Inwiefern lässt sich anhand der Gretchenfigur auf das Frauenbild schließen?


Bachelorarbeit, 2020

71 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. TERMINOLOGIE
2.1. Frauenbild und die Rolle der Frau
2.2. Frauenforschung

3. LITERARISCHE AUFFASSUNG DER GRETCHENFIGUR NACH GOETHE
3.1 Entstehungsgeschichte
3.2 Inhaltsangabe
3.3 Goethes Auffassung der Gretchenfigur
3.4 Das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen
3.4.1 Struktur und Aufbau
3.4.2 Figurenkonstellation
3.4.3 Die Rolle des Mephistos in der Figurenkonstellation
3.5 Goethes Verhältnis zu Frauen und das Frauenbild zu seiner Zeit

4. DIE GRETCHENFIGUR IN DER REZEPTIONSGESCHICHTE

5. INSZENIERUNG „FAUST I“ VON NICOLAS STEMANN
5.1 Grundlegendes
5.2 Stemanns Gretchenfigur
5.3 Das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen
5.4. Vernunft, Trieb und Liebe
5.5 Stemanns Gretchenfigur in Bezug auf das Frauenbild

6. INZENIERUNG „FAUST I“ VON ENRICO LÜBBE
6.1 Grundlegendes
6.2 Lübbes Gretchenfigur
6.3 Das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen
6.4 Lübbes Gretchenfigur in Bezug auf das Frauenbild
6.5 Interview XX

7. FAZIT

LITERATURVERZEICHNIS

Anmerkung der Redaktion: Das Kapitel 6.5 ist nicht Teil dieser Publikation.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Frauenbild, Frauenquote, Emanzipation, Feminismus: Begriffe, die unseren Alltag prägen. In der vorliegenden Arbeit sollen in Bezug auf die Gretchenfigur in Faust. Der Tragödie erster Teil von Johann Wolfgang von Goethe diese Be- grifflichkeiten analysiert und hinterfragt werden. Dies wird anhand einer Un­tersuchung der Gretchenfigur des Originaltextes, der Inszenierung von Nicolas Stemann (2011) und der Inszenierung von Enrico Lübbe (2018) geschehen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf von Faust I gesprochen.

Die Handlung von Goethes Werk Faust I ist den meisten Deutschen aus der Oberstufe bekannt, und damit auch die Figur des Gretchens als naives, junges Mädchen. Sie wird oft als schwacher Charakter dargestellt, der gegen die bei­den männlichen Charaktere Faust und Mephisto nicht ankommt. Generell ist auszumachen, dass zu den zu behandelnden Lektüren in der Oberstufe oft Werke gewählt werden, die entweder eine schwache weibliche Figur beinhal­ten oder die weibliche Figur am Ende sterben lassen. Hierzu zählen bei­spielsweise die Lektüren Effie Briest von Theodor Fontane, die gesellschaft­lich geächtet und von ihren Eltern sogar bis kurz vor ihrem Tod verstoßen wird, oder auch Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, welche schluss­endlich ebenfalls stirbt. Das Bild von schwachen Frauen in der Literatur wird den Schülern somit suggeriert. Anhand dieser Tatsache lässt sich ein unkriti­scher Umgang mit dem schwachen weiblichen Geschlecht festmachen, und da dieser in den meisten Fällen im Unterricht nicht hinterfragt wird, nehmen die Schüler dieses Bild unreflektiert an.

Auch in einigen Bereichen der Politik wird ein Bild der schwachen Frau impli­ziert. In Bezug auf den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump ist so­gar eine regelrecht abwertende Haltung gegenüber einer Frau auszumachen. Er sagte über seine ehemalige Konkurrentin Carly Fiorina im Wahlkampf im September 2015:

Seht euch dieses Gesicht an. Würde jemand dieses Gesicht wählen? Könnt ihr euch das vorstellen, das soll das Gesicht des nächsten Präsidenten sein? Ich meine, sie ist eine Frau, und ich sollte nichts Schlimmes über sie sagen. Aber wirklich, Leute, kommt schon. Ist das euer Ernst?1

Er drängt damit der Wählerschaft beinahe den Gedanken auf, sie nicht als Präsidentin wählen zu dürfen, weil sie eine Frau sei. Nach Trump bestehen ihre positiven Eigenschaften darin, gut auszusehen. Dadurch wertet er sie au­tomatisch ab.

Um auch eine detaillierte Auffassung des Frauenbildes der deutschen Kultur anhand des Theaters gewinnen zu können, werden zwei Inszenierungen in den Blick genommen. Die Inszenierungen von Stemann und Lübbe wurden gewählt, da sie als Exempel dienen können, wie aus der heutigen Zeit auf Margarete/Gretchen geblickt wird. Das Heranziehen Goethes Originaltextes dient als Vergleichstext, welcher die Perspektive der Goethezeit repräsentiert. Um einen genauen Überblick über die Begriffe Frauenbild und Frauenfor­schung erhalten zu können, werden diese erklärt und in ihren historischen Kontext eingebettet. Zunächst wird der Originaltext von Johann Wolfgang von Goethe in den Blick genommen und in Bezug auf das Frauenbild in unter­schiedlichen Epochen analysiert. Dies geschieht mittels einer Schilderung der Entstehungsgeschichte, der Auffassung der Gretchenfigur, der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Faust und Gretchen. Des Weiteren werden das Einwirken von Mephisto auf die Beziehung von Faust und Gretchen, ebenso wie Goethes persönliche Erfahrungen mit Frauen zu dem derzeit herrschen­den Frauenbild, dargestellt. Im Anschluss daran wird die Rezeptionsgeschich­te der Gretchenfigur im Allgemeinen dargelegt und ebenfalls in den Kontext des Frauenbildes eingeordnet.

Um nach der Darstellung des Gretchencharakters im Laufe der Geschichte einen Bezug zur aktuellen Zeit zu gewinnen, werden die beiden modernen In­szenierungen von Stemann und Lübbe auf die Gretchenfigur untersucht. Zu­dem wird das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen analysiert und Unter­schiede und Gemeinsamkeiten untereinander, ebenso wie zum Originaltext, aufgezeigt. Es wird außerdem auf grundlegende Eigenschaften der Inszenie­rungen eingegangen und ebenfalls mit dem vorherrschenden Frauenbild in Verbindung gebracht. Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse in ei­nem Fazit zusammengetragen und die Leitfrage der vorliegenden Arbeit be­antwortet: Inwiefern lässt sich anhand der Gretchendarstellung auf das Frau­enbild der jeweiligen Zeit schließen? Die Figur des Gretchens ist der deut­schen Gesellschaft bekannt, sie wirkt zeitlos. Jedoch soll in der vorliegenden Arbeit argumentiert werden, dass die Charakterzüge dieser Figur nicht etwa statisch und in Stein gemeißelt sind, sondern durch die Zeit unterschiedlich interpretiert und, damit einhergehend, unterschiedlich inszeniert werden. Die- se Thematik ist gerade auch im Hinblick auf die Veränderungen und Fortschrit­te der Gleichheitsbewegung interessant.

Aufgrund der Tatsache, dass die Gretchenfigur in der deutschen Kultur be­kannt und zeitlos präsent ist, allerdings bisher kaum in Bezug auf das Frauen­bild und die Frauenforschung gesetzt wurde, war Anlass für die Ausarbeitung der Fragestellung. Es soll demnach nicht nur das Frauenbild der Goethezeit und dessen Wandel erläutert werden, sondern auch das heutige Bild der Frau in der deutschen Kultur. Ziel dieser Darstellung ist, anhand der Gretchenfigur auf das Frauenbild zu schließen. Dazu wird die Rolle und Stellung der Frau, die sie im Wandel der Zeit in der für Deutschland relevanten Geschichte durchlief, kritisch beschrieben und hinterfragt.

2. Terminologie

Bevor in den folgenden Kapiteln das Frauenbild in Bezug auf die Gretchenfi- gur analysiert werden kann, muss zunächst definiert werden, was das Frau­enbild ist. Die Erklärung des Ausdrucks Frauenbild soll hier sowohl geschicht­lich als auch aus der gegenwärtigen Perspektive erklärt werden. Zeitgleich und damit einhergehend wird die Rolle der Frau aufgezeigt. In einem nächsten Schritt wird die Frauenforschung erläutert, welche ebenfalls von Bedeutung für die Forschungsfrage ist.

2.1. Frauenbild und die Rolle der Frau

Schon in der von Männern geschriebenen Bibel spielen Frauen eine unterge­ordnete Rolle; die „Gehilfin“ Adams wurde passend für ihn „hergestellt“ und zwar aus seiner Rippe und somit aus seiner Natur.2 Auf die heutige Zeit über­tragen sind das der Arzt und seine Arzthelferinnen, der Chef und seine Sekre­tärinnen, der Chemiker und seine chemisch-technischen Assistentinnen, der Mann und seine Ehefrau.

Ein Zitat aus dem Jahre zwischen 1776 und 1810, und damit epochenspezi­fisch auf die Romantik zutreffend, macht die Stellung der Frau zu dieser Zeit deutlich: „Der Mann ist der Frau ein Gott, die Frau dem Mann eine Natur. Bey- de vermählen sich [...] zur Seele, zum Lebendigen.“3

Der Mann war demnach nicht nur der Frau übergeordnet, sondern besaß auch etwas Göttliches, gar etwas Erschaffendes. Durch diese Göttlichkeit erhob er sich der Frau gegenüber als etwas Unerreichbares und drängte ihr somit die Rolle der Unterworfenen auf. Die Frau stelle, entgegen der selbstentworfenen männlichen Gottähnlichkeit, das natürliche Leben dar, das erst mit dem Ein­gehen einer Vermählung mit einem Mann lebendig werde. Da sie bei der Fest­legung ihrer eigenen Position keinerlei Mitspracherecht hatten, wurden Frauen stets durch Männer beurteilt und eingeordnet.4 Daraus lässt sich schließen, dass das Bild der Frau ausschließlich durch Männer erschaffen wurde.

Menninghaus (1983) beschreibt die Funktion der Frau im 19 Jahrhundert als „Beiwesen"5 eines übergeordneten Mannes. Ihr Hauptwesen sei es, Gefühle zu haben, das des Mannes sei die Vernunft. Sie dürfen nur ihrem Hauptwesen getreu das Hauptwesen des anderen begehren. So wurde der Frau im Vorhin­ein aberkannt, überhaupt vernünftig sein zu können. Die Frau könne nicht ohne die Ablenkung durch Gefühle denken und handeln, wohingegen der Mann nicht anders könne, als vernünftig zu sein. Das, was eine Frau ausma­che, also ihr Hauptwesen, sei auch in Männern vorhanden, allerdings nur als „Beiwesen“6 . Das Hauptwesen des Mannes allerdings sei bei Frauen nicht vorhanden, sie wurden allein dadurch automatisch abgewertet, als Frau gebo­ren worden zu sein. Das impliziert die Überlegenheit der Männer, die sich auf­grund der gesellschaftlichen Erwartungen um die von Gefühlen bestimmten Frauen kümmern mussten. Alleine wurden sie als unvollkommen eingeschätzt. Die Männer scheinen überzeugt gewesen zu sein, dass sie die Welt ohne Frauen ebenso gut hätten besiedeln können, wenn diese nicht zur Fortpflan­zung nötig gewesen wären. Frauen wurden als unnütz wahrgenommen, ledig­lich die „[...] Notwendigkeit] als Gehilfin zur Zeugung“7 gebe ihrem Dasein ei­nen Sinn.

Entgegen der Denkweisen über die in diesem Kontext als untergeordnet auf­gefassten Frauen sind die Aussagen zu deren Weiblichkeit weniger abfällig konnotiert. Die Abstraktion Weiblichkeit sei hoch im Kurs,8 sie steht nämlich auch für Lust und Begehren, was der Frau selbst nicht zuteil wird. Die Bedürf­nisse wie Lust, Begehren und Verlangen blieben demnach den Männern vor­behalten, während Frauen als Lustobjekte dienten.

Der heutige Gebrauch des Begriffes Frauenbild hat sich erst durch die Frauen­forschung Ende der 1960er Jahre etabliert. Die sogenannte Frauenbildfor­schung, die vor allem in den USA und in Deutschland ihren Ursprung findet, beschäftigt sich nicht nur mit literarischen Bildern, sondern untersucht, ob bzw. inwiefern es ein weibliches Schreiben gibt. Das weibliche Schreiben ist vom männlichen Schreiben abzugrenzen, welches zu jener Zeit, und bereits vor dieser, dominierte. Die Studie The Madwoman in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination aus dem Jahre 1979 von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar untersuchte sowohl das weibliche Schreiben an sich im 19. Jahrhundert als auch die dazugehörigen heiklen Schreibsituationen für Frauen. Aus der Untersuchung schlossen die beiden Autorinnen, dass mit dem Vorherrschen der von Männern verfassten Literatur gleichzeitig ein Ausschluss der von Frauen kreierten Schriften einherging.9 Daraus resultierend lässt sich sagen, dass Frauen, die selbst literarisch tätig werden wollten, zwei Hürden zu nehmen hatten: Die erste Hürde war, den Schreibprozess überhaupt beginnen zu können. Die zweite Hürde, dass der fertig gestellte Text einer Frau nicht durch das dominante männliche Ge­schlecht eliminiert wurde. Demnach wurde Frauen grundsätzlich erschwert, literarisch Fuß zu fassen.

Frauenbilder wurden, wie zuvor angedeutet, in Kunst und Literatur in den meisten Fällen von Männern geschaffen. Als Beispiele hierfür dienen Das ova­le Portrait von Edgar Allan Poe (1845), in dem erzählt wird, dass eine Frau beim Erschaffensprozess ihres Ebenbildes zuerst erkrankt und schließlich daran stirbt, und das Gemälde von Salvador DaH Meine nackte Frau beim Be­trachten ihres eigenen Körpers, der sich in Treppen, drei Wirbel einer Säule, Himmel und Architektur verwandelt aus dem Jahre 1945.10 Bei DaH zu sehen ist die Rückenfigur von seiner Frau, die entblößt auf einen surrealen Körper ihrer selbst blickt, der von Säulen gehalten wird. Gala, wie sie sich selbst nannte, sei nach Angaben der Mitarbeiter des DaK-Museums Berlin für ihn ein Heimathafen gewesen, was mit dem Gerüst, das sie darstellt, verbunden wer­den kann. Wie bei vielen anderen Künstlern auch stand seine Frau hinter dem Erfolg ihres Mannes.

Sicher wussten viele Frauen im Hintergrund zu agieren und einen Mann zu beeinflussen und zu steuern, weil ihnen bewusst war, dass sie in ihrer Rolle als Frau auf direktem Wege nichts bewirken konnten. Die Strategien einer Frau werden auch heute oft noch als heimtückische Hinterhalte bezeichnet, das Gift gilt als ihre unvorhersehbare Todeswaffe.11 Eigene Aktivitäten wurden durch die Erziehung jahrhundertelang gebremst, welche weibliche Talente und Intelligenz nicht an die Öffentlichkeit treten ließen. Es gelang nur wenigen Frauen, aus ihrer Rolle auszubrechen und erfolgreich zu werden. Im Vergleich dazu gelang es vielen Männern, unabhängig ihres Talentes Erfolg zu haben. Frauen waren demnach keineswegs nur unterdrückte, bedeutungslose Wesen, keine „passiven Zuschauer der Geschichte“12 und keine Randfiguren, ihre Macht zur Mitgestaltung der Welt erfolgte aus dem Hintergrund heraus.

Des Weiteren ist hier von Bedeutung, dass vor allem in literarischen Werken seit 1800 eine Stereotypisierung der Bilder von Frauen zu finden ist. Die Re­präsentation der Frau wurde ästhetisiert und konnte somit lange keine Ent­wicklungsgeschichte durchmachen.13 Die Ästhetisierung kann beispielsweise in dem Gemälde Gretchen geht zur Kirche von Wilhelm von Kaulbach aus dem Jahre 1864 wiedergefunden werden. In Kapitel 4 wird dies in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte der Gretchenfigur näher ausgeführt. Die Ästhetisierung hat zur Folge, dass Frauen regelrecht objektiviert wurden und ihnen dadurch jegliche Individualität genommen wurde.

Epochenbezogen galt das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der Aufklärung“, das Bild der gelehrten Frau wurde beworben. Eine Frau entsprach dem Ideal, wenn sie gebildet war, doch Schulbildung war für Mädchen nicht vorgesehen. Abgelöst wurde dieses Bild Ende des 18. Jahrhunderts von einem Bild des natürlichen Frauenwesens, das vorschrieb, dass Frauen keine autonomen Menschen sein durften, sondern einer männlichen Vormundschaft bedurften. Diese Vormundschaft wurde bei Unverheirateten durch den Vater oder Bruder ausgeübt und bei Verheirateten durch den Ehemann. Als natürliche Eigen­schaften der sittsamen Frau galten sowohl Tugendhaftigkeit und Fleiß als auch die Gabe, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Demnach gab es auch eine physische Trennung der Aufgabenbereiche bei Ehepaaren: Der Frau wurden alle Arbeiten im Haus zu Teil, dem Mann stand die Öffentlichkeit zu. Diese Anschauung traf hauptsächlich auf das Bürgertum zu, da die Frauen der Arbeiterschicht selbst zum finanziellen Erwerb beitragen mussten, um als Fa­milie überleben zu können.14

Ein binäres Konzept der Weiblichkeit kristallisiert sich im Laufe der Literatur­geschichte in Bezug auf das Frauenbild heraus: Die Femme fatale als verfüh­rerische, gefährlich wirkende, erotische Frau gegenüber der Femme fragile, einer harmlosen, keuschen Frau. Die Femme fragile wird oft als hilflos ange­sehen, weshalb sie dem Schutz des Mannes bedarf. Die Femme fatale dage­gen verführt den Mann und bedarf deshalb auch eines männlichen Ge­schlechts. Zweifellos können beide Bilder als Männerphantasien gesehen werden, da sie von Männern entworfen wurden und Ideale verkörpern. Hierfür wäre beispielsweise das Drama Das Käthchen von Heilbronn von Heinrich von Kleist, das 1810 erschien, zu nennen, in dem es sowohl um Männer- als auch um Frauenträume geht.15 Aufgrund der in der Literatur verfassten Wunschbil­der, die Männer über Frauen hatten, versuchte das weibliche Geschlecht, sich diesen anzunähern. Hieran kann gesehen werden, dass die Wunschvorstel­lungen durchaus reale Folgen in Bezug auf das alltägliche Leben und den so­zialen Umgang - vor allem in der Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann - miteinander haben.

Von Inge Stephan und Sigrid Weigel, die zu den Wegbereiterinnen der femi­nistischen Forschung in Deutschland zählen, stammt der Sammelband Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissen­schaft. In dem 1983 erschienenen Werk beschreiben sie „das Frauenbild als Gemisch aus realen Lebenszusammenhängen und mythischen Strukturen“16. Das wahre Bild der Frau muss ihnen zufolge erst entschlüsselt werden und soll nicht durch ein von Männern geprägtes Ideal allgegenwärtig sein.

Die Frage, was eine Frau wirklich ausmacht, wurde selten gestellt. Zu sehen ist, dass sie jahrhundertelang dadurch definiert wurde, nicht männlich zu sein. Der Mann beanspruchte Eigenschaften, die gleichzeitig keiner Frau zuge­schrieben werden konnten. Das waren unter anderem „Individualität, Intellekt, Aktivität, Rationalität, Ordnung und Öffentlichkeit“17. Diese männliche Ordnung impliziert, dass Frauen sich nicht durch Individualität voneinander unterschei­den können, wenig oder gar nicht intelligent und wenig aktiv seien, ohne Ra­tionalität oder Ordnung sein sollten, sie sich von der Öffentlichkeit zurückge­zogen im Haus aufhalten sollten und sich nicht in den öffentlichen Raum, die dem Mann vorbehalten blieb, begeben durften.

Diese starre Definition für eine Frau ist von außen betrachtet und aus der Per­spektive des Mannes beschrieben worden.18 Auch heute sind dies trotz aller Fortschritte noch bekannte Eigenschaften, mit denen Frauen oft in abge­schwächter Form beschrieben und verurteilt werden. Die Rolle des schwachen Geschlechts ist teilweise immer noch vorhanden, so wird sie in manchen Sphären, wie beispielsweise im athletischen oder professionellen Bereich oder allgemein in Gebieten, in denen vor allem Männer vertreten sind, belächelt. Auch als Autoritätsperson hat sie häufig Probleme damit, ernst genommen zu werden.

Dies belegt auch eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor­schung (IAB), die von der Bundesagentur für Arbeit im Jahre 2019 veröffent­licht wurde. Es wurde nicht nur festgestellt, dass der Anteil an Frauen in Füh­rungspositionen seit 2018 nicht mehr gewachsen ist, sondern auch, dass Frauen im Vergleich zu Männern in Führungspositionen immer noch unterre­präsentiert sind. Die Zahl der beschäftigten Frauen betrug in diesem Jahr etwa 44%, die Zahl der Frauen in Führungspositionen lediglich 26% in erster Führungsebene und 40% in zweiter Führungsebene.19

Das Frauenbild der Gegenwart wird verstärkt durch die Rolle der Medien. Da­durch wird den Menschen jeden Tag das Bild der perfekten Frau - vor allem optisch gesehen - suggeriert. Im Vergleich zu früher sind heute nicht mehr allein die tugendhaften, unterwürfigen Charakterzüge, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert vorzufinden waren, von oberster Wichtigkeit. Heute muss die Frau vielerlei Rollen übernehmen. Der Zugang in die Geschäftswelt wurde zwar vereinfacht, den tradierten Rollenvorstellungen sollte die Frau jedoch trotzdem gerecht werden. Hinzu kommen Anforderungen an das Aussehen ei­ner Frau, die durch die Gesellschaft vorgegeben werden.

2.2. Frauenforschung

Die Frauenforschung (engl.: „Women Studies“) kann als Teilbereich der Ge- schlechterforschung (engl.: „Gender Studies“) gesehen werden. Während bei der Geschlechterforschung der Fokus auf das soziale Geschlecht gerichtet ist, genauer gesagt auf die Geschlechterrollen, die im Gegensatz zum anatomi­schen Geschlecht (engl.: „Sex“) stehen, liegt der Fokus der Frauenforschung auf der Weiblichkeit, die von deren Vertretern als unterdrückt angesehen wird. Die Grundannahme der Frauenforschung, dass alle Frauen sich mit ihrer Weiblichkeit identifizieren können, unterscheidet die Frauenforschung von der allgemeinen Geschlechterforschung.20 Diese Annahme widerspricht der Auf­fassung der Männer zur Zeit der Romantik, dass Frauen sich nicht mit ihrer eigenen Weiblichkeit identifizieren dürfen. Die Weiblichkeit diente lediglich dazu, die Wünsche und Begehren des Mannes zu befriedigen.

Die (deutsche) Frauenbewegung ist zwar nur bis etwa 1830 aufgrund man­gelnder Literatur zurückzuverfolgen, es wird jedoch oft übersehen, dass Frau­en schon immer die Geschichte mitbestimmt und außerdem einen unverzicht­baren Beitrag zur Historie geleistet haben. „Große Frauen der Weltgeschichte“ gelten als Ausnahme unter der Masse der „großen Männer“21. Die Frauen, die aus ihrer festgelegten Rolle und „der von ihnen vorgeschriebenen Bahn der Bescheidenheit und Unmündigkeit auszubrechen“22 versuchten, mussten be­sonders viel Mut, Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein besitzen. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Das war der Leitspruch der Französi­schen Revolution von 1789. Um Rechte für Frauen durchzusetzen, beteiligten sich auch Frauen aktiv am politischen Geschehen. Hierunter fallen Olympe de Gouges, Théroigne de Méricourt und Charlotte Corday. Durch die damals zur Verfügung stehenden Medien wurde ihr Aktivismus in ganz Europa bekannt und setzte damit auch für andere Länder wichtige Grundpfeiler. Frauenvereine wurden gegründet, welche Vorreiter für weitere politische Frauenvereine wa­ren, die Jahre später aufgebaut wurden. Außerdem fanden immer mehr Frau­en Zuwachs in politischen Vereinen und religiösen Gemeinden, was ihnen noch mehr Möglichkeiten gab, sich politisch beteiligen zu können. Somit boten sich Frauen seit dem Hambacher Fest von 1832 immer mehr Chancen, ihr Mitwirken an der Verbesserung der Stellung der Frau zu erzielen. Louise Otto- Peters legte 1843 den Grundstein für die erste deutsche Frauenbewegung mit folgendem Satz: „Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht.“23 Ihr folgten weitere bedeutende Frau­en, die ähnliche Ansichten hatten und deren Anschauungen zur heutigen Frauenbewegung führten, dazu zählen Louise Dittmar, Kathinka Zitz und Loui­se Aston. Obwohl viele weibliche Aktivistinnen ins Exil flüchten mussten, tra­ten sie immer wieder für die Rechte der Frauen ein.24 Aufgrund der Tatsache, dass sich explizit für die Frauenrechte durch die Französische Revolution kaum etwas änderte, setzte sich die fortschreitende Frauenbewegung in Gang.

Nach der Deutschen Revolution von 1848 wurde Frauen das Mitwirken am po­litischen Geschehen gänzlich verboten, was sogar in den Gesetzen verankert war. In den 1850er und 1860er Jahren nutzten Frauen dank des Wirtschafts­aufschwungs die Chance, sich wieder in Vereine einzugliedern und sich da­durch in das politische Geschehen einzubringen. Als in Leipzig im Oktober 1865 eine große Frauenkonferenz stattfand, die von den Medien abwertend Leipziger Frauenschlacht genannt wurde, resultierte daraus der Allgemeine deutsche Frauenverein (ADF) und die Frauenbewegung begann nun endgültig zu starten. Ein Grund dafür war die zu dieser Zeit herrschende Frauenarmut, die bekämpft werden sollte. Der ADF gilt als der Verein, der sich erstmalig in der Menschheitsgeschichte für Frauenrechte einsetzte. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Frauenbewegung stellt die Tatsache dar, dass das Bildungsan­gebot für Mädchen erweitert werden sollte, vor allem ab 1880, vertreten durch die Lehrerin Helene Lange. Durch sie, Auguste Schmidt und Marie Loeper- Houselle wurde 1890 der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV) ge­gründet, wodurch Jahre später Frauen das Studieren an Universitäten ermög­licht wurde und 1908 die Preußische Mädchenschulreform in Kraft gesetzt wurde. Im selben Jahr stand es Frauen auch zu, Mitglied in politischen Partei­en zu werden. Das Wahlrecht für Frauen gibt es seit 1918.25 Folglich kann ge­sagt werden, dass es westlichen Frauen in weniger als 100 Jahren gelang, elementare Rechte, die vorher nur den Männern zustanden, zu gewinnen.

An dieser Stelle ist es wichtig zu nennen, dass es nicht nur eine Frauenbewe­gung gibt, sondern viele unterschiedliche Frauenbewegungen, da sich aus der Grundidee für die besseren Rechte der Frauen mehrere Bestrebungen in ver­schiedene Richtungen entwickelt haben.26 Seit 1945 stiegen nicht nur die Bil­dungschancen für Mädchen, sondern auch die Erwerbstätigkeit der Frauen, obwohl sie schlechter bezahlt wurden als Männer und kaum Chancen auf Füh­rungspositionen hatten. Die Frauenbewegung erhielt zwei große Motivations­schübe: Erstens durch den sogenannten Tomatenwurf von 1968 auf der Dele­giertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Frank­furt, bei dem Sigrid Rüger Tomaten zum Tisch des Vorstandes warf um gegen die Männerdomäne zu protestieren, und zweitens die Kampagne „Ich habe abgetrieben“ der Zeitschrift Stern im Jahre 1971 von Alice Schwarzer, die ge­gen den § 218 gerichtet war.27 Die Neue Frauenbewegung grenzt sich selbst von der Alten Frauenbewegung ab, da sie den Fokus darauf richtet, dass Frauen ihre eigenen Erfahrungen machen müssen und sich dadurch weiter­entwickeln. Die Anhängerinnen widersetzen sich nicht nur den Herabsetzun­gen durch das männliche Geschlecht, sondern gehen mehr in die Tiefe, indem sie nach den Ursachen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede suchen.

Drei Ansätze, die verändert werden sollten, wurden für eine aus der Sicht der Feministinnen besseren Gesellschaft entwickelt: Die Beschäftigung mit ers- tens der kapitalistischen Ausbeutung der Frau am Arbeitsplatz, zweitens der Dominanz des Mannes gegenüber der Frau und drittens der Geschlechterbe- stimmung im soziokulturellen Aspekt. Diese Ansätze wurden von 1972 bis 1989 entwickelt und galten zum ersten Mal als autonom, da sie frei von jegli­cher männlichen Dominanz agieren konnten. In dieser Zeit wurde von der Neuen Frauenbewegung viel gefordert und auch erreicht. Zu nennen ist hier die Lohngleichstellung oder auch die Gründungen von feministischen Zeit­schriften, Frauencafés und Frauenhäusern. Letztere waren für Frauen ge­dacht, die dort Zuflucht finden konnten, wenn sie Gewalt durch ihren Ehemann erfahren mussten. Grundlegend kann gesagt werden, dass das Ziel der Frau­enbewegung eine solidarische Identität für alle Frauen ist. Dieser Gedanke ist sowohl in der Alten, als auch in der Neuen Frauenbewegung vorzufinden. Daraus sollte letzten Endes eine Geschlechterdemokratie resultieren, deren Realisierung man diskutieren könnte.28

Die Frauenbewegung ist noch längst nicht zu Ende. Auch heute kämpfen Frauen immer noch für Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Der Miss­brauchsprozess gegen Harvey Weinstein, ein früherer Filmproduzent, war An­lass für eine aktuelle Bewegung, die #MeToo-Bewegung. Weinstein wurde vorgeworfen, Frauen durch seine Machtposition sexuell ausgenutzt zu haben. Das mittlerweile weltbekannte Hashtag MeToo wird von vielen Frauen vor al­lem über die Internetplattform Twitter genutzt, um auf sexuelle Übergriffe durch Männer aufmerksam zu machen. Die Debatte hatte zur Folge, dass bei­spielsweise in Schweden ein Gesetz aufgestellt wurde, das besagt, dass beim Geschlechtsverkehr beide Partner ausdrücklich damit einverstanden sein müssen. Alles andere wird als Vergewaltigung eingestuft.29 Auf der einen Seite ist es fragwürdig, dass solch ein Gesetz erst 2020 verabschiedet wird, auf der anderen Seite kann dieses Gesetz auch als Anlass gesehen werden, sein Handeln - und das gilt nicht nur für das Handeln eines Mannes - besser re­flektieren zu können.

Es sei die Anmerkung erlaubt, dass seit der ersten Schritten der Frauenbewe­gung schon viel geschehen ist. Es ist jedoch noch immer gesellschaftlich ver­ankert, dass die Frau das schwächere Geschlecht darstellt.

3. Literarische Auffassung der Gretchenfigur nach Goethe

Nachdem im vorausgehenden Kapitel eine detaillierte theoretische Basis ge­legt wurde, wird in diesem und den kommenden Kapiteln die Gretchenfigur vor dem Hintergrund der theoretischen Basis diskutiert. In dem vorliegenden Kapi­tel, das sich mit der Gretchendarstellung des Originaltextes nach Goethe be­fasst, wird die Entstehungsgeschichte, die Inhaltsangabe, die Gretchenfigur an sich, das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen, die Struktur und der Aufbau des Werkes und das Frauenbild zu Goethes Zeit erläutert.

3.1 Entstehungsgeschichte

Johann Wolfgang von Goethe30 arbeitete insgesamt von 1770 bis 1806 an seinem Werk Faust. Der Tragödie erster Teil. Erste Beschäftigungen mit der historischen Faustfigur fanden 1770 in Straßburg durch das gleichnamige Puppenspiel statt, anderen Überlieferungen zufolge eventuell auch schon et­was früher. Goethe nahm den historischen Faust, der tatsächlich von 1470 bis 1540 lebte, also auch zur selben Zeit wie Luther, Nostradamus und Götz von Berlichingen. Der Legende nach soll der vermutlich Georg Zabel heißende ali­as Johann Faustus vom Teufel geholt worden sein. Aufgrund seines Interes­ses zur schwarzen Magie und zum Zauber - also entgegen des christlichen Glaubens - wurde er von der Kirche verteufelt.31 Hier kann eine erste Refe­renz auf die Rolle des Mephistos, der den Teufel darstellt, gezogen werden.

Die Geschichte des Johann Faustus wurde im Volksbuch von Doktor Faust festgehalten, war allerdings eher als Warnschrift zu verstehen, um die negati­ven Auswirkungen eines Teufelspaktes darzulegen. Dieses hat Goethe sich 1801 Nachweisen zufolge aus der Herzoglichen Bibliothek in Weimar entlie­hen. Folglich war er mit dem Fauststoff vertraut.32

Eine weitere Entstehungsquelle des Werkes ist auf persönliche Erlebnisse zu­rückzuführen, die der Autor mit einfließen ließ. Hierzu zählen die Beziehung zu Friederike Brion, welche sich im Verhältnis zwischen Faust und Gretchen widerspiegelt oder auch die Szene in Auerbachs Keller, welche auf Goethes Studienzeit zurückgeführt werden kann. Ebenfalls kann der Kindsmord, der zur Gretchentragödie beiträgt, zu den persönlichen Erlebnissen gezählt wer- den, denn der Verfasser erlebte mit, wie die Kindsmörderin Susanna Margare­tha Brandt am 14.01.1772 enthauptet wurde. Sie wurde von dem Vater ihres Kindes verlassen und tötete das Neugeborene.33

Der damals 22-jährige Goethe hat sich an Susanna Margaretha Brandt orien­tiert, die ihren eigenen Aussagen nach zu urteilen, durch den Teufel zu der schrecklichen Tat verleitet wurde. Allerdings veränderte er wesentliche Merk­male: Sein Gretchen gehört dem Bürgertum an und nicht der Unterschicht, wie es bei Brandt der Fall war. Ebenso verändert er die Standesordnung, der Faust zugehörig war. Dieser stammt aus der Oberschicht, wodurch ein hierar­chischer Unterschied zwischen Gretchen zu Faust geschaffen wird. Deutlich hervor geht aber auch, dass Goethe sich nicht für die soziale Problematik der Kindsmörderinnen interessierte, sondern es ging ihm mehr um die bürgerliche „Selbstfindung und Selbstbehauptung“, die er versuchte, darzustellen.34 Dies ist auch für die Gretchenfigur von besonderer Relevanz, denn Goethe schien durch ihren Charakter genau diese beiden wesentlichen Merkmale darstellen zu wollen. Gretchen strebt nach Selbstfindung und Selbstbehauptung, was sie zum Sturm und Drang gehören lässt. Dieser Gedanke wird in der späteren Darstellung der Gretchenfigur weiter ausgeführt.

Auch wenn Goethes Fragment vor allem bei seinen Freunden gut ankam - zu diesen zählten Friedrich Wilhelm Gotter, Karl Ludwig Knebel und Friedrich Schiller - genehmigte er sich eine zehnjährige Schaffenspause in der Zeit von 1775 bis 1785, in der er in Weimar lebte. Danach ging er nach Italien. Sobald er 1788 aus Italien wieder zurück nach Weimar kam, entschloss er sich im darauffolgenden Jahr, sein Werk als Fragment zu veröffentlichen, da es noch nicht vollständig beendet war. Andere Gründe dafür waren, dass er sich nicht verstanden fühlte in Deutschland, das im Gegensatz zu dem inspirierenden, bunten Italien stand. Faust. Ein Fragment erschien somit 1790 im 7. Band von Goethes Schriften.35 Zur Weiterarbeit drängte ihn letztendlich Friedrich Schil­ler und Goethe nahm diese dann ab 1797 wieder auf. Im April 1806 war der Erste Teil des Faust fertig gestellt.36

Der Entstehungsprozess wurde an dieser Stelle nicht nur wegen der Inspirati­on für die Gretchenfigur, die Goethe hatte, aufgezeigt, sondern auch um eine genauere Einordnung in die persönlichen Gedanken und Erlebnisse von Goe- the veranschaulichen zu können, um später eine Referenz zum Frauenbild, das zu seiner Zeit vorhanden war und das er selbst hatte, aufstellen zu kön­nen.

3.2 Inhaltsangabe

Vor Der Tragödie erster Teil ereignen sich die Zueignung, das Vorspiel auf dem Theater und der Prolog im Himmel.37 Vor allem bei der Zueignung scheint Goethe Persönliches miteinzubeziehen, wie beispielsweise die verloren ge­gangene Liebe zu Friederike Brion oder Freundschaften, die er in der Zeit, in der er in Straßburg lebte, pflegte. Das Vorspiel auf dem Theater gleicht einer Wanderbühne auf der Suche nach einem geeigneten Stück. Abschließend fin­det der Prolog im Himmel statt, in welchem Gott mit Mephisto die Wette um Faust eingeht. Mephisto, als Gegenpart zu Gott, wettet, dass Faust vom Glau­ben abzubringen sei und nur mithilfe der Macht des Bösen seinen Weg gehen werde, aber Gott hält dagegen. Goethe orientiert sich bei dieser Szene an dem Buch Hiob 1, 6-12 der Bibel, in dem es ebenfalls um ein Gespräch zwi­schen Gott und Satan geht. Zum besseren Verständnis der Gesamthandlung sollen im Folgenden die wesentlichen Inhalte noch einmal zusammengefasst werden.

Nacht, Vor dem Tor, Studierzimmer I, Studierzimmer II Der nach neuen Erkenntnissen suchende Faust sitzt in der Nacht vor Ostern in einem gotischen Zimmer in der Szene Nacht.38 Er beschließt, das irdische Leben zu verlassen, doch sein Selbstmordversuch missglückt durch das be­ginnende Osterspiel, was sich in Vor dem Tor ereignet. In demselben Schau­platz finden auch der Osterspaziergang und die Geisterbeschwörungen sei­tens Faust statt und die beiden Charaktere Wagner und Mephisto - hier noch als Pudel - finden Einklang in das Geschehen.39 Im Studierzimmer verwandelt sich der Pudel in Mephisto, welcher den Teufel verkörpert, und Faust geht mit Gleichnamigen einen Pakt ein in der Hoffnung nach sämtlicher Erkenntnis.40

Auerbachs Keller in Leipzig, Hexenküche Mephisto führt Faust nun durch die Welt. Die erste Station der beiden Erkun­denden ist Auerbachs Keller in Leipzig, wo sie ein studentisches Saufgelage vorfinden. Der nach Wissen Suchende findet hier keine neuen Impulse, da ihm die Welt hier inhaltslos und oberflächlich erscheint.41

An das Geschehen in Auerbachs Keller knüpft die hauptsächlich satirisch ausgelegte Szenerie in der Hexenküche. Dort erblickt Faust das Bild der nack­ten Helena, das er selbst als „das schönste Bild vom Weibe“42 bezeichnet. Der nun nach Veränderung drängende Faust nimmt einen Zaubertrank zu sich, der ihn um 30 Jahre verjüngt. Gleichzeitig wirkt der Trunk als Liebestrank und der Grundstein für die Gretchenhandlung ist gelegt.43

Straße, Abend, Spaziergang, Der Nachbarin Haus, Straße Faust lernt Gretchen nach ihrem Besuch im Dom auf der Straße kennen und verliebt sich sofort in ihr äußeres Erscheinungsbild. Sie scheint alles zu ver­körpern, was ihm auf den ersten Blick als wichtig erscheint. Da das junge Mädchen nicht auf seinen Annäherungs-versuch eingeht, beauftragt der sich Verliebende den Teufel, der durch die Figur Mephisto dargestellt wird, ihm da­bei zu helfen, die Aufmerksamkeit Gretchens zu gewinnen. Am darauffolgen­den Abend denkt Gretchen über das Zusammentreffen mit dem ihr Unbekann­ten nach, während Faust sichtlich von Sehnsucht nach ihr geplagt ist. Mephis­to versteckt ein Schmuckkästchen in ihrem Zimmer, das bald von ihr gefunden wird.44 Da sie den Schmuck anlegt und von einem besseren Leben träumt, wird deutlich, dass das junge Mädchen verführbar ist.

Während des Spaziergang es von Faust und Mephisto ist Letzterer aufge­bracht und wütend, da der Schmuck von Gretchens Mutter gefunden wurde und diese ihn zu einem Priester gebracht hat. Dem Diabolischen wird buch­stäblich ein Strich durch die Rechnung durch den christlichen Glauben ge­macht. Faust verlangt nun, dass Mephisto neuen Schmuck für seine Geliebte besorgt. Nachdem Gretchen auch den neuen Schmuck gefunden hat, sucht sie Hilfe bei ihrer Nachbarin Marthe in der Szene Der Nachbarin Haus. Me­phisto taucht mit Faust auf, welcher dann ein Treffen mit Gretchen am selben Abend vereinbaren kann. Im kurzen Gespräch auf der Straße II wird Faust von Mephisto auf das bevorstehende Treffen mit Gretchen und Marthe vorbereitet.45

Garten, Gartenhäuschen, Wald und Höhle, Gretchens Stube, Marthens Garten Im Garten werden Faust und Gretchen von Mephisto und Marthe miteinander verkuppelt. Ein weiterer Grundstein für die bevorstehende Liebesbeziehung ist somit gelegt. Erste Zärtlichkeiten finden im Gartenhäuschen statt. Die Szene Wald und Höhle ereignet sich zunächst als Monolog von Faust, der sich dank seiner Liebe zu Gretchen nun lebendig und mit der Natur verbunden fühlt.46 Hier wird auch der Wechsel zwischen Begierde und Genuss deutlich, den Faust verspürt.

Mephisto drängt ihn förmlich dazu, sein sexuelles Verlangen nach seiner Ge­liebten zu befriedigen. Auch Gretchen empfindet ein Verlangen nach Faust, welches in Gretchens Stube Ausdruck findet.47 Allerdings ist ihr Verlangen ge­prägt von einer natürlichen Liebe zu ihm, das von Faust zu Gretchen demge­genüber von einer erotischen Anziehung.

Das Wiedersehen zwischen Faust und Gretchen findet erneut in Marthens Garten statt. Gretchen stellt Faust die für den Leser berühmte „Gretchenfra­ge“, nämlich wie er es mit der Religion habe. Der überzeugten Katholikin ist ihr Glaube sehr wichtig und sie kommt mit Faust nicht überein, da ihm der Glaube nach eigener Aussage nichts bedeute. Dennoch vereinbaren die bei­den ein heimliches Treffen und das Mädchen erhält vom immer noch verjüng­ten Mann ein Schlafmittel, welches sie der Mutter vor ihrer Zusammenkunft verabreichen soll, damit die beiden die Nacht miteinander verbringen können.48

Am Brunnen, Zwinger, Nacht, Dom Nach der Liebesnacht mit Faust erfährt Gretchen Am Brunnen, dass eine ihrer Freundinnen schwanger sei und ihr Freund sie verlassen habe. Davor hat sie auch Angst, genauso wie vor dem Gerede anderer Leute. Dennoch bereut sie das, was in der Nacht zuvor mit ihrem Geliebten geschehen ist - nämlich der Geschlechtsakt zwischen ihr und Faust - nicht und sucht Hilfe bei Gott. In der Szene Zwinger schildert sie ihr Leid und bittet um Vergebung im monologisch gefassten Gebet.49

In der Nacht spürt Gretchens Bruder Valentin Faust auf und fordert diesen zum Kampf auf, da dieser von der Liebesnacht zwischen Faust und Gretchen erfahren hat. Aufgrund Mephistos Hilfe, gewinnt Faust den Kampf und tötet den Bruder der Verführten. Mit seinen letzten Worten beschimpft er seine Schwester als Hure und verflucht sie. Der böse Geist verfolgt das Mädchen bis in die Szenerie im Dom, in welchen sie eigentlich hin fliehen möchte, um für ihre Mutter zu beten. Hier wird ihr ihre dreiteilige Schuld bewusst: Der Tod der Mutter durch das Schlafmittel, der Tod des Bruders und die ungewollte Schwangerschaft, obwohl sie unverheiratet ist. Begleitet wird das Ganze von einem Chor, der Teile des „Dies Irae“ singt, was an das Jüngste Gericht erin­nert. Am Ende der Szene fällt die sich Schuldbewusste in Ohnmacht.50

Walpurgisnacht, Walpurgisnachtstraum Auch diese beiden Teile gehören wie die Hexenküche zu den satirischen Tei­len des Gesamtwerkes. Faust wird von Mephisto zum Blocksberg gelockt, wo die Walpurgisnacht zelebriert werden soll. Der in einen Rausch von Sinnlich­keit versetzte Faust lebt sich dort mit einer Hexe erotisch aus. Als er ein Zau­berbild von Gretchen erblickt, welches er als Zeichen ihrer Hinrichtung deutet, möchte er ihr zu Hilfe eilen. Bevor dies jedoch geschehen kann, findet ein Theaterspiel statt: Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias goldene Hochzeit.51

Trüber Tag. Feld; Nacht, offen Feld; Kerker Zurück in die Wirklichkeit führt den Leser der Schauplatz Trüber Tag. Feld. Faust hat von Gretchens Kindsmord und ihrer bevorstehenden Hinrichtung der sich im Gefängnis Befindenden erfahren. Diese Szene ist in Prosa geschrie­ben und grenzt sich durch die Schreibweise von den anderen ab. Er verlangt von dem Teuflischen, ihn zu seiner Geliebten zu bringen um sie zu befreien. Die beiden kommen in Nacht, offen Feld auf ihren schwarzen Pferden am Ra­benstein vorbei.52

Im Kerker angekommen, findet er das schon wahnsinnig gewordene Gretchen vor. Er möchte mit ihr fliehen, doch als sie Mephisto erblickt, entscheidet sie sich dazu, sich ihrem Schicksal zu ergeben, was fast schon einem Selbstmord gleicht. Die Tragödie endet damit, dass Mephisto die zum Tode Verurteilte als „Gerichtete“ bezeichnet, doch eine „Stimme von oben“ verkündet, dass sie „gerettet“ sei.53

[...]


1 vgl. Trump 2015, zit. nach Stein 2017.

2 vgl. Hohmann 1987, S. 9.

3 vgl. Menninghaus 1983, S. 181.

4 vgl. Weigel 1983, S. 104.

5 vgl. Menninghaus 1983, S. 160.

6 vgl. Menninhaus 1983, S. 160.

7 vgl. ebd, S. 79.

8 vgl. Weigel 1983, S. 104.

9 vgl. Schößler 2008, S. 64 ff.

10 vgl. ebd, S. 66.

11 vgl. Wunder 1995, S. 40.

12 vgl. Ulbricht 1995, S. 1.

13 vgl. Schößler 2008, S. 66 f.

14 vgl. Vahsen 2008.

15 vgl. Schößler 2008, S. 67 f.

16 vgl. ebd, S. 70.

17 vgl. Weigel 1983, S. 104.

18 vgl. ebd, S. 104.

19 vgl. Bundesagentur für Arbeit 2019.

20 vgl. Schößler 2008, S. 9 f.

21 beide Zitate: Vgl. Schwarzer 1981, S.24.

22 vgl. ebd, S. 24.

23 vgl. Otto-Peters 1843, zitiert nach Wolff 2008.

24 vgl. Vahsen 2008.

25 vgl. Wolff 2008.

26 vgl. ebd.

27 vgl. Hertrampf 2008.

28 vgl. Hertrampf 2008.

29 vgl. Winkler 2020.

30 Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28.08.1749 in Frankfurt am Main geboren und starb am 22.03.1832 in Weimar. Vgl. Bernhardt 2012, S. 10-14.

31 vgl. ebd, S. 26 ff.

32 vgl. ebd, S.26 ff.

33 vgl. Bernhardt 2012, S. 28.

34 vgl. Prokop, Ulrike 2012, S. 104 f.

35 vgl. Bernhardt 2012, S.30.

36 vgl. ebd, S. 31 f.

37 vgl. Goethe 1998, S. 9-20.

38 vgl. ebd, S. 23-35.

39 vgl. ebd, S. 36-47.

40 vgl. ebd, S. 47-73.

41 vgl. Goethe 1998, S. 73-83.

42 vgl. ebd, V. 2436.

43 vgl. ebd, S. 84-93.

44 vgl. ebd, S. 93-100.

45 vgl. ebd, S. 100-110.

46 vgl. Goethe 1998, S. 110-122.

47 vgl. ebd, S. 110-122.

48 vgl. ebd, S. 122-127.

49 vgl. ebd, S. 127-130.

50 vgl. Goethe 1998, S. 130-137.

51 vgl. ebd, S. 137-155.

52 vgl. ebd, S. 155 ff.

53 vgl. ebd, S. 157-164.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Inwiefern lässt sich anhand der Gretchenfigur auf das Frauenbild schließen?
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
71
Katalognummer
V1147842
ISBN (eBook)
9783346650504
ISBN (Buch)
9783346650511
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Feminismus, Emanzipation, Frauenforschung, Johann Wolfgang von Goethe, Faust
Arbeit zitieren
Anna-Maria Kahllenberger (Autor:in), 2020, Inwiefern lässt sich anhand der Gretchenfigur auf das Frauenbild schließen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1147842

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Inwiefern lässt sich anhand der Gretchenfigur auf das Frauenbild schließen?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden