Letzte Songs. Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit in Leonard Cohens letztem Album "You Want It Darker"


Bachelorarbeit, 2020

47 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I THESIS

1 EINLEITUNG
1.1 Vergänglichkeit in der Kunst
1.2 Biographische Skizzen zur Persönlichkeit
1.3 Entstehungsgeschichte des letzten Albums

2 ANALYSE DER SONGS
2.1 You Want It Darker
2.1.1 Analyse
2.1.2 Zwischenfazit: You Want It Darker
2.2 Treaty
2.2.1 Analyse
2.2.2 Zwischenfazit: Treaty
2.3 Traveling Light
2.3.1 Analyse
2.3.2 Zwischenfazit: Traveling Light

3 SCHLUSSBETRACHTUNG
3.1 Fazit
3.2 Ausblick: Thanks for the Dance

II APPENDIX

A SONGTEXTE
A.1 Songtext: You Want It Darker
A.2 Songtext: Treaty
A.3 Songtext: String Reprise / Treaty
A.4 Songtext: Traveling Light

LITERATUR

ZUSAMMENFASSUNG

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Leonard Cohens letztem Al­bum “You Want It Darker ”, das dieser im Bewusstsein seines nahen­den Todes produziert hat. Es wird der zentralen Frage nachgegangen, inwiefern der Singer-Songwriter und Dichter durch dieses Werk seine eigene Endlichkeit künstlerisch inszeniert hat. Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass es Cohen durch einen beispielhaften Umgang mit seinem persönlichen Sterbeprozess gelungen ist, künstlerische Insze­nierung und private Realität zu synchronisieren und dadurch ein im höchsten Maße authentisches Gesamtkunstwerk zu erschaffen. Durch meisterhafte, bis zu seinem Lebensende fortgesetzte Ausübung seiner Kunst hat Leonard Cohen mit “You Want It Darker ” die für jeden Menschen unausweichliche Vergänglichkeit zu einem gewissen Gra­de transzendiert und ihr damit zugleich einen überdauernden Sinn verliehen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet diesen Prozess auf Basis von Textanalysen sowie einer umfassenden biographischen Recher­che und stellt einen Versuch dar nachzuvollziehen, wie Cohen diese Vollendung seines künstlerischen Werdegangs gelingen konnte.

ABSTRACT

Leonard Cohen produced his last album “You Want It Darker” in to­tal awareness of his approaching death. This thesis explores the cen­tral question to what extent the singer-songwriter and poet artistically staged his own mortality through his work. The thesis comes to the conclusion that Cohen has managed to synchronize the artistic public image and his private reality through an exemplary way of coping with his personal process of dying, thereby creating a highly authen­tic work of art. By masterfully practicing his art until the end of his life, Leonard Cohen has transcended the inevitable evanescence of hu­man existence to a certain extent and concurrently gave it a persistent and understandable meaning. This thesis illuminates this process on the basis of song lyrics analysis and extensive biographical research. It represents an attempt to understand how Cohen succeeded in com­pleting his artistic career in such a meaningful way.

Teil I THESIS

EINLEITUNG

1.1 VERGÄNGLICHKEIT IN DER KUNST

Das Wissen um die eigene Vergänglichkeit ist ein wichtiges Merkmal der Conditio Humana. Vermutlich ist der Mensch das einzige Wesen, das sich seiner individuellen Endlichkeit bewusst ist und sich mit die­ser entsprechend dezidiert auseinandersetzen kann. Die durch diesen Umstand auftretenden Fragen “Woher komme ich?”, “Wohin gehe ich?” und “Was soll ich tun?” sind in ihrem existenziellen Charakter grundlegend für jeden denkenden Menschen und stellen sich immer wieder von neuem. Im Besonderen befassen sich die Philosophie, die analytische Psychologie und die Religionswissenschaften mit der End­lichkeit des Menschen als grundlegendem Wesensmerkmal.

Auch in vielen Künsten spielt die Auseinandersetzung kreativer Menschen mit der eigenen Sterblichkeit eine bedeutsame Rolle. In der bildenden Kunst tritt das Motiv des Todes häufig ganz direkt in Ab­bildungen von Totenschädeln wie in Eugen Brachts symbolistischem Werk “Gestade der Vergessenheit” auf. Interpretationen des Jenseits werden bereits seit dem Mittelalter auf die Leinwand gebannt und oft ist auch das Sterben selbst das zentrale Motiv wie in “Tod und Mäd­chen” von Egon Schiele. In der darstellenden Kunst wäre beispielhaft das Tanzsolo “Der sterbende Schwan” des Choreografen Michail Fo- kine zu nennen. Weit über die Bühnen hinaus hat sich “Der sterbende Schwan” als Symbol eines Sterbens in Würde und Schönheit etabliert.

Der Umgang des Menschen mit Endlichkeit ist in vielerlei Hinsicht ein treibender Motor unzähliger Geschichten und Gedichte. Neben der Liebe zeichnet sich so die Vergänglichkeit als maßgebliches Su­jet der Dichtkunst aus. Das Gleiche gilt für die Musik, die sich im Speziellen in der Form des Liedes immer wieder damit befasst.

Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit kann sogar als ein implizites Thema des künstlerischen Ausdrucks an sich angese­hen werden. Dies gilt generell für den kreativ schaffenden Menschen, insofern als er sich selbst immer wieder in seinem Schaffen durch sein Werk transzendiert (vgl. Frankl, 1973). Kunstschaffende überge­hen die Endlichkeit zu einem gewissen Grad, da sie in ihrem Werk einen kreativen Impuls setzen, der über ihr eigenes Leben hinaus wirkt. Sei es in Öl auf einer Leinwand, im Vinyl einer Schallplatte oder durch das Inspirieren eines Publikums während einer Live Performance. Diesen transzendierenden Charakter der Künste zeichnet im Besonderen die Musik aus.

Betrachtet man das Leben in seinen grundlegendsten Kategorien als einen linearen Vorgang, so besteht es aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Betrachtet man das Wesen der Musik ganz grundle­gend, so besteht sie aus der Erinnerung an den vergangenen Ton, dem Moment des Hörens und der Erwartung, welcher Ton folgen wird. Diese Abfolge ermöglicht es den Zuhörenden auszumachen, ob eine Melodie auf- oder absteigt, ob es sich um Dur oder Moll handelt und ob eine Spannung erzeugt oder gelöst wird. Dieser Dreischritt findet sich auch im kleinsten Baustein der Musik, dem Ton bzw. dem Klang: Einschwingen, Klingen und Ausklingen. Musik ist eine Kunstform, die durch ihre Linearität und ihr konstantes Fließen zum eigenen En­de hin, den universellen Verlauf des Lebens bereits in ihrer bloßen Existenz unmittelbar abbildet, noch bevor ihr Inhalt eine Deutungs­richtung vorgibt. Dem Philosophen Rüdiger Safranski nach trägt die Musik wie keine andere Kunst dazu bei, uns unsere Vergänglichkeit vor Augen zu führen. Er wagt sogar die Vermutung zu äußern, Musik sei möglicherweise “das Vergehen als reine Form” (Safranski, 2015, S. 225). Diese Vermutung ist sicher nicht unplausibel, wo doch bereits der Philosoph Arthur Schopenhauer in ihr “das geheimnisvolle Ver­hältnis von Zeit und Ewigkeit” (Schopenhauer, nach Safranski, 2015, S. 225) sah. Ein besonderes Verhältnis zwischen der Vergänglichkeit und dem Lied sieht schon Augustinus von Hippo, Kirchenlehrer und Philosoph der Spätantike:

“Gäbe es einen Menschengeist, mit solch großem Wissen und Vorauswissen begabt, daß ihm alles Vergangene und Zukünftige so bekannt wäre wie mir ein einziges ganz be­kanntes Lied, es wäre wahrlich ein wunderbarer Geist, den man schaudernd anstaunen müßte.” (Augustinus, Thim- me und Fischer, 2004, S. 589)

Augustinus bedient sich zwar vordergründig des Liedsängers als eines symbolischen Gleichnisses, um die Macht Gottes über die Zeit begreifbar zu beschreiben. Er weist hier jedoch - bewusst oder unbe­wusst - darauf hin, dass ein Sänger während der Erschaffung seines Werkes anscheinend die Kontrolle über diesen begrenzten Zeitraum hat. Dadurch, dass nur der Sänger im Vollzug seiner Interpretation des Liedes den jeweils nächsten Schritt kennt, weiß er zu einem ge­wissen Grad, was in der nahen Zukunft geschehen wird, während er sein Lied vorträgt. Für einen Bruchteil seines Lebens erhebt sich der darstellende Künstler also über die Knechtschaft der Zeit und bringt diese anscheinend unter seine Kontrolle. Dieses Verfügen über einen Moment im Verlauf der eigenen Vergänglichkeit weitet sich noch in anderer Hinsicht aus, wenn der Sänger ein selbst verfasstes Lied singt. Ein Singer-Songwriter setzt sich nicht nur in Augustinus Sinne mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander, sondern transzendiert die­se auch als schaffender Textdichter und Komponist. Weiterhin bietet ihm die Form des Liedes zusätzlich die Möglichkeit, sich auch kon­kret inhaltlich mit dem Vergehen auseinanderzusetzen.

Im Verlauf der Musikgeschichte ist der Singer-Songwriter in Ge­stalt von Sangspruchdichtern, Minnesängern und Barden ein recht altes Phänomen, das im Schatten der großen Komponisten vergange­ner Jahrhunderte in den Hintergrund gerückt und in Form des Rock­Poeten zu Beginn der 1960er Jahre in den Scheinwerfer der Popula­rität zurückgekehrt ist. Der bekannteste unter ihnen ist sicher Bob Dylan, dessen Werk sich häufig mit finalen Gefährdungen menschli­cher Existenzen beschäftigt. Noch deutlicher ist das bei seinen Zeit­genossen Johnny Cash, David Bowie und Leonard Cohen der Fall. Sowohl Cash als auch Bowie und Cohen waren sich ihres eigenen nahenden Todes bewusst und haben sich konkret in Form eines letz­ten Albums mit der eigenen Endlichkeit auseinandergesetzt. Alle drei haben ihre letzten Songs auf ganz unterschiedliche Art und Weise ge­staltet.

Johnny Cash verarbeitete in der Serie “American Recordings” von 1994 bis zu seinem Tode im Jahr 2003 seine Konfrontation mit der eige­nen Sterblichkeit auf sechs Alben, von denen zwei postum erschienen sind. Auffällig ist, dass der Country Sänger überwiegend auf das Ma­terial anderer Songwriter zurückgreift. Diese Coversongs nahm er auf solch eine persönliche und unpoliert ausdrucksstarke Art und Weise auf, dass es den Anschein erweckt, als seien sie über ihn geschrieben worden. Seine Interpretation des Nine Inch Nail Songs “Hurt” ist ein­gegangen in das kollektive Gedächtnis als einer der traurigsten Songs aller Zeiten. “Johnny Cash bewegt[ ] sich [auf den Aufnahmen] wie ein Angeschossener durch diese Songs”(Brüggemeyer, 2015), gezeich­net von einem Leben zwischen Bühne, Alkohol und Tabletten. Man spürt, dass er manches bereut und Vergebung sucht bei denen, die er für seine Kunst im Stich gelassen hat.

David Bowie hingegen wählt mit seinem Album “Blackstar ” einen anderen Weg. Auch er war sich aufgrund einer Krebserkrankung der Gewissheit seines nahenden Todes bewusst. Bowies Werk zeichnet sich durch die verschiedenen Charaktere aus, die er im Laufe seiner Karriere verkörperte. Ob Ziggy Stardust oder The Thin White Duke, die Antwort auf die Frage “Wer ist David Bowie?” gab er nie, er fügte lediglich neue Facetten hinzu. “Blackstar ” ist die letzte Verwandlung, an der er sein Publikum teilhaben ließ. Das Album ist ein kryptisch poetisches Werk voller religiöser und okkulter Symbolik. Fans und En­thusiasten entdecken immer wieder neue verschlüsselte Botschaften und Symbole, die Rätsel aufgeben (vgl. “David Bowies „Blackstar“: Und noch mehr Geheimnisse...” 2017). “Blackstar” ist zugleich eine Werkschau und wirft einen Blick zurück auf das vergangene Leben des Künstlers. Deutlich wird das in seinem Musikvideo zu “Black­star ”, das gleich zu Beginn einen auf einem fremden Planeten gestran­deten Astronauten zeigt. Die Anspielung auf Major Tom aus “Space Oddity” von 1969 ist offensichtlich. David Bowie nutzt auf “Black­star ” sein bisheriges Werk, seine Wandlungsfähigkeit und seine Er­krankung als Rohmaterial zur Inszenierung seiner eigenen Endlich­keit. Er macht damit seinen eigenen Tod zu einem Kunstwerk. Zwei Tage nach Veröffentlichung seines letzten Albums am 10. Januar 2016 verstarb er und vollzog damit seine letzte Verwandlung abseits der Bühne. Leonard Cohen, dem sich diese Arbeit hauptsächlich widmet, folgte im November des selben Jahres.

“And if one is to express the great inevitable defeat that awaits us all, it must be done within the strict confines of dignity and beauty.” (Cohen, 2018b, S. 268)

Dieser Satz war Leonard Cohens Antwort auf eine Frage, die jeden Menschen betrifft: Wie begegnet man dem Tod? Das Zitat ist Cohens Dankesrede zur Verleihung des Prinz von Asturien Preises entnommen, der ihm 2011 in der Kategorie Literatur verliehen wurde. Leonard Co­hen, der kanadische Schriftsteller und berühmte Singer-Songwriter, war in erster Linie ein Dichter, der laut eigener Aussage aus Geld­not zu singen begann (vgl. Cohen, nach Burger, 2015 S. 21 f.). Seine Qualitäten als Dichter stellt er auch mit dem eben genannten Zitat unter Beweis. Es weist auf die besondere Beziehung des Menschen zu der ihm bewussten Sterblichkeit hin. Zugleich zeigt es auch das kreative Potenzial, das der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem existenziellen Thema Tod innewohnt. Ebenfalls aufgrund einer Krebserkrankung war Leonard Cohen kurz vor Ende seines Lebens - wie zuvor auch Cash und Bowie - in der besonderen Situation, sein Lebenswerk im Bewusstsein des nahenden Todes abzuschließen. Die­sen außergewöhnlichen Umstand eines Künstlers, sein letztes Werk als solches bewusst zu gestalten, wird in dieser Arbeit am Beispiel von “You Want It Darker”, Cohens letztem noch zu Lebzeiten erschie­nenen Album, näher betrachtet. Das Ziel dieser Arbeit ist es zu erfor­schen, inwiefern Leonard Cohen seinen eigenen Tod durch die Mittel der Kunst gestaltet hat. Gab es für ihn so etwas wie eine Kunst des Sterbens (Ars Moriendi)? Hat er vielleicht sogar sein eigenes Sterben ganz bewusst als Kunstwerk inszeniert?

1.2 biographische skizzen zur persönlichkeit

Betrachtet man die Rezeptionsgeschichte von Leonard Cohens Werk so fällt auf, dass Werk und Urheber meist zusammenhängend betrach­tet werden. Cohens Werk ist stark autobiografisch. Diese Tendenz fin­det sich bereits in seinem ersten Roman “The Favourite Game” von 1963, in dem er den Protagonisten der Geschichte Begebenheiten sei­ner eigenen Jugend nacherleben lässt. Sie setzt sich in frühen Songs wie “Suzanne” fort. In diesem Lied beschreibt er die platonische Liebe zu seiner Bekannten Suzanne Verdal. Eine solche Unschärfe zwischen lyrischem Ich und dem Dichter selbst ist schließlich auch in seinem letzten Album “You Want It Darker” präsent. Zum Verständnis der später folgenden Songanalysen, die den Kern dieser Arbeit bilden, ist es daher wichtig einen Eindruck zu gewinnen, was für eine Persön­lichkeit Leonard Cohen war. Am besten lässt sich das anhand einer Anekdote aus seinem Leben illustrieren.

Am 6. Oktober 1973 begann der (aus israelischer Sicht so bezeichne­te) Jom-Kippur-Krieg mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens auf den Sinai sowie die Golanhöhen, die 1967 von Israel er­obert worden waren. Leonard Cohen war zu diesem Zeitpunkt 39 Jah­re alt. Bereits am 7. Oktober saß er in einem Flugzeug auf dem Weg nach Israel (vgl. Simmons, 2012, S. 372). Es ist durchaus bemerkens­wert, dass ein Singer-Songwriter 1973 in einen Krieg zieht, während die meisten seiner Generation ihr Engagement auf Proteste gegen den Vietnamkrieg fokussieren. Cohen kämpfte allerdings nicht als Soldat, sondern reiste zur moralischen Unterstützung der Truppen mit einer Reihe weiterer Musiker an die Front. Dort gab er Konzerte und führte Gespräche mit den Soldaten. Er war zwar nicht aktiv an den Kämpfen beteiligt, begab sich jedoch durchaus in potenzielle Lebensgefahr. Das künstlerische Ergebnis seiner Kriegserlebnisse war das 1974 erschiene­ne vierte Studioalbum “New Skin for the Old Ceremony”. Es enthält den zu Teilen an der Front verfassten Song “Lover Lover Lover”. Der Song ist aus Sicht einer Liebenden geschrieben, die um die Heimkehr ihres Liebhabers bangt. Cohen schrieb den Song laut eigener Aussage für die Soldaten beider Seiten (vgl. Simmons, 2012, S. 375). Trotz der inspirierenden Wirkung dieser Reise stellt sich die Frage, warum er dieses Risiko freiwillig eingegangen ist. Anderen Songwritern seiner Generation lieferte beispielsweise das Szeneleben in New York ausrei­chend Inspiration für ihre Arbeit. Eine Begründung für Cohens Enga­gement lässt sich wohl aus seiner jüdischen Herkunft ableiten. In ei­nem Interview kurz nach dem Krieg äußerte er seine Schwierigkeiten mit jüdischen Wertvorstellungen und Autoritäten in Israel, erklärte jedoch seine stetige Bereitschaft zur Unterstützung, wenn das Überle- ben des jüdischen Volkes in Gefahr sei (vgl. Burger, 2015, S. 61). Wei­tere Gründe für seine rasche Entscheidung waren sicherlich auch ein gewisser Narzissmus, ein Hang zur heroischen Geste und die Mög­lichkeit, der eher uninspirierenden Stabilität seines häuslichen Famili­enlebens mit Partnerin und Sohn zu entfliehen (vgl. Simmons, 2012, S. 372-375). Leonard Cohen, der bereits in den späten fünfziger Jahren als größtes lyrisches Talent Kanadas gefeiert wurde, war nie verheira­tet und ließ viele Möglichkeiten für eine bürgerliche Existenz hinter sich. Stattdessen pendelte er zwischen Askese und Exzess. Er lebte während der frühen sechziger Jahre im Künstlerexil auf der griechi­schen Insel Hydra. Dort verbrachte er sieben Jahre gemeinsam mit seiner zur Muse stilisierten Partnerin Marianne. Die Künstlergemein­schaft auf Hydra pflegte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Lebensstil, der in den späten 60er Jahren vor allem der Hippie-Bewegung zuge­schrieben wird. Psychedelische Drogen und freie Liebe bestimmten den alltäglichen Umgang miteinander (vgl. Simmons, 2012, S. 144 ff.). Mitte der sechziger Jahre verschlug es Cohen schließlich immer häu­figer nach New York. Da er als Schriftsteller seinen freien Lebensstil nicht finanzieren konnte, suchte er dort Anschluss an die vom Folk Revival geprägte Singer-Songwriter Szene im Greenwich Village. Die­se hatte ihren Zenit zwar bereits überschritten, jedoch gelang es Co­hen durch Gleichgesinnte wie Judy Collins, gerade noch rechtzeitig die notwendigen Kontakte zur Musikindustrie zu knüpfen. Mit dem 1967 erschienenen Album “Songs of Leonard Cohen” glückte ihm be­reits der Durchbruch innerhalb der Szene. Es folgten Welttourneen und acht weitere Studioalben.

Cohen hatte bereits seit seinen frühen Zwanzigern wiederholt mit Phasen schwerer Depressionen zu kämpfen und zog sich schließlich in den neunziger Jahren in ein Zen Kloster oberhalb von Los Ange­les zurück. Dort wurde er 1996 sogar als Mönch ordiniert (Simmons, 2012, S. 556). 1999 ließ er das Klosterleben hinter sich und begab sich für einige Monate nach Mumbai, um dort Vorträgen des indischen Philosophen Ramesh Balsekar beizuwohnen. Nach seiner Rückkehr von einem zweiten Aufenthalt in Indien erschienen die Alben “Ten New Songs” (2001) und “Dear Heather” (2004), die als Beginn sei­nes Spätwerks einzuordnen sind. Der Sänger im Ruhestand musste Ende 2004 feststellen, dass nahezu sein gesamtes Vermögen von sei­ner damaligen Managerin veruntreut worden war. Erneut wurden die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten zu einem Antrieb, der Cohen schließlich zurück auf die Bühne brachte. Nach gewon­nenem, aber finanziell ergebnislosem Rechtsstreit, begab er sich 2008 auf Konzertreise. Seinen persönlichen Erwartungen zum Trotz wurde die Tournee ein großer Erfolg und so folgten weitere bis 2013. Die Kritiken dieser meist über dreistündigen Konzerte waren voll von ehrfürchtiger Begeisterung. Cohen, dessen Name sich von ‘Kohanim', den jüdischen Priestern im Tempel Jerusalems, ableitet (vgl. Zinvirt, 2012), wurde dabei häufig eine religiöse Aura zugesprochen, der er 2009 bei einem Konzert in Tel Aviv in Form eines priesterlichen Se­gens wahrhaftig Ausdruck verlieh (vgl. Showalter, 2019). 2013 verab­schiedete er sich als 79-Jähriger endgültig von den Konzertbühnen. Ein Jahr später erschien sein 13. Studioalbum “Popular Problems”, das seine Fans auf weitere Konzerte hoffen ließ. Das nachfolgende Al­bum “You Want It Darker” machte 2016 jedoch unmissverständlich klar, dass es keine weiteren Auftritte geben würde. Drei Wochen nach Erscheinen seiner düstersten LP verstarb Leonard Cohen im Alter von 82 Jahren an den Folgen einer Leukämieerkrankung.

Schon in der zu Beginn angeführten Anekdote wird deutlich, dass Cohen kein Künstler war, der sich einem Zeitgeist verschrieb. Er wid­mete sich in seinem Werk überwiegend Themen von zeitloser Dimen­sion zwischen Eros und Thanatos. Diese Perspektive nahm er bereits in seinem ersten Gedichtband “Let Us Compare Mythologies” ein und behielt sie bis zu seinem letzten Album bei. Treffend hat er diese in­nere Haltung 1988 in einem Interview mit dem Magazin Musician formuliert:

“Someone observed that whoever marries the spirit of their generation will be a widow in the next. I never married the spirit of my generation because it wasn't that attracti­ve to me. And I've since moved further and further from any possible matrimonial commitment. As you get older, I think you get less willing to buy the latest version of reality. Mostly, I'm on the front line of my own tiny life.” (Cohen, nach Rowland, 1988)

1.3 entstehungsgeschichte des letzten albums

Es ist nur wenig zur Entstehungsgeschichte des Albums “You Want It Darker“ bekannt. Leonard Cohen zog sich in seinen letzten Jahren nach der großen Tournee weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Als er die Arbeit an den Aufnahmen zu seinem letzten Album begann, litt er zunehmend an körperlichen Einschränkungen. Die Leukämie, an der er erkrankt war, hinderte ihn schließlich an der Fortsetzung des Projekts. Auch sein Produzent Patrick Leonard hatte zeitgleich mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, sodass Cohen schließlich seinen Sohn Adam bat, ihm auszuhelfen. Dieser war zur Stelle und übernahm das Ruder als Produzent.

Um eine, den neuen Umständen angemessene Aufnahmesituation zu schaffen, wurde Cohens Wohnzimmer von seinem Sohn in ein pro­visorisches Tonstudio umfunktioniert. Ein medizinischer Stuhl wurde zur Verfügung gestellt, sodass Cohen trotz diverser Kompressionsbrü­che seiner Wirbelsäule und der damit verbundenen Immobilität die Texte einsingen konnte (vgl. Cohen, 2018a). Man kann den Produk­tionsprozess des Albums also teilweise durchaus als Homerecording bezeichnen. Die Unannehmlichkeiten, die Cohen auf sich nahm, um seine Arbeit fertigzustellen, verdeutlichen, mit welcher Ernsthaftig­keit er sich Zeit seines Lebens der Kunst verschrieben hatte. In seinem letzten Interview mit David Remnick beschrieb er seine Situation fol­gendermaßen:

“In a certain sense, this particular predicament is filled with many fewer distractions than other times in my life and actually enables me to work with a little more concen­tration and continuity than when I had duties of making a living, being a husband, being a father. [...] Those distracti­ons are radically diminished at this point. The only thing that mitigates against full production is just the condition of my body.” (Cohen, nach Remnick, 2019)

Neben der Arbeit an “You Want It Darker“ schrieb Cohen unermüd­lich an weiteren Texten und Gedichten. Täglich stand er meist vor Sonnenaufgang auf und schrieb, auch wenn manchmal die Erschöp­fung zu groß war und er nichts anderes tun konnte, als sich hinzule­gen (vgl. Remnick, 2019). Nach der Vollendung des Albums lud Co­hen den Journalisten David Remnick für einige Tage in sein Haus ein. Remnick erlebte Cohen als körperlich sichtlich angeschlagen, geistig jedoch höchst präsent, fokussiert und voller Humor. Beeindruckt von Cohens Disziplin erinnert sich Remnick in einer auf dem Interview basierenden Podcastfolge: “To me it seemed like almost a model, of how to live your last days, if you can” (Remnick, 2016). In jenem Inter­view erklärte Cohen auch, dass er bereit sei zu sterben. Diese Aussage korrigierte er jedoch in seiner letzten Pressekonferenz, die wenige Wo­chen vor seinem Tod stattfand, augenzwinkernd mit den Worten: “I intend to live forever” (Cohen, 2016).

[...]

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Letzte Songs. Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit in Leonard Cohens letztem Album "You Want It Darker"
Hochschule
Hochschule Darmstadt  (Fachbereich Media)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
47
Katalognummer
V1147751
ISBN (eBook)
9783346530097
ISBN (Buch)
9783346530103
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leonard Cohen, You Want It Darker, Johnny Cash, David Bowie, Musik, Tod, Songwriting, Letzte Songs
Arbeit zitieren
Jonathan Binhack (Autor:in), 2020, Letzte Songs. Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit in Leonard Cohens letztem Album "You Want It Darker", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1147751

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