungen der junge Staat dabei ausgesetzt wird. Metho­disch erfolgt die Beantwortung der Fragestellung durch qualitative als auch quantitative Forschungsschritte. So basiert die Recherchearbeit einerseits auf der Durchsicht von bereits genannter sowie weiterer Forschungsliteratur, ande­rerseits auf der Analyse und Auswertung von Berichten und Prognosen offiziel­ler Institutionen. Hierbei gliedert sich die Arbeit wie folgt. Kapitel 2 umrahmt die Ausarbeitung zunächst theoretisch. Es gibt einen Überblick über die klassi­schen Integrationstheorien der Europäischen Union und stellt den Ansatz der differenzierten Integration vor. Dies erfolgt zur thematischen Einordnung des Beitrittsprozesses Nordmazedoniens. Anhand der Theorien kann überprüft wer­den, wie und ob sich ein möglicher EU-Beitritt der Republik NM von bisherigen Erweiterungen unterscheidet. Dazu wird auch die EU-Osterweiterung skizziert, da die aktuelle Westbalkanstrategie auf den Erfahrungen dieser basiert. In Ka­pitel 3 wird der Beitrittskandidat Nordmazedonien vorgestellt. Dazu ist es not­wendig, die Transformationsgeschichte (Kapitel 3.1) aufzuzeigen. Schließlich erklärt die Republik erst im Jahr 1991 ihre Unabhängigkeit vom kommunisti­schen Staat Jugoslawien. Die Annäherung an die EU kann somit nur dann be­urteilt und erfasst werden, wenn die Prämissen geklärt sind. In Kapitel 3.2 wer­den grundlegende Daten zur Bevölkerung dargestellt. Aufgrund des Faktums, dass etwa 1/3 der Gesamtbevölkerung in Nordmazedonien einer Minderheits­gruppe angehören, ist es notwendig die ethnische Zusammensetzung genauer zu betrachten. Hieraus erschließen sich anknüpfend Schlussfolgerungen über das politische System und die Charakteristika des Landes. Auch sollen der Bil­dungsstand sowie die Bildungsmöglichkeiten aufgegriffen werden. Ökonomi­sche Indikatoren, mithilfe dererder wirtschaftliche status quo Nordmazedoniens bestimmt wird, werden in Kapitel 3.3 thematisiert. So werden zunächst die Staatsfinanzen und das Bruttoinlandsprodukt vorgestellt (Kapitel 3.3.1), dann das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung und die damit verbundene Lebensqualität präsentiert (Kapitel 3.3.2)sowie daran anschließend die Arbeits­losenquote und die daraus resultierenden Folgen, wie die Wirtschaftsemigra­tion, dargelegt (Kapitel 3.3.3). Der bisherige Beitrittsprozess wird schließlich in Kapitel 4 erfasst und analysiert. Dabei werden in Kapitel 4.1 die allgemeinen Beitrittskriterien, basierend auf dem Europavertrag sowie den Kopenhagener Kriterien, vorgestellt. Kapitel 4.2 fasst den Verlauf bisheriger Verhandlungen zwischen der Republik Nordmazedonien und der Europäischen Union bis zum Einsetzen der politischen Krise 2015/2016 zusammen und gibt einen Überblick über bis dahin erreichte Fortschritte. Fortschritte und Reformbemühungen nach der politischen Krise und dem Regimewechsel werden in Kapitel 4.3 vorgestellt. In Kapitel 4.4 erfolgt eine Überprüfung der bisherigen Reformen und die Beur­teilung, ob und welche politischen Kriterien für einen möglichen EU-Beitritt die Republik Nordmazedonien bereits erfüllt. Kapitel 4.5 konzentriert sich hierbei auf die wirtschaftlichen Kriterien. Die Schlussfolgerung (Kapitel 5) mit Ausblick und anknüpfender Fragestellung schließt die Ausarbeitung ab.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit gilt es, einen Überblick über den bisherigen EU-Beitrittsprozess der Republik Nordmazedonien zu geben sowie bisherige Herausforderungen im Rahmen dessen darzulegen. Auf Alternativen zu einem EU-Beitritt wird in dieser Arbeit nicht eingegangen, wenn auch anzumerken ist, dass gerade aufgrund der wachsenden Dominanz von Russland und China auf dem Westbalkan die EU zur handelnden Reaktion aufgefordert wird4 (vgl. Gus- beth 2018).

2. Theoretischer Rahmen - Europäische Integrationstheorien

In den letzten sechs Jahrzehnten hat sich die heutige Europäische Union (EU) nicht nur durch verschiedene Erweiterungsrunden fast um ihr Fünffaches ver­größert und wurde somit auch in ihrer weltweiten Repräsentation gestärkt, auch lassen sich innerhalb dieser Gemeinschaft völlig neue Organisationsstrukturen erkennen. So liegt im Sinne der klassischen Integrationstheorie, ein Wechsel­spiel zwischen zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Akteuren vor, wobei die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer eigenen Souveränität an supranationalen Institutionen abgeben und im Gegenzug die Regierungen der Mitgliedstaaten wiederum versuchen, ihre eigene Souveränität immer wieder zu schützen. In den Bereichen des Binnenmarktes, der Handelspolitik und der Währungspolitik hat es sich hierbei zumeist bewährt, dass Staaten gemeinsam agieren, um ihren Wirtschaftsmarkt zu vergrößern und zu stärken. Auch der Vorrang von europä­ischen Regeln und Gesetzen vor dem nationalen Recht stärkt die Europäische Union. Dies vor allem auch im globalen Wettbewerb mit Großmächten, wie bei­spielsweise den USA, China oder Russland (Schimmelfennig 2015: 289f.). Da­bei ist die EU nicht vergleichbar mit einem klassischen Staat und auch nicht alle Länder Europas sind automatisch auch Teil der Union. Dennoch zeigt sich, dass seit Beginn europäischer Kooperationen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 19515 sowie der Europäischen Wirtschafts- (EWG) und Atomgemeinschaft (EAG) - trotz Stagnationsphasen der Erweiterung - immer mehr Staaten Teil der Ge­meinschaft wurden. Es zeichnet sich ein europäischer Integrationsprozess ab, bei welchem sich vor allem zwei verschiedene Leitbilder der Integration erken­nen lassen, der „Staatenbund“ und der „Bundesstaat“. Die EU kann dabei je­doch weder in das eine noch in das andere Leitbild eingeordnet werden und bildet vielmehr eine Organisation sui generis, die als eben solche gefasst wer­den muss (Weidenfeld 2015: 21). In den folgenden zwei Subkapiteln wird der bisherige Verlauf der europäischen Integrationsprozesse mithilfe zweier klassi­scher Integrationstheorien (Neofunktionalismus, Intergouvernementalismus) sowie ihren jeweiligen Grenzen erläutert, auch Neuinterpretationen dieser The­orien werden benannt. Darüber hinaus wird mit der differenzierten Integration ein weiterer Ansatz vorgestellt, der insbesondere im Rahmen der Westbalkan­Strategie häufig thematisiert wird. Anhand dieser Ansätze soll der Fall Nordma­zedonien im Verlauf der vorliegenden Arbeit erfasst und analysiert werden.

2.1 Klassische Integrationstheorien

Zu einem Modell der klassischen Integrationstheorien gehört der Neofunktiona­lismus, eine fortgeführte Version des Funktionalismus, der in den 1960er Jah­ren vor allem durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Ernst B. Haas bekannt wurde. Dabei definiert Haas die politische Integration als einen Pro­zess, in welchem die politischen Akteure einer nationalen Organisation ihre Lo­yalität, Erwartungen und politischen Aktivitäten an ein neu entstandenes, sup­ranationales Zentrum abgeben. Das Leitkonzept dieser Integration bildet der „ spill-over “-Effekt. Dies bedeutet, dass ein funktionierender Integrationsprozess in einem Teilbereich weitere Integrationsschritte in anderen Teilbereichen aus­löst (vgl. Haas 1958). Angewendet auf die Europäische Union bedeutet dies, dass aufgrund der Umlegung verschiedener politischer Aufgaben von souverä­nen Staaten auf die supranationale Organisation, diese das neue Zentrum der politischen Steuerung darstellt. Als Abschluss dieser Entwicklungen stellt sich für Haas die Möglichkeit einer „ new political community, super-imposed over the pre-exisiting ones” (Haas 1956:16). An dieser Stelle sei anzumerken, dass der Neo-Funktionalismus damit vor allem die frühen Integrationsschritte im Rah­men der Gründung der EGKS und der EWG zu erklären versucht. Hingegen lassen sich durch den Neo-Funktionalismus frühere und aktuelle Stagnationsphasen der europäischen Integration nicht erklären, wodurch die Theorie im heutigen Kontext kaum noch angewendet werden kann (vgl. Tömmel 2014, Sandholtz und Zysman 1989).

Allerdings lässt sich erkennen, dass sich viele Neuinterpretationen des Neo­Funktionalismus vor allem ein wesentliches Merkmal der Theorie teilen. So sind Vertreter dieser Theorie der Meinung, dass es nicht die nationalen Regierungen seien, die als Antrieb für Integrationsprozesse sorgen, sondern die supranatio­nalen Organisationen. Burley und Mattli (1993) betonen in ihrer Studie die Be­deutung supranationaler Akteureim Europäischen Integrationsprozess, wobei ihr explizites Beispiel der Europäische Gerichtshof ist. Sie stellen unter anderem fest, dass sich im Laufe der Jahre der „ spill-over“ von gemeinsamen, ökonomi­schen Gesetzen und Regelungen der EU-Mitgliedstaaten zu weiteren Politikbe­reichen vollzogen hat.

Auch Maria Green Cowles (1995) sieht in ihren Studien über die Europäische Gemeinschaft insbesondere die nicht-nationalstaatlichen Akteure als die trei­benden Kräfte der europäischen Integration an. Dabei erkennt Cowles jedoch gleichzeitig das wechselnde Spiel zwischen den nationalen und supranationa­len Organisationen und führt diese Erkenntnisse zu einem weiterführenden An­satz zusammen, dem dialectical functionalism. Dieser unterteilt die Integrations­schritte in verschiedene Phasen. Zuerst beginnt die Bemühung um die Integra­tion eines politischen Bereiches. Einzelne Staaten wollen sich hierbei ihre ei­gene Souveränität sichern und stoppen damit anknüpfende Integrationsschritte. Diese Stagnationsphase wirkt sich jedoch wiederum negativ auf den politischen Teilbereich aus und neue Integrationsschritte werden ausgedacht. Da kein Mit­gliedstaat Benachteiligungen erfahren möchte, wenn er diesen Integrations­schritt nicht mitgeht, stimmt er schlussendlich zu (vgl. Cowles 1995). Cowles‘ Ansatz beinhaltet dabei Parallelen zum Neofunktionalismus und gleichzeitig zu der Theorie des Intergouvernementalismus, seinem Gegenspieler.

Vertreter des Intergouvernementalismus sind der Ansicht, dass es vor allem die nationalen Regierungen sind, die Integrationsschritte vorantreiben. Sie sehen die Integrationsbemühungen einzelner Staaten vor allem dadurch begründet, dass durch die Integration Vorteile gesichert werden und Nachteilen vorgebeugt wird (vgl. Hoffmann 1966, Keohane und Hoffmann 1991). Mit Blick auf die Eu­ropäische Union würde dies bedeuten, dass zwischenstaatliche Kooperationen dann zustande kommen, wenn den interessengeleiteten Akteuren durch eine zwischenstaatliche Kooperation entweder ein neuer Vorteil entsteht oder durch die Ablehnung der Kooperationen Nachteile folgen könnten. Der intergouverne- mentale Ansatz lässt sich hierbei besonders gut auf das Scheitern verschiede­ner Integrationsbemühungen und vor allem auch auf die Stagnationsphasen in der Europäischen Integration anwenden, jedoch „ bietet er [der Intergouverne- mentalismus] kaum Möglichkeiten, die offensichtliche Eigendynamik der Syste­mentwicklung der EU oder die Bedeutung der supranationalen Akteure [.] zu erfassen.“ (vgl. Tömmel 2014: 12).

Diese Negierung der Bedeutung der supranationalen Akteure wird auch dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Andrew Moravscik und seiner wei­tergeführten Theorie des liberal intergouvernementalism vorgeworfen. Morav- scik stellt in seiner dazugehörigen Studie zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) insbesondere die dominante Rolle der Mitgliedstaaten und ihrer Regie­rungenin den Fokus. Seinen Ergebnissen zufolge seien es gerade die nationa­len Regierungen, welche die Integrationsprozesse durch ihre eigenen politi­schen Interessen prägen, und er betont die Abwägung von den jeweiligen Vor­oder Nachteilen, die durch Integrationsschritte entstünden (vgl. Moravscik 1991, 1993 und 1998). Weitere Alternativen zu Neofunktionalismus und Inter- gouvernementalismus bilden beispielsweise der Institutionalismus (u.a. March und Olsen 1984), dessen Hauptthese suggeriert, dass Institutionen nicht gesell­schaftliche Interessen widerspiegeln, sondern diese als "political actors in their own right" definieren oder auch der Rational-Choice-Institutionalismus, der so­ziologische Institutionalismus oder der Neo-Institutionalismus. Jedoch bleibt in allen genannten Varianten die Grundstruktur und die Organisation des politi­schen Systems der Europäischen Union offen (vgl. Tömmel 2014:21). Sie wer­den im Rahmen dieser Arbeit daher nicht weiter ausgeführt.

2.2 Ansatz der differenzierten Integration

Die klassischen Integrationstheorien beschreiben trotz zwischenzeitlicher Pha­sen der Stagnation einen einheitlichen Verlauf der Erweiterung der Europäi­schen Union. Dabei gab es durchaus auch differenzierte Integrationsschritte, welche heute von der Europaforschung anerkannt werden. Die Ursachen des Anwachsens von differenzierten Integrationsschrittensehen die Forscher unter anderem in der steigenden Anzahl der Mitgliedstaaten, wodurch die Heteroge­nität innerhalb der Gemeinschaft wächst und verschiedene politische, ökonomi­sche und soziale Interessen hervortreten. Diese Heterogenität zeigt sich stei­gend insbesondere mit der EU-Osterweiterung und dem Beitritt gleich zwölf neuer Mitgliedstaaten6 (vgl. Riedemeyer 2018: 57). Sowohl Weidenfeld (2015) als auch Pöttering (2018) stellen in ihren Beiträgen über die Herausforderungen für die zukünftige Europapolitik fest, dass in einer immer größer werdenden EU die strategische Gestaltung von differenzierten Integrationsschritten zwingend notwendig ist. Die differenzierte Integration kann hierbei als ein durchaus be­kanntes Verfahren anzusehen sein. Schließlich habe es bereits in der Vergan­genheit Integrationsschritte gegeben, an welchen nicht alle Mitgliedstaaten der EU teilnahmen. Hierzu zählt beispielsweise die Einführung des Euros oder auch die Teilnahme am Schengen-Raum (vgl. Weidenfeld 2015: 223).

Mit Rückblick auf die Osterweiterung 2004 sowie die EU-Beitritten von Bulga­rien und Rumänien (2007) stellen Europaforscher auch fest, dass zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten und den Neumitgliedern gravierende Unterschiede in jeglichen Polit- und Wirtschaftsbereichen vorliegen. Die Möglichkeit einer wei­ter fortgeführten einheitlichen Integration könne somit de facto gar nicht gege­ben sein. So hat sich die Montanunion dadurch ausgezeichnet, dass ihre sechs Mitgliedstaaten allesamt homogene Merkmale im Bereich der Ökonomie, des politischen Systems und auf sozialer Ebene teilten. Dies hat sich mit der Oster­weiterung grundlegend geändert (vgl. Riedemeyer 2018:60).

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Eckart Scharrer stellt dazu bereits in den frühen 1980er Jahren fest, dass eine einheitliche Integration stets nur dann eine Möglichkeit darstellen kann, wenn alle Mitglieder einen bestimmten Integrati­onsschritt mitgehen können und auch wollen. Andererseits könnte dieser Integ­rationsschritt überhaupt nicht erst statt stattfinden (vgl. Scharrer 1984: 5). Im Umkehrschluss würde dies in Bezug auf die EU bedeuten, dass durch die He­terogenität und Streuung der Interessen eine einheitliche Integration in der Pra­xis nicht mehr umzusetzen ist. Aktuelle Studien und Wissenschaftler haben die historische Leitlinie der differenzierten Integration trotz scharfer Kritik daher an­erkannt (vgl. Riedemeyer 2018:53f.). Eine gestufte Integration kann im Kontext der EU-Erweiterung also den Zielkonflikt von Integration und Erweiterung lösen, welche bisher nur auf einer einheitlichen Europäisierung basierten. Vorsicht ist jedoch dann geboten, wenn von einem Europa der verschiedenen Geschwin­digkeiten gesprochen wird. So stellt beispielsweise der ehemalige EU-Kommis­sionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner State-of-Union-Rede im Jahr 2017 klar, dass ein „ Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten institutionell zu zementieren, [...] weitreichende negative Folgen für den Zusammenhalt der gesamten Europäischen Union “ haben könne. Diese Meinung teilen viele wei­tere Politiker in Europa (vgl. Pöttering 2018: 263).

„[...] Dabei bedeutet differenzierte Integration nicht, eine Zweiklassenge­sellschaft der europäischen Staaten einzuführen. Stattdessen sollten dort, wo eine Vertiefung gegenwärtig nicht mit allen Mitgliedstaaten er­folgen kann, gezielt sachorientierte Kooperationsformen entstehen“. (vgl. Weidenfeld 2015: 224).

Mit diesen Worten bewertet Weidenfeld den differenzierten Ansatz und relati­viert damit die kritischen Stimmen, welche befürchten, dass durch eine gestufte Integration besonders die dominanten Mitgliedstaaten an Macht gewinnen und schwächere Staaten in ihren Interessen und Vorstellungen unterdrückt werden könnten.

Als Zwischenfazit lässt sich bis hierhin festhalten, dass sich die europäischen Integrationsschritte der vergangenen Jahrzehnte in der Wissenschaft vor allem mithilfe der zwei klassischen Integrationstheorien erklären lassen. Einerseits mithilfe des Intergouvernementalismus, der insbesondere die Bedeutung der nationalen Regierungen und Akteure im Integrationsprozess betont, und dem Neo-Funktionalismus, welcher die supranationalen Akteure als treibende Kräfte der Integrationsbemühungen erkennt. Mittlerweile sind sich jedoch die Vertreter beider Thesen einig, dass sich der Europäische Integrationsprozess nicht als einheitlicher Prozess fassen lässt und es bereits zu früheren Zeitpunkten ge­stufte Formen der Integration gab. Diese Entwicklung häuft sich in der jüngsten Vergangenheit unter anderem dadurch, dass die EU um immer mehr Mitglied­staaten wächst, die sich in ihren politischen, ökonomischen und sozialen Inte­ressen unterscheiden und häufig keinen Konsens in politischen Entscheidungs­fragen erreichen können.

2.3 EU-Osterweiterung

Als EU-Osterweiterung wird der EU-Beitritt der zehn ehemaligen Ostblockstaa­ten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn im Jahr 2004 sowie die Beitritte von Bulgarien und Rumänien 2007 bezeichnet. Diese Erweiterung stellt nicht nur die größte Erweiterungsrunde in der Ge­schichte der Europäischen Gemeinschaft dar, sondern sie ist vor allem auf­grund der Heterogenität der Länder und ihrer Unterscheidung von den bisheri­gen Mitgliedstaaten von tragender epochaler Bedeutung. Die Osterweiterung steht „im Zeichen der Wiedervereinigung des Kontinents und der Rückkehr nach Europa“ jener europäischen Länder, die bisher von der Integrationsent­wicklung abgeschnitten worden waren und völlig andere politische Systeme vor­weisen (vgl. Lippert 2004). Nach dem Bruch des sowjetischen Bündnisses so­wie der sich daran anschließenden Beendigung des Ost-/West-Konfliktes gilt es in Europa, politische Stabilität und die Sicherung von Frieden herzustellen. Mit einer vertraglichen Neugestaltung der Europäischen Gemeinschaft (EG) setzt auch das Verfassen von grundlegenden Bedingungen für eine mögliche Erwei­terung dieser Gemeinschaft in Richtung Osten ein. Diese Erweiterungsrunde unterscheidet sich hierbei vom bisherigen Integrationsprozess. So zeichneten sich die 15 bisherigen Mitgliedstaaten dadurch aus, dass sie eine relativ homo­gene Gemeinschaft darstellten, die auf bereits vor der einsetzenden EU-In­tegration ähnlichen politischen Systemen basieren. Daher gingen die früheren Erweiterungsrunden bis Mitte der 1990er relativ unproblematisch vonstatten und Neumitglieder fanden sich schnell in die Gemeinschaft ein. Dies ist mit dem Eintritt der ehemals kommunistischen und sozialmarktwirtschaftlich geprägten Staaten in die EU nicht mehr der Fall. Daher war es zunächst fraglich, ob und wie eine mögliche Osterweiterung aussehen kann und schon früh bilden sich integrationsorientierte, aber auch integrationskritische Gruppen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Es gab also Mitgliedstaaten, die einer Erweite­rung positiv gegenüberstehen und diese zügig voranbringen wollen, und Staa­ten, die dies eher kritisch beäugelten (vgl. Beichelt 2004: 30ff).

Parallel zu grundlegenden Vertragsänderungen und allgemeinen Neuregelun­gen der europäischen Organisationsstruktur findet in den 1990er Jahren die Annäherung zwischen Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den mittel­und osteuropäischen Ländern (MOEL)7 statt. Sabine Riedel (2008) merkt hierzu an, dass gerade durch die Verträge von Maastricht (1993), Amsterdam (1999) und Nizza (2003) die Dynamik des Integrationsprozesses beschleunigt worden sei. Problematisch an dieser neuen Dynamik sei jedoch, dass die MOEL-Staa- ten zwar durchaus an einer EG/EU-Mitgliedschaft interessiert waren, dies je­doch vorwiegend aus dem einfachen Grund, dass sie gar keine wirkliche Alter­native zu der Annäherung an den Westen hatten. Einen tieferen Integrations­prozess, wie von den Gründern der EG geplant, hatten die Regierungen jedoch wohl kaum im Sinn. Damit ist gemeint, dass die Staaten sich zwar Vorteile der Mitgliedschaft sichern wollten, sich jedoch eher zurückhaltend bei der Abgabe von eigener Souveränität verhalten (vgl. Riedel 2008: 30f.).

In dem folgenden Subkapitel geht es daher um die Frage, wie die Osterweite­rung theoretisch zu fassen ist und wodurch sie sich grundlegend von vorherigen Erweiterungsrunden unterscheiden lässt. Die Bedeutung dieses Prozesses für die vorliegende Arbeit begründet sich dadurch, dass der behandelte Fall Nord­mazedonien als ehemaliger Teil des kommunistischen Jugoslawiens Parallelen zu den Beitrittsstaaten im Rahmen der Osterweiterung aufweist. Zudem basiert die Westbalkanstrategie, durch welche eine Annäherung der übriggebliebenen Staaten an die EU ermöglicht werden soll, auf den Erfahrungen der ersten Ost­erweiterung.

2.3.1 Vertragliche und politische Grundlagen

Bereits unmittelbar nach Fall des „ Eisernen Vorhangs“ und dem Einsetzen ei­nes grundlegenden Systemwechseln in den mittel- und osteuropäischen Staa­ten, setzt eine zunehmende Westorientierung der ehemals kommunistisch ori­entierten Staaten ein. Es zeigt sich, dass diese Staaten früh auch eine Beitritts­perspektive fordern, möglicherweise auch aus dem Grund der Sicherung von finanzieller Unterstützung der EG/EU-Staaten. Integrationskritische Mitglied­staaten der EG lehnen diese Forderungen zunächst einmal jedoch strikt ab. Sie wollen keine Erweiterung und schon gar nicht in einem unkontrollierten Prozess. Hierbei sind es vor allem Staaten wie Spanien und Italien, die einer Aufnahme weiterer Staaten kritisch gegenüberstehen, denn schließlich könne dies zur Folge haben, dass finanzielle Mittel durch mehr Mitglieder geteilt werden müss­ten. Es zeichnete sich nämlich bereits ab, dass mittel- und osteuropäischen Staaten in den unmittelbaren Jahren nach einer Erweiterung zunächst einmal Nettoempfänger von EU-Geldern sein würden. Damit trotzdem politische Stabi­lität und eine Annäherung hergestellt werden kann, schließt die EG mit den MOEL-Staaten Stabilisierungs- und Assoziationsverträge ab. Durch diese sol­len sich grundlegende Rechte und wirtschaftliche Gegebenheiten der mögli­chen Neumitglieder an die Standards der EG annähern. Sie gelten fortan als zusätzliche Voraussetzung für den Beginn von tatsächlichen Beitrittsgesprä­chen (vgl. Schimmelfennig 2015: 311).

Doch nicht nur die potenziellen Beitrittsländer müssen sich auf eine mögliche Integration vorbereiten, auch die EG selbst muss dafür Sorge tragen, ihre ei­gene Handlungsfähigkeit zu schützen. Dies erfolgt vor allem in den 1990er Jah­ren, in welchen die EG durch strukturelle Änderungen von Verträgen ihre gemeinschaftliche Organisation erweitert. Prägend für diese Zeit ist unter ande­rem die formale Gründung der Europäischen Union durch den im Jahr 1993 in Kraft getreten Vertrag von Maastricht, welcher die zukünftige Dreisäulenstruk- tur8 der Union initiiert (vgl. Wessels 2016). Dieser Vertrag beinhaltet gleichwohl das Recht eines jeden europäischen Staates einen Antrag auf die Vollmitglied­schaft in der Gemeinschaft zu stellen. Mit dem Amsterdamer Vertrag (1997) werden dann weitere Bedingungen benannt, die es hierbei zu erfüllen gilt. So beruht die Union auf „den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Ach­tung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit [...]“ (Art. 6 Abs. 1 EUV) und nur Staaten, die diese Werte und Normen teilen, können einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Bedeutend für einen Beitritt zur Europäischen Union werden außerdem die Kopenhagener Kriterien, die eben­falls im Jahr 1993 beschlossen wurden. Sie stellen den MOEL-Staaten eine Mitgliedschaft in Aussicht, sofern diese „stabile demokratische Institutionen und eine funktionierende Marktwirtschaft entwickeln“ sowie „ihre Wettbewerbsfähig­keit erhöhen und das Gemeinschaftsrecht übernehmen“ (vgl. Schimmelfennig 2015: 312).

Explizit werden in den Kopenhagener Kriterien drei Grundkriterien formuliert, die jeder Staat erfüllen muss, um EU-Mitglied zu werden. Das politische Krite­rium beinhaltet hierbei unter anderem, dass ein Staat institutionelle Stabilität sowie eine demokratische Ordnung und Rechtsstaatlichkeit aufweisen soll. Um das wirtschaftliche Kriterium erfüllen zu können, muss ein Staat eine funktionie­rende und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft vorweisen können und zuletzt müssen alle Beitrittsstaaten die durch die EU-Institutionen gemeinschaftlich er­arbeiteten Rechte, den acquis communataire, in ihr nationales Recht überneh­men (vgl. Europäischer Rat 1993). Gleichzeitig mit der Vorbereitung auf eine mögliche Erweiterung sind sich die Vertreter der EU also bewusst, dass die Union ihre Fähigkeit zur Aufnahme neuer Mitgliedschaften bei gleichzeitiger Be­wahrung der europäischen Integrationsschritte aufrechterhalten muss. An einer besonders zügigen Aufnahme der MOEL-Staaten schien diese zunächst nicht interessiert und dennoch lassen sich in den folgenden Jahren rege Fortschritte seitens der EU-Strukturentwicklung und Reformbemühungen seitens der mög­lichen Beitrittsstaaten beobachten.

Mit der Agenda 2000 werden im Jahr 1997 erstmals Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen der bereits assoziierten Staaten durch die Europäische Kom­mission vorgestellt. In der Stellungnahme wird zunächst die Aufnahme von Bei­trittsverhandlungen mit Polen, Slowenien, Estland, der Tschechischen Republik sowie Ungarn empfohlen. Diese Länder zeigten fortschrittliche Reformen und können wirtschaftliches Wachstumspotential vorweisen. Die übriggebliebenen Staaten Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen und die Slowakei protestieren jedoch darauf folgend, sodass im weiteren Verlauf der Debatten es schließlich doch alle zehn Staaten schaffen können das screening9 zu durchlaufen (vgl. Beichelt 2004: 42f.). Dazu erklärt Hofbauer in seiner Monografie zur EU-Oster­weiterung, dass es sich bei den Verhandlungen im Wesentlichen gar nicht um Verhandlungen handele. Gefordert werde seitens der EU vielmehr, dass die MOEL-Staaten die acquis communaitaire, den „gemeinschaftlichen Besitz­stand“ der EU übernehmen, welcher damals bereits etwa 20.000 Rechte, un­terteilt in 31 Kapitel, beinhaltete (Hofbauer 2007: 78).

Mit dem ausgehandelten Vertrag von Nizza im Jahr 2003 und damit verbunde­nen grundlegenden Ausbesserungen der Organisationsstruktur10 werden schlussendlich die Grundbedingungen für eine EU-Osterweiterung geschaffen. Unterzeichnet wird der finale Beitrittsvertrag am 16. April 2003 in Athen. Am 01.05.2004 vergrößert sich die EU damit um gleich zehn Staaten. Bulgarien und Rumänien kommen aufgrund vorerst nicht ausreichender Reformen erst im Jahr 2007 hinzu. Beitrittsverhandlungen werden außerdem mit Kroatien begonnen, welches im Jahr 2013 der EU beitritt. Dieser Beitritt schließt die Erweiterungs­runde der EU vorerst ab (vgl. Wessels 2018). Parallel zu der durchaus hitzig debattierten Aufnahme neuer Mitgliedstaaten scheitert die Ratifizierung einer gemeinsamen EU-Verfassung an Frankreich und den Niederlanden, welche ausgerechnet zu den Gründungsmitgliedern zählen. Die EU bewegt sich zu die­sem Zeitpunkt also in die Richtung einer möglichen Krise (vgl. Tömmel 2014).

2.3.2 Die EU nach der Osterweiterung

Oberflächlich betrachtet erscheint die Osterweiterung als gelungen. So haben es ost- und mitteleuropäische Länder innerhalb einiger Jahre geschafft, von ei­ner Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft überzugehen und viele auf die EU- Mitgliedschaft ausgerichtete Reformen förderten die Demokratie und das fried­liche Zusammen- und Nebeneinanderleben in diesen Staaten. Politische Stabi­lität konnte hergestellt werden und der Frieden Europas wurde gesichert (vgl. Lichtenstein 2014). Fraglich und in der Forschung diskutiert ist jedoch der Preis, den die Altmitglieder und auch die MOEL-Staaten selbst hierfür zahlen muss­ten.

Zwar schaffen es Länder wie Polen und Ungarn innerhalb von nur fünfzehn Jahren, ihr komplettes politisches und wirtschaftliches System zu ändern, um einer EU-Mitgliedschaft gerecht werden zu können, doch hat diese EU-Mitglied­schaft für die eigene Bevölkerung beispielsweise zunächst auch Preiserhöhun­gen von Grundnahrungsmitteln oder gestrichene Subventionen für soziale oder kulturelle Projekte zur Folge. Zudem setzt durch die EU-Freizügigkeit eine ver­mehrte Talentabwanderung ein, was diese Staaten vor Probleme gestellt hat und noch stellen wird (vgl. Hofbauer 2007: 47f.).

Viele der ehemaligen Ostblockstaaten fühlen sich heute nicht mehr als Gewin­ner der EU-Erweiterung. Die negative Haltung gegenüber der EU wächst und immer häufiger schaffen es national-populistische Parteien, enttäuschte Wähler für ihre europakritische Politik zu gewinnen. Dabei wird gleichzeitig ausgeblen­det, dass nationale Regierungen durchaus Mitverantwortung an der internatio­nalen Politik tragen und EU-Institutionen nicht die alleinige Schuld an den poli­tischen Prozessen zu verantworten haben. Sabine Reidel widmet sich daher der Frage, ob und wie Erweiterungsstrategien überhaupt parallel zu Integrati­onsprozessen stattfinden können (vgl. Riedel 2008).

[...]


1 Offizieller Name der Republik Nordmazedonien seit 2019, vorher Republik Mazedo­nien (republika makedonija) oder auch international unter der Bezeichnung FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia) bekannt. Im Sinne der (?) Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit bis zu dem Zeitpunkt der konstitutionellen Namensänderungen der Begriff Republik Mazedonien verwendet.

2 So entnommen auf der Website der mazedonischen Versammlung (Sobranie na re­publika severna makedonija) über den Verlauf der Beziehungen zwischen Nordmaze­donien und der Europäischen Union seit der Unabhängigkeitserklärung. Verfügbar un­ter https://www.sobranie.mk/r-makedonija-na-pat-kon-eu.nspx [letzter Zugriff: 23.04.2020].

3 Etwa 1/3 der mazedonischen Bevölkerung bezeichnen sich selbst als ethnisch-alba­nisch (vgl. Census 2002).

4 Die Strategie für eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und verstärktes En­gagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan gilt beispielsweise als solch eine Reaktion, wenn auch nicht ausschließlich.

5 Der Grundstein der Europäischen Union wird von den sechs Gründerstaaten Deutsch­land, Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien und Luxemburg gelegt.

6 Die Länder der ersten Osterweiterung sind Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern (im Jahr 2004) sowie Bulgarien und Rumänien (im Jahr 2007).

7 Als MOEL-Staaten werden die mittel- und osteuropäischen Länder (Estland, Lettland und Litauen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Polen, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Serbien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina) bezeichnet.

8 Die drei Säulen bilden im Grunde genommen die drei Teilbereiche der EU ab. Erstens die Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EG, Eurotom), zweitens die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und drittens die Zusammenarbeit im Bereich Jus­tiz und Inneres (ZJI).

9 Als Screening wird der die erste Stufe des EU-Beitrittsverfahren bezeichnet. Hierbei erfolgt eine Bewertung der Beitrittsreife des Bewerberlandes durch die Europäische Kommission (vgl. Reinhardt 2013).

10 Zum Beispiel die Stärkung des Kommissionspräsidenten; Länder dürfen nur noch ei­nen Kommissar pro Staat entsenden; Orientierung der Abgeordneten im EP an der Be­völkerungsgröße; Gesetzgebung nach qualifizierter Mehrheit und weiteres.

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Der EU-Beitrittsprozess Nordmazedoniens
Hochschule
Universität Kassel
Note
1,66
Autor
Jahr
2020
Seiten
73
Katalognummer
V1147370
ISBN (eBook)
9783346528858
ISBN (Buch)
9783346528865
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nordmazedonien, Mazedonien, EU-Beitritt, Osterweiterung, Osteuropa, Skopje, Albanien, Balkan, Griechenland, Prespa, Weg in die EU, Europa, Europäische Union
Arbeit zitieren
Theresa Doncev (Autor:in), 2020, Der EU-Beitrittsprozess Nordmazedoniens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1147370

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