Auguste Comtes widersprüchliche Rolle von Glauben in seinem Positivismus. Inwiefern widerspricht Comtes Zivilreligion der Idealvorstellung seines Positivismus?


Seminararbeit, 2021

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kernelemente des Vortrags: Schaffung theoretischer Grundlagen

3. Die Religion des Positivismus

4. Die Widersprüchlichkeit innerhalb Comtes Denken

5 . Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das 19. Jahrhundert war ein turbulentes und zugleich wegweisendes für Frankreich, aber ebenso für ganz Europa. Die Französische Revolution 1789 und die verschiedensten Bewegungen und dessen Geister, die zu ihr führten, prägte viele Folgejahre den europäischen Kontinent und veränderte gesellschaftliche Grundstrukturen und zeigte auf - wie bereits anfänglich in der italienischen Renaissance -, dass der Mensch im Mittelpunkt seines Tuns und Schaffens steht und er selbst für seine Welt, in der er lebt, verantwortlich ist und diese prägen kann. Der Adel und Klerus mussten an Macht und Einfluss einbüßen, wohingegen das Bürgertum an Macht zulegen konnte. Religion und der Glauben an etwas Transzendentes trat den Weg in das Private an und verschwand schleichend von der großen Öffentlichkeit als Leitinstanz und gesellschaftlicher Strukturrahmen. Einer, der im Frankreich des 19. Jahrhunderts klare Vorstellungen davon hatte, wie in Zukunft eine Gesellschaft aussehen soll und optimal funktionieren kann, war der französische Mathematiker, Philosoph und Religionskritiker Auguste Comte. Comte wurde 1798 in Montpellier geboren und starb im Jahre 1857 in Paris. Comtes großes Anliegen war es, die Gesellschaft fundamental zu verändern. Sein über allem stehendes Kredo war, dass nur positives (tatsächliches, immanentes) Wissen genutzt werden kann, um gesellschaftliche Strukturen zu verändern und somit auch die Zukunft gut planen zu können. Comtes Positivismus, der eine Weiterentwicklung von Francis Bacons Wissenschaftskonzept ist, ist von höchster Relevanz und sollte einen beachtlichen Siegeszug vollziehen, der bis heute - besonders in den Naturwissenschaften und z.B. den Tech-Zentralen des Silicon Valley - seine Spuren hinterlassen hat. Spekulationen, die häufig und jahrhundertelang von der Kirche, besonders der katholischen, ausgegeben wurden, stellten für Comte ein großes Problem dar, da eine Überprüfung auf relative Gesetzmäßigkeiten hier nicht möglich war. Comtes Positivismus als eine Art Staats- und Gesellschaftsprinzip, zugleich aber auch Wissenschaftsprinzip mit dem Ziel einer gigantischen Transformation der damaligen chaotischen Gesellschaft in eine auf Fakten und immanenten Tatsachen abgezielte Gesellschaft, stellt der Religion ein fatales Zeugnis aus.

Gleichzeitig und dies wird der Kern des vorliegenden Diskussionspapier sein, übernimmt die Religion und bei Comte speziell der Katholizismus eine gewisse und nicht zu unterschätzende Funktion innerhalb einer Gesellschaft ein. Auguste Comte konstatiert in seinen Werken, dass die französische Gesellschaft Ende des 18. und anfangs bis Mitte des 19. Jahrhundert immer mehr durch Säkularisierungsbestrebungen gekennzeichnet ist, jedoch immer noch die Religion über einen stabilen Einfluss innerhalb der Gesellschaft verfügt (z.B. Universitäten) und den Menschen einen gewissen spirituellen Halt gibt. Comte entwirft daraufhin eine eigene Religion, eine positivistische Zivilreligion, die das Grundgerüst vom Katholizismus besitzt, jedoch sich durch andere Inhalte und Prozessionen von diesem unterscheidet. Comte möchte die Vorzüge einer Religion in seinen Positivismus einbauen, der in seinem Kern transzendentes Wissen als reine Spekulation abtut und die Religion als Institution ebenfalls als Spekulation ansieht.

Im folgenden Diskussionspapier soll der Positivismus Comtes in seinen Grundprinzipien dargestellt werden und mit Comtes Zivilreligion in Einklang gebracht werden. Die leitende Frage, die sich aus Auguste Comtes widersprüchliche Rolle von Glauben in seinem Positivismus ergibt, lautet, inwiefern Comtes Zivilreligion der Idealvorstellung seines Positivismus widerspricht. Das Diskussionspapier wird damit beginnen, theoretische Grundlagen, die bereits im Vortrag genannt wurden, zu nennen, um einen allgemeinen Überblick über Comtes Positivismus und sein Denken zu erhalten. Hier wird besonders das Drei-Stadien-Gesetz eine bedeutende und zentrale Rolle einnehmen, das unumgänglich ist, um die weiteren Diskussionspunkte nachvollziehen zu können und anschließend ebenso die Leitfrage beantworten zu können. Bei der Erläuterung des Drei-Stadien-Gesetzes wird der Fokus hauptsächlich auf das dritte Stadium liegen, da dies für unsere Argumentation am zentralsten ist, weshalb Comtes Positivismus nach der Vorstellung des Drei-Stadien-Gesetzes noch einmal genauer beleuchtet wird. Daraufhin wird die Religion des Positivums deskriptiv und in einem historischen Kontext dargestellt, was Voraussetzung dafür ist, einen eigenen Standpunkt mit entsprechender Argumentation zu entwickeln. Ebenso wird ausgeführt, warum eine Zivilreligion in den Augen von Comte nötig ist, um den Positivismus voll entfalten zu können. Nach dem Vorausgegangenen wird die Widersprüchlichkeit von Comtes Zivilreligion bezogen auf die Funktionslogiken des Positivismus dargestellt und argumentativ untermauert. Dies geschieht unter anderem mit der Thematisierung einer Sakralisierung im Bereich des Glaubens und des Wissens. Der deutsche Philosoph Hans Joas gibt uns hier einen theoretischen Rahmen, der unsere Argumentation bezogen auf die Leitfrage, stützt und interessante Einblicke gewährt, die Comtes Denken und kreieren einer Zivilreligion in ein anderes Licht erscheinen lassen. Am Ende des Diskussionspapier wird es ein Fazit geben, in dem die Leitfrage beantwortet wird und noch einmal die Kernpunkte der Arbeit genannt werden.

2. Kernelemente des Vortrags: Schaffung theoretischer Grundlagen

Im Folgenden werden die Kernelemente des Denkens Comtes, die bereits im Vortrag genannt wurden, nochmals erläutert, da diese ein Grundfundament stellen, um das weitere Diskussionspapier und seiner Argumentation folgen zu können. In diesem Abschnitt werden das Drei-Stadien-Gesetz sowie die Grundmerkmale und Besonderheiten Comtes Positivismus erläutert. Somit wird das dritte Stadium des Drei-Stadien-Gesetzes, das Stadium des Positivismus, näher und ausführlicher erläutert, da speziell aus diesem, Elemente und Argumentationen von Comte in das vorliegende Papier einfließen werden. Dieser Abschnitt ist somit Grundvoraussetzung für das weitere Verständnis des Diskussionspapiers.

2.1. Das Drei-Stadien-Gesetz Comtes

Das Drei-Stadien-Gesetz von Auguste Comte lässt sich als einen evolutionären Prozess verstehen. Das Drei-Stadien-Gesetz ist teleologisch ausgerichtet, ist also an einen Endpunkt, einem Ziel ausgerichtet. Das Drei-Stadien-Gesetz erinnert stark an das Geschichtsdenken von Hegel (Geschichtsphilosophie) sowie an das Höherentwicklungsprinzip von Lamarck, welches sich gut mit dem Drei-Stadien-Gesetz vergleichen lässt. Bei Lamarck hat sich der Mensch von einer anfangs primitiven Lebensform zu einer immer höheren entwickelt, damit verbunden auch neue kognitive Fähigkeiten wie etwa der Vernunft, die dem Menschen Möglichkeiten verschaffte, die ihn endgültig auf eine andere Stufe stellte als seine Vorfahren oder Mit-Lebewesen anderer Arten. Bei Lamarcks Höherentwicklungsprinzip wurde etwas vervollkommnet, etwas entwickelte sich von einem niederen Stadium zu einem höheren Stadium. Ist das Höherentwicklungsprinzip Lamarcks mittlerweile zwar als äußerst schwammig bis nicht als richtig zu erachten (Darwin), zeigt es doch Parallelen zu Comte auf. Dass Comte sich von Lamarck und dessen Gedanken einiges zu eigen gemacht hat, ist vorstellbar und wohl ebenso wahrscheinlich.

Bei Comtes Drei-Stadien-Gesetz durchläuft jedes Individuum, als Ganzes betrachtet, die Menschheit, drei unterschiedliche Stadien des Denkens/Wissens bis der Optimalzustand, das positive bzw. positivistische Stadium, erreicht wird. Comte spricht hier von einer „schrittweise frei gewordenen Intelligenz“1. Das theologische Stadium (fiktive) stellt das erste Stadium dar, das metaphysische Stadium (abstrakte) das zweite und das positive bzw. positivistische Stadium (reale) das dritte und damit das letzte. Comte betont, dass das letzte Stadium, das positive Stadium, ohne die vorangehenden Stadien nicht erreicht werden kann. Das theologische und das metaphysische Stadium sind somit Voraussetzung für das positive Stadium. Comte: „So unvollkommen jetzt auch eine solche Art und Weise des Philosophieres erscheinen mag [theologisches Stadium] - es ist sehr wichtig, daß der gegenwärtige Zustand des menschlichen Geistes [positivistisches Stadium] mit der Gesamtheit seiner vergangenen Zustände verbunden wird, da man so in angemessener Form erkennt, daß sie lange Zeit hindurch ebenso unentbehrlich wie unvermeidlich sein mußte.“2 Weiter spricht Comte von einer „langen Reihe notwendiger Vorstufen [bis zum letzten Stadium]“3.

Das theologische Stadium und damit das erste ist für Comte „vorbereitend“ und stellt die Grundvoraussetzung, um überhaupt erst zu den anderen beiden späteren Stadien zu gelangen. Im Überbau des theologischen Stadiums steht die Frage nach dem Absoluten, der Mensch stellt Fragen, die jegliche Sphären betreffen und die mit nur bloßer Erfahrung durch Beobachtung schwer beantwortet werden können. Der Mensch sucht nach „den wesentlichen Ursachen und Endursachen“, um zu einer „absoluten Erkenntnis“ zu gelangen4. Das theologische Stadium als ein Hauptstadium von dreien unterteilt Comte in drei Stadien bzw. Formen, die eine nähere Betrachtung in die Grundprinzipien des theologischen Stadiums ermöglichen. Die erste Form stellt der Fetischismus, die zweite der Polytheismus und die dritte der Monotheismus dar.

Der Fetischismus ist für Comte die ausgeprägteste Form der drei Formen innerhalb des theologischen Stadiums. Auszeichnet wird er dadurch, dass die Natur instinktiv magisch verehrt wird und den Himmelkörpern ein dem Menschen analoges Leben zugeschrieben wird. Comte stellt hier fest, dass dieser Geisteszustand sich kaum von den höheren Tieren unterscheidet. Der Mensch ist in dieser Form neugierig, kann der Neugier jedoch nur durch einfachste Antworten auf schwerste Fragen und Argumentationen nachgehen5.

Der Polytheismus zeichnet sich laut Comte dadurch aus, dass es hier nun eine Verehrung vieler Götter gibt (Viel-Götterglaube). Der menschliche Geist zeigt in dieser Form eine erhöhte bis hohe Einbildungskraft. Das Leben wird hier den materiellen Objekten entzogen und fiktiven Wesen gegeben. Von nun an sind es Götter, die für die natürlichen Phänomene verantwortlich sind. Als Beispiel seien hier die antiken Göttervorstellungen der Griechen oder der Römer genannt. Der Polytheismus zeigt im Gegensatz zum Fetischismus, dass „der theologische Geist klar das freie theoretische Übergewicht der Einbildungskraft [erreicht hat], während bis dahin Instinkt und Phantasie in den menschlichen Theorien vorherrschend waren.“6 Instinkt und Phantasie werden somit durch eine erhöhte kognitive Fähigkeit abgelöst.

Der Monotheismus bildet die dritte theologische Phase/Form. Der Monotheismus zeichnet sich durch einen Ein-Gott-Glauben aus, in dem Comte zufolge, die anfängliche Philosophie im Verfall begriffen ist, sie erlebt einen „intellektuellen Niedergang“7. Hier stellt sich heraus, dass natürliche Phänomene an „unveränderliche Gesetze gebunden sind“8. Die Einbildungskraft lässt nach. Im Monotheismus kommt immer mehr das menschliche, kognitive und rationale Denkpotenzial hervor, sodass das nächste Stadium eingeleitet werden kann: Das metaphysische.

Das metaphysische Stadium, auch das abstrakte Stadium, ist für Comte näher dem theologischen Stadium einzuordnen als dem positiven. Comte sieht es als ein Zwischenstadium („einer Art Zwischenphilosophie“9 ) an, ähnlich der Pubertät zwischen Kind-Sein und Erwachsen-Sein. Hier verliert die Vorstellung, dass es Götter gibt, die über das Schicksal der Menschen und deren Welt entscheiden, immer mehr an Boden. Abstrakte Kräfte, wie z.B. die Natur und ihre Gewalten, werden anstelle eines personalen, fiktiven Gottes gesetzt bzw. kommen vermehrt auf. Nichtsdestotrotz blieben auch im metaphysischen Stadium existenzielle Fragen bestehen, diese wurden jedoch wissenschaftlicher versucht zu beantworten. Trotzdem gingen Antworten auf komplizierte Fragen immer noch häufig über das Wahrnehmbare hinaus und stellten somit ein Problem der Überprüfbarkeit dar. Das Denken etwa über Bestehendes, das reine Sein, wurde erstmal als eine Art Disziplin verstanden: Der Ontologie. Die Gedanken und Fragen wurden strukturierter, rationaler, jedoch nicht zwingend beantwortbarer10. Hinter dem Deckmantel der Ontologie und deren Inhalten verbarg sich weiterhin das Problem der Suche nach der absoluten Wahrheit oder den absoluten Gründen des Seins. Comte fasst das metaphysische Stadium und dessen Kern in Bezug auf das nächste Stadium des Positivismus endbetrachtend wie folgt zusammen: „Die herrschenden Theorien haben hier den gleichen Grundcharakter einer zu Gewohnheit gewordenen Neigung zu absoluten Erkenntnissen bewahrt: Nur die Lösung hat eine beachtliche Umbildung erfahren, die besser geeignet war, den Aufschwung positiver Vorstellungen zu erleichtern.“11 Beide o.g. Stadien bilden somit die Voraussetzung für das dritte und letzte Stadium: Das positive bzw. das positivistische.

Die o.g. „schrittweise frei gewordene Intelligenz“12 ist im dritten Stadium des Positivismus, des positiven Stadiums, an ihr Ende gekommen. Das dritte Stadium ist laut Comte der Endpunkt der geistlichen Entwicklung und somit zugleich das fortschrittlichste Stadium. Transzendentes, über das es nichts zu sagen gibt, weil es nicht belegt/bewiesen werden kann, wird ignoriert. Stattdessen wird sich auf das tatsächlich, positive Immanente, also die Welt überprüfbarer Tatsachen, konzentriert. Comte ist hier äußerst klar, wenn er sagt: „[...] Das Gesetz oder die ständige Unterordnung der Einbildungskraft [Glauben] unter die Beobachtung [Wissen].“ Die Suche nach der absoluten Erkenntnis hat ein Ende, die vormals starke Einbildungskraft, auch befeuert durch Religionen, erlischt13. Comte geht es darum nur noch das Tatsächlich-Zuwissende zu ergründen und dadurch, durch das Vortasten und das Forschen, Gesetzmäßigkeiten zu finden, die in transzendenten Sphären als Mensch nicht zu ergründen sind, weil sie schlicht nicht zu erforschen sind, es keine Belege dafür gibt. Für Comte zeichnet sich das dritte Stadium weiter dadurch aus, dass es frei von jeglicher theologischen und metaphysischen Spekulation ist. Das, was man nicht sehen, ergründen, beobachten und messen kann, ist reine Spekulation und hat wenig Nutzen für die Gesellschaft, die Comte zu seiner Zeit mit eben diesem Prinzip verändern wollte. Das Wissen, sinnbedeutend für den Begriff positiv im Begriff des positiven Stadiums, muss nützlich, gewissenhaft, genau und anlegt sein, um relative14 (anders als früher, absolute) Existenzbedingen zu ergründen und dadurch Lehren zu ziehen. Wenn das Wissen diese Elemente aufweisen kann, nach diesen Prinzipien fungiert, kann es Grundlage für Fortschritt und Ordnung sein. Wichtig im positiven Stadium ist zudem der Umstand, dass Gesetze (bei Comte konstante Beziehungen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen15 ) nicht nur aus einer Akkumulation von Fakten entstehen, sondern mit einer „rationalen Voraussicht“ betrachtet werden müssen16. Das Stadium des Positivismus zeichnet außerdem dadurch aus, dass „keine Behauptung, die nicht genau auf die einfache Aussage einer besonderen oder allgemeinen Tatsache zurückführbar ist, einen wirklichen und verständlichen Sinn erhalten kann“17. Dies sieht Comte als Grundregel im positiven Stadium. Mit dem wissenschaftlichen-rationalen Wissen und dessen Aufzeigen von relativen Existenzbedingen, kann Gesellschaft, ohne transzendentale Spekulation, geplant werden. Der Mensch kann sich somit voll entfalten und zu Höchstleistungen aufsteigen, die in den beiden anderen Stadien aufgrund ihrer Eigentümlichkeit nur bedingt möglich waren.

2.2. Comtes Positivismus

Für ein vollständiges Verständnis von Comtes positivistischen Ideen ist es unabdingbar, sich die historischen Gegebenheiten zur Zeit seines Lebens zu vergegenwärtigen. Geboren wurde Auguste Comte am 19. Januar 1978 im südfranzösischen Montpellier. Er starb 1857 im Alter von 59 Jahren in Paris. Seine Geburt fiel mitten in die Zeit der Französischen Revolution. Fast das gesamte Leben des Philosophen spielte sich, mit Hinblick auf das politische System Frankreichs, in einer Zeit fortwährender Umbrüche ab. Auslöser für diese historischen Turbulenzen war ein radikaler Überzeugungswandel, welcher sich mit dem auslaufenden 18. Jahrhundert in aufgeklärten Ländern durchgesetzt hatte: Neuerdings galt die Annahme, dass die Strukturen von Gesellschaften und politischen Systemen nicht mehr auf eine wie auch immer geartete göttliche Fügung zurückgeführt werden könne, sondern als Ergebnis menschlichen Handelns betrachtet werden müsse. Demzufolge versprach eine systematische Sozialwissenschaft, basierend auf Wissen, welches aus empirischen Beobachtungen hervorgeht, eine perfekte Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft. Comte war an der Entstehung dieser wissenschaftlichen Disziplin maßgeblich beteiligt, weshalb er dieser Tage als Mitbegründer und Namensgeber der Soziologie bezeichnet wird.18

Das gesellschaftliche und politische Chaos zu Comtes Lebzeiten lässt den ausgeprägten Wunsch nach gesellschaftlicher Steuerung, welcher Comtes Positivismus prägt, als nachvollziehbar erscheinen, schließlich wechselte das politische System Frankreichs in der Zeit von 1789 bis 1848 nahezu kontinuierlich: Das Ziel der Französischen Revolution von 1789 war es, die Ideale der Aufklärung durchzusetzen sowie Monarchie und Willkürherrschaft abzuschaffen – Comte fühlte sich diesen Gedanken und Zielen überaus verbunden. Es gelang den Akteuren der Revolution jedoch nicht, ein neues, stabiles politisches System aufzubauen. Die erste Republik ging in der Terrorherrschaft von Maximilien Robespierre unter.19 1799 folgte Napoleon Bonaparte, welcher ab 1804 sein Kaiserreich errichtete.20 Die 1814 von Ludwig XVIII begonnene und nach seinem Tod im Jahre 1824 von seinem Bruder Karl X fortgeführte Restaurationsphase, welche zum Ziel hatte, Verhältnisse wie vor der Revolution wiederherzustellen, wurde 1830 von der Julirevolution beendet. Der nachfolgende König Louis-Phillipe wurde nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution von 1848 abgesetzt, woraufhin es zur Ausrufung der Zweiten Französischen Republik kam.21 Für die französische Gesellschaft riefen diese unaufhörlichen Umbrüche die Frage nach der Ausgestaltung eines geordneten Übergangs auf den Plan. Um Antworten auf die Fragen nach Stabilität zu liefern, verband Comte zu Beginn seiner philosophischen Karriere sozialutopische Gedanken des Frühsozialisten Henri de Saint-Simon, welcher großen Einfluss auf die Philosophie Comtes hatte, mit der Klarheit der von ihm favorisierten mathematischen Methode. Nach einem Zerwürfnis 1824 begann Comte jedoch allein mit der systematischen Erforschung und Publikation seiner positivistischen Ideen. In einer privaten Vorlesungsreihe in seinem Wohnzimmer, welche von einem andauernden psychischen Zusammenbruch unterbrochen wurde, erläuterte er seine Ideen vor Publikum. Die Vorlesungen erschienen von 1830 bis 1842 in Buchform unter dem Titel Cours de philosophie positive.22 Die Rede über den Geist des Positivismus beinhaltet die wichtigsten Ergebnisse der gerade genannten Buchreihe in konzentrierter Form, aufgrund dessen basiert die nachfolgende Darstellung von Comtes Positivismus maßgeblich auf diesem Werk.

Welche Eigenschaften hat Comtes Positivismus und welche Auswirkungen bringt dieser für die Gesellschaft mit sich? Comte ist kein Anhänger der Demokratie und des Repräsentativsystems. Die staatliche Ordnung der Zukunft soll weder von der Willkür der Könige noch der Willkür des Volkes abhängen. Stattdessen schlägt Comte die wissenschaftliche Einsicht einer neuen Führungsschicht als leitendes Motiv vor. Seine Vorstellung von Positivismus sieht Comte erst dann als erfüllt an, wenn sämtliche Wissenschaften positiv geworden sind, also das dritte Stadium, welches im vorangehenden Kapitel bereits vorgestellt wurde, erreicht haben. Die hauptsächliche Eigentümlichkeit besteht hierbei in der „ständigen Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung“, beziehungsweise der vollständigen Ausprägung schrittweise freigewordener Intelligenz im endgültigen Stadium rationaler Positivität.23 Forschung mit dem Anspruch absolut vollständige Antworten zu liefern, lehnt Comte ab – dies sei „nur in (…) der Kindheit [des menschlichen Geistes] angemessen“. Stattdessen solle sich der Geist auf „echte Beobachtung“ fokussieren und spekulative Gedanken, welche sich ohnehin nicht auf beweisbare Fakten beziehen und zu endlosen Debatten führen würden, unberücksichtigt lassen.24 Anstelle der unerreichbaren Bestimmung von Endursachen tritt in Comtes Positivismus die einfache Erforschung von Gesetzen, also konstanter Beziehungen zwischen beobachtbaren Phänomenen, in den Vordergrund.25 Kurz gesagt: Comtes Positivismus fordert nach einer systematischen Beurteilung dessen was ist. Dabei wohnt dem positiven Geiste eine relative Natur inne: Das heißt, dass Erkenntnisse niemals endgültig sein können, weil sowohl Begriffe als auch Theorien einem kontinuierlichen Wandel unterliegen. Jeglicher Absolutheitsanspruch wird abgelehnt, stattdessen versucht der Positivist der Wahrheit immer näher zu kommen und somit zunehmend befriedigende Aussagen über die Beschaffenheit der Realität und damit einhergehend von Gesetzen tätigen zu können.26

Der Endzweck von Comtes Positivismus ist die rationale Voraussicht. Es handelt sich, nach der ständigen Unterordnung von der Einbildungskraft, um die zweite bedeutsame Grundbedingung der Lehre Comtes, mit welcher er sich insbesondere von einem naiven Empirismus abgrenzt. Diesem unterstellt er gar, dass es sich dabei bloß um eine „Anhäufung zusammenhangsloser Fakten“ handelt.27 Darüber hinaus sagt Comte dem Empirismus eitle Gelehrsamkeit nach, welche vom echten positiven Geist ebenso weit entfernt sei, wie vom Mystizismus. Bloße Tatsachen sind für Comte lediglich die Rohstoffe, aus denen die rationale Voraussicht gewonnen wird. Dies ist die logische Konsequenz der konstanten Relationen der Erscheinungen, beziehungsweise der unveränderlichen Naturgesetze: Eine Eigenschaft, welche ebenso wichtig für den praktischen Nutzen als auch die Würde sämtlicher Theorien ist, weil ohne mehr als die bloße Erforschung fertiger Erscheinungen zu leisten, keine Änderung ihres Ablaufs möglich wäre.28 „So besteht der wahre positive Geist vor allem darin, zu sehen, um vorauszusehen, zu erforschen was ist, um darauf aufgrund des allgemeinen Lehrsatzes von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze das zu erschließen, was sein wird.“29

Ein weiterer Zweck der positiven Philosophie ist die vollständige und dauerhafte Geistesharmonie: „Alle unsere wahren logischen Bedürfnisse streben also wesentlich dem selben gemeinsamen Ziele zu: Soweit wie möglich durch unsere systematischen Theorien die ursprüngliche Einheit unseres Verstandes durch Herstellung der Kontinuität und Geschlossenheit unserer Vorstellungen zu befestigen, um so auch den gleichzeitigen Forderungen nach Ordnung und Fortschritt zu genügen, indem sie uns in mitten des vielfältigen Wechsels die Konstanz wiederfinden lassen.“30 Im theologisch-metaphysischen Stadium war laut Comte die theologische Philosophie die einzige, welche die Gesellschaft in eine systematische Ordnung zu bringen vermochte, weil sie die ausschließliche Quelle einer gewissen geistigen Harmonie war. Da das Privileg auf logische Geschlossenheit auf den positiven Geist übergegangen sei, bestünde erstmals die reelle Chance auf die universelle Vereinigung der Menschheit – ein Ziel welches der Katholizismus im Mittelalter verfrüht in Angriff genommen habe, welches aber Aufgrund der theologischen Natur seiner Philosophie zum Scheitern verurteilt war, weil diese im Gegensatz zur positiven Philosophie eine zu geringe logische Geschlossenheit aufweisen würde, um eine derartige soziale Wirksamkeit zu entfalten.31

2.3. Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Theologie

Comte selbst macht in seiner Rede über den Geist des Positivismus deutlich, dass die Charakteristik der Wissenschaft mit derjenigen der Theologie unvereinbar sei, egal ob diese in ihrer Art monotheistisch, polytheistisch oder fetischistisch ist. Auf den ersten Blick stünden Wissenschaft und Theologie nicht im offenen Gegensatz zueinander, weil sie sich nicht den gleichen Aufgaben annehmen. Mit zunehmender Ausdehnung der rationalen Positivität, insbesondere „auf das unmittelbare Studium der Natur“ wurde der Konflikt der beiden Gedankenkreise jedoch unvermeidlich.32 Die für die menschliche Vernunft unerreichbaren Spekulationen der Theologie befinden sich seit dem zutage treten dieser Entwicklung im offenen Widerspruch zum positiven Geist, welcher allen Gegenständen gegenüber kleinschrittig, detailliert und exakt vorgeht.

Der Widerspruch zwischen Theologie und Wissenschaft, oder auch Glauben und Wissen, manifestiert sich Comte zufolge in Methode und Lehre. Erscheinungen werden in der Theologie auf „leitende Willenskräfte“ zurückgeführt, in der positivistischen Wissenschaft auf unwandelbare Gesetze.33 Die Wandelbarkeit jeder Willenskraft ist völlig unvereinbar mit der Konstanz wirklicher Relationen, also den unveränderlichen Naturgesetzen. Diese Erkenntnis untermauert Comte mit folgender Beobachtung: Sobald physikalische Gesetze bekannt wurden, kam es zu einer Einschränkung übernatürlicher Willenskräfte, weil diese meist nur für Erklärungen von Phänomenen herangezogen wurden, auf welche die Wissenschaft noch keine Antworten wusste, beziehungsweise keine Gesetzmäßigkeiten zu benennen vermochte. Stellt man rationale Voraussicht der Weissagung auf Grund besonderer Offenbarung gegenüber, beides Methoden zur Vorausbestimmung, wird dieser Widerspruch offenbar. Historisch betrachtet wird dieser Widerspruch vor allem mit Hinblick auf die fetischistische und polytheistische Phase der Theologie offensichtlich. Die Unwandelbarkeit physikalischer Relationen waren ab dem Moment mit der Theologie unvereinbar, sobald sie eine gewisse systematische Geschlossenheit erlangt haben. Folglich erzwangen derartige Erkenntnisse nach und nach die Umbildung und Reduzierung des theologischen Glaubens.34

Für den Übergang von der Theologie zur Wissenschaft als leitender Ideologie brauchte es Comte zufolge jedoch das Stadium der Metaphysik. Grund dafür ist die mangelnde Allgemeinheit des positiven Geistes sowie die naturgemäß langsame und sich nur schrittweise vollziehende Entwicklung der positiven Philosophie. Demzufolge gelang es dieser nicht auf Anhieb, die eigenen philosophischen Gedanken, welche sich in den vergangenen Jahrhunderten entwickelten, angemessen zu formulieren. Allein die Metaphysik sei Comte zufolge im Stande, "den ursprünglichen Gegensatz von entstehender Wissenschaft und alter Theologie in ein angemessenes System zu bringen.“35

Der kontinuierliche Fortschritt führte Comtes Vorstellung zu Folge zur Umwandlung des Fetischismus in den Polytheismus sowie zur weiteren Reduktion des Polytheismus auf den Monotheismus. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Astronomie verhalfen der sogenannten neuen Philosophie schlussendlich dazu, organischen Character anzunehmen und die Theologie vollständig in ihrer sozialen Aufgabe sowie geistlicher Funktion zu ersetzen. Die Entdeckung der doppelten Erdmechanik und daraus resultierend der Begründung der Himmelsmechanik, sorgten für eine Ausdehnung des Konfliktes von Glauben und Wissen, von Wissenschaft und Theologie, bis auf den einfachsten Monotheismus.36

Der Gedanke an eine plötzliche, willkürliche Störung der Naturordnung muss jeder noch so reduzierten Theologie innewohnen. Die mit den astronomischen Erkenntnissen wachsende Grundüberzeugung der Unwandelbarkeit der Naturgesetze zerstörte laut Comte nach der fetischistischen und der polytheistischen nun auch der monotheistischen Theologie jegliches tragfähige Fundament. Die Einschränkung des Monotheismus in der letzten Periode des Mittelalters, in welcher die scholastische Lehre theoretisch vorherrschte und dem höchsten Beweger (Gott) eine ewige Unterwerfung unter selbstauferlegte Gesetze unterstellte, unterstreicht den Niedergang der Theologie, welche der positiven Philosophie den schrittweisen Triumph ermöglichen sollte. Jedoch ist auch klar, dass die positive Philosophie zunehmend die Unvollkommenheit der realen Ordnung hervortreten lässt. Die Wissenschaft ersetzt die Lehre von den Endursachen durch das Prinzip der Existenzbedingungen. Umso komplexer die erklärten Probleme sind, desto größer die entstehenden Erklärungslücken. Die notwendige Unvollkommenheit schrittweise mithilfe der positiven Philosophie zu modifizieren und zu erhellen ist demzufolge das Ziel sämtlicher Bemühungen des Positivisten.37

3. Die Religion des Positivismus

Im Folgenden seien Begründung und Aufbau der Comte´schen Zivilreligion ausführlich dargelegt. Mithilfe einer deskriptiven Einordnung des historischen Kontexts und die mit jenem verbundenen Problemperzeptionen Comtes soll eine Einsicht in dessen Rechtfertigungsstruktur ermöglicht werden. Weshalb ist die doch eigentlich positiv und von aller Religion und Metaphysik emanzipierte Gesellschaft auf die Religion de l’Humanité – die Religion des Positivismus angewiesen? Während die Untersuchung und explizit kritische Diskussion um die (möglicherweise) paradoxe Natur dieser These im Anschlusskapitel erfolgt, sei hier zunächst versucht, die Argumente Comtes rein-deskriptiv aufzuführen. Der zweite Teil dieser Sektion schließlich liefert eine Beschreibung des (von Comte imaginierten) Aufbaus seiner Zivilreligion.

3.1 Die Notwendigkeit einer neuen Zivilreligion

Zunächst gilt es, sich mit der Frage zu auseinanderzusetzen, worin Auguste Comte den Nutzen seiner neuen Zivilreligion gesehen hat. Wir identifizieren zum einen eine sozialphilosophische und zum anderen eine anthropologische argumentative Herleitung. Erstere findet darin ihren Ausdruck, dass Comte das Prädikat der Ordnung als Grundvoraussetzung für gesellschaftlichen, oder – um seiner humanistischen Orientierung gerecht zu werden – Fortschritt des gesamten Menschengeschlechtes sieht. Gerade dieses Ideal einer sozialen Ordnung scheint im frühen 19. Jahrhundert zu Comtes Lebzeiten in seiner Wahrnehmung so gefährdet wie nie, vor allem aufgrund der inneren Zerrissenheit der französischen Gesellschaft infolge der Revolution von 1789.38 So lehnte er nicht nur die Kirche und deren Glaubensinhalte als obsolet ab, sondern auch die neuentstandenen Ideale der Aufklärung, die mit der Überbetonung und Verherrlichung des Individuums jeglicher Ordnung zuwiderliefe.39 Dunham beschreibt Comtes Haltung gegenüber der kirchlichen Scholastik und den aufklärerischen Individualisierungstendenzen folgendermaßen: „He [Comte] rejected both of these historic attitudes. […] The individualism of the Revolutionary program denied the fundamental principle on which all philosophy rests, namely, the solidarity of social interests.”40 Hier findet sich die zentrale sozialphilosophische Annahme Comtes: Menschen haben gemeinsame Interessen und handeln im Kollektiv, um jene zu erreichen. Das Individuum ordnet sich dieser „gesellschaftlichen Mission“ ganz im Sinne altruistischer Ideale unter.

Besonders kritisch sah Comte die Schriften des französischen Aufklärers Jean-Jacque Rousseau, die den natürlichen, also noch vor-sozialen Menschen idealisieren. Gesellschaft, so Rousseau, verfälsche die originale Reinheit.41 Für Comte wird der Mensch dagegen erst Mensch, wenn er voll in der Gesellschaft aufgeht – allein so wird gesellschaftlicher Fortschritt möglich. Die Entfesselung des Individuums, so habe sich infolge der Revolution gezeigt, bringe der Menschheit kein Heil, sondern zeige lediglich die verheerenden Folgen einer Ablehnung sozialer Ordnungsvorschriften. Die Attitüde des „Laissez faire“ hat kein neues Jahrtausend voller ökonomischer Wunder erbracht, sondern den Aufstieg eines hemmungslosen Interessenwettkampfs induziert, der, sollte es nicht schon bald ein neues ordnendes Prinzip geben, zwangsläufig in der „dissolution of society“42 endet.

So sehr Comte das religiöse Dogma der katholischen Kirche auch ablehnte, so empfand er gleichzeitig große Anerkennung gegenüber ihrer jahrhundertelangen Fähigkeit der Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Kompetenz der katholischen Organisation während des Mittelalters „were to him a masterpiece of political sagacity“43. Immerhin wusste sie die von ihr geschaffene Ordnung trotz mehrerer gesellschaftlicher Umbrüche (Renaissance, Reformation und Entstehung des Nationalstaates) aufrechtzuerhalten und gewährleistete demzufolge die von Comte so hochgeschätzte soziale Ordnung.

Neben diesem eher sozialphilosophisch geprägten Argument, in dem Ordnung innerhalb einer Gesellschaft zur primären Bedingung für Fortschritt erhoben wird, findet sich darüber hinaus noch eine anthropologische Annahme, die eine Zivilreligion in der Wahrnehmung Comtes erforderlich macht. Jene besteht aus dem empirischen Befund seinerseits, dass die Menschen grundsätzlich auf der Suche nach dem einen absoluten Prinzip sind, dem sie sich vollständig hinzugeben bereit sind. Die immanente oder empirische Welt ist – im Gegensatz zur transzendenten Sphäre – laut Comte der Bereich, auf den allein die positive Methode der Überprüfung angewendet werden kann. Doch die materielle Welt ist unfähig, das dem Menschen so zentrale und handlungsleitende Absolute darzubieten. Das eine Prinzip, das Einheit und so Sinnhaftigkeit aller Erscheinungen suggeriert, kann allein in der religiösen bzw. metaphysischen Sphäre gefunden werden, so Comtes Ein- und Zugeständnis an die für ihn doch eigentlich zu überwindenden Phasen der menschlichen Geistesentwicklung.44 Die Menschheit wird bei ihm schließlich zum Surrogat Gottes und neuen, allem anderen übergeordneten Prinzip, das dem Menschen fortan Orientierung ermöglichen soll. Im Laufe des folgenden Unterkapitels finden sich diesbezüglich genauere Ausführungen. Wichtiges Element dieser anthropologischen Argumentation ist des Weiteren das der Liebe. Liebe, so Comte, würde ein jeder Mensch empfinden.45 Das Gleiche gelte für den Wunsch, der eigenen Liebe Ausdruck zu verleihen, wofür es allerdings einen adäquaten Adressaten brauche. Hier sei erneut auf das Absolute verwiesen, das ebenjene Adressatenrolle einnimmt und so zum Empfänger der unerschöpflichen Liebe des Menschen wird.46 Comtes Grundsatz „Liebe als Grundsatz, Ordnung als Grundlage, Fortschritt als Ziel“47 fasst seine Philosophie und sein Plädoyer für die Religion des Positivismus zusammen. Allein ihr gelinge es, mit der Schaffung eines neuen absoluten Prinzips die menschliche Hingebung zu entfesseln und so soziales Handeln anzuleiten, darüber hinaus gewährleistet sie gesellschaftliche Ordnung und Stabilität als sicheres Fundament und notwendige Bedingung für Fortschritt.

3.2 Die Struktur der Religion de l’Humanité

Wie es bereits das für Comte obsolete katholische Christentum war, so sollte auch die Religion des Positivismus eine Institution bestehend aus drei Kernelementen sein. Diese Inspiration ergab sich natürlich aus der bereits erwähnten Anerkennung der organisationalen Kompetenz der Kirche. Für die volle Entfaltung der Comte´schen Zivilreligion brauche es eine Doktrin (dogme), ein moralisches Regime (régime) und ein kultartiges Verehrungssystem (culte).48 Die Doktrin, die ein jeder Mensch verinnerlichen sollte, bestand aus den Grundsätzen der positiven Philosophie. Die in jener Philosophie propagierte szientistische Methode der ständigen Überprüfung vom auch tatsächlich Überprüfbaren zum Zwecke der Erlangung objektiver Wahrheit sollte einem jeden vertraut sein und selbst das Alltagsdenken strukturieren. Für die Verbreitung jener Doktrin im Volk, brauche es weitreichende Bildungsreformen.49 Die Gesamtbevölkerung solle lernen, dass die „positiven Fächer“50 nicht ausschließlich den Gelehrten vornehalten sind, sondern zum geistigen Repertoire eines jeden Gesellschaftsmitgliedes zu zählen haben.

Bildung sei ebenso Voraussetzung für die Durchsetzung des moralischen Regimes, dessen Grundlage der Altruismus war. Der Test von Tugend bestand in erster Linie aus der Frage, wie sehr man die eigenen den gesellschaftlichen Bedürfnissen unterordnete51: „What it entailed for the individual was a life-long process of moral education […].“52 Dieser Prozess beginnt zunächst zuhause mit der Mutter als Lehrerin, wird in den Schulen durch männliche positivistische Priester und ein grundverändertes Curriculum fortgeführt und in systematisch organisierten Zeremonien und Ritualen gefestigt. Besondere spirituelle Autorität und die Rolle des Trägers des moralischen Regimes (folglich auch die des Lehrers) sollte den „scientists-philosophers-teachers-pastors“53 zukommen, die demzufolge Wissenschaftler und Priester zugleich waren. Warum aber sind in der Moral Comtes die gesellschaftlichen Bedürfnisse den individuellen übergeordnet? Hier wird die humanistische Re-Definition des Absoluten zentral.

Der absolute Gott, der infolge der szientistisch-positivistischen Bewegung zwangsläufig verschwindet wie eine Kindheitsgeschichte, der man als Erwachsener qua besseren Wissens nicht länger Glauben schenkt, hinterlässt eine schmerzvolle Lücke. Schließlich war er es, der für eine einheitliche Zusammenarbeit aller Dinge zum Wohle der von ihm geschaffenen Kreaturen sorgte. Die positivistische Religion allerdings weiß diesen Verlust gleichwertig zu kompensieren, indem sie die Menschheit zum absoluten Prinzip erklärt. Auch sie sorgt für die Zusammenarbeit einzelner Teile (der Gesellschaftsmitglieder) durch freiwillige und vollständige Hingebung jener zu ihr. Die Menschheit wird – wie schon der christliche Gott – durch Schaffung von Sinn zum neuen handlungsanleitenden Prinzip. Infolgedessen braucht es keinen anderen Gott, die Menschheit wird an seiner statt zum Empfänger der dem Menschen stets innerlichen Liebe.54 Comte selbst bringt es folgendermaßen auf den Punkt: Die Religion of Humanity sei „[the] substitution of the permanent government of humanity for the provisional government of God.”55

Die Schaffung eines Kults als drittes Element der Church of Humanity sah zwar ein dem Ordnungsprinzip Comtes entsprechend organisiertes aber dennoch emotional exaltiertes Verehrungssystem vor. Zeremonienleiter sollten auch hier wieder die „Wissenschaftspriester“ sein. Volksfeste, Anbetungen zuhause „at the family hearth“56 und an Ahnengräbern, zudem dreimal täglich das Aussprechen privater Gebete sollten feste Bestandteile des positivistischen Verehrungskultes werden. Des Weiteren plante Comte die Schaffung eines positivistischen Kalenders, in dem jeder Monat nach einer großen historischen Persönlichkeit benannt wird. Primäre Aufgabe der aktiven Huldigungen war es, die hingebungsvolle Liebe zur Menschheit stetig aufs Neue hervorzurufen. Denn es ist nicht nur die in der Comte´schen Doktrin festgelegte Ausrichtung des Intellekts, die das Handeln strukturiert – auch Gefühle sind aus dieser Gleichung nicht wegzudenken.57 Die teilweise im Kollektiv vollzogenen Rituale sollten darüber hinaus altruistische Orientierungen stärken und so dem aus Sicht Comtes gefährlichen aufklärerischen Impuls zur gesellschaftlichen Individualisierung entgegenwirken. Die Funktionalität von Ritualen sah Comte demzufolge nicht zuletzt in der Stärkung des sozialen Kitts.58

4. Die Widersprüchlichkeit innerhalb Comtes Denken

In diesem Kapitel setzen wir es uns zum Ziel, einzelne paradoxe Elemente in Auguste Comtes Denkgebäude aufzuzeigen und so kritisch zu beleuchten. Seine Erzählung von der Verwissenschaftlichung und Emanzipation des positiven Stadiums von jeglicher transzendentalen unüberprüfbaren Spekulation verbindet sich mit der Forderung nach einer (im vorangegangenen Kapitel näher beschriebenen) Zivilreligion und damit einhergehenden uneingeschränkten Autorität der positiven Wissenschaft. Vor allem die Methode der Zuschreibung ihrer Gültigkeit ist aus unserer Perspektive nicht vereinbar mit den streng szientistischen Ansprüchen Comtes. Hinzu kommt die Betonung der Menschheit als neues, absolutes Ideal. Dieser kritische Teil baut zu einem wesentlichen Teil auf der Sakralisierungstheorie von Hans Joas auf, die primär als Alternative zu Max Webers wirkmächtiger und aus Joas Sicht „gefährlichen“59 Entzauberungsthese entwickelt wurde.60 Zwischen dem Weber´schen Narrativ der durch die Verwissenschaftlichung induzierten Entzauberung und dem positiven Stadium des menschlichen Denkens bei Comte sehen wir Parallelen, die Joas Ausführungen auch auf letzteren anwendbar machen.61

Was bei Weber die Rationalisierung, ist bei Comte die Entwicklung der positiven Gesellschaft. Auch bei dem deutschen Soziologen werden Ordnung und Systematisierung als Kerncharakteristika der Rationalisierung betont.62 Darüber hinaus attestieren beide der Religion einen signifikanten Bedeutungsverlust in Folge der gesellschaftlichen Verwissenschaftlichung.63 Daraus kann geschlussfolgert werden, dass Joas´ Sakralisierungstheorie nicht nur als Antwort auf Weber, sondern auch als Gegenargument zu Comte gelesen werden kann. Das gilt es in dieser Sektion schrittweise aufzuzeigen.

Bevor wir auf die Widersprüchlichkeiten bei Comte näher eingehen, seien an dieser Stelle zunächst einige relativierende Anmerkungen geäußert. Ein generelles Phänomen ist laut Joas die starke wechselseitige Beziehung zwischen anthropologischen und religiösen Prämissen.64 Comte bildet keine Ausnahme dieser Regel. Wie im vorigen Kapitel aufgezeigt, rechtfertigt er die Notwendigkeit seiner Zivilreligion mithilfe von Aussagen zur Natur des Menschen und der Gesellschaft. Ersterer ist auf ein absolutes Prinzip angewiesen, dem er sich völlig hinzugeben bereit ist und nach jenem er handeln kann, letztere benötigt für Fortschritt Ordnung und Stabilität. Hier findet sich zunächst ein bemerkenswerter gemeinsamer Nenner zwischen Comte und Joas, deren Denken sich doch zunächst diametral entgegenzulaufen scheint. Wenn Comte auf die universelle Angewiesenheit des Menschen auf etwas Absolutes verweist, so spiegelt das Joas´ Argument des Faktums der Idealbildung. Beide betonen zudem die handlungsanleitende Funktion dieses übergeordneten Prinzips bzw. der Ideale. Weiß Comte also um die Widersprüche seines Denkens und ist er demzufolge ambiguitätstoleranter, als es sein Plädoyer für den Positivismus vermuten lässt, der doch eigentlich nur streng überprüfte Hypothesen als gültiges Wissen akzeptiert? Vielleicht laufen wir Gefahr, etwas an Comte zu kritisieren, was jenem längst klar ist. Er selbst spricht immerhin von einer Religion des Positivismus. Seine genauen und für uns überraschend reflektierten Ausführungen bezüglich der Angewiesenheit des Menschen auf höhere Ideale lassen das nicht völlig ausgeschlossen erscheinen.

Forscher, die sich mit der Vita Comtes befasst haben, weisen darüber hinaus auf einen persönlichen Wendepunkt in seinem Leben hin, der auch für Anpassungen seines wissenschaftlichen Denkens verantwortlich sein könnte. Eine von ihm verehrte Großbürgersgattin verstarb krankheitsbedingt frühzeitig, was viele als ein für Comte einschneidendes Erlebnis interpretieren. Was folgte, war sein Eingeständnis an das menschliche Bedürfnis zu lieben und die Entwicklung seiner Religion of Humanity.65 Zumindest zeitlich ist dieser Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen. Es zeigt sich hier, dass man Comtes theoretische Widersprüchlichkeit auf ein persönliches Trauma zurückführen kann und weniger auf ein (mangelndes) Kalkül. Diese Erklärung wäre vergleichsweise trivial, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Zweck dieser Arbeit ist es aber auch nicht, die Gründe für Comtes intellektuelle Inkonsistenz herauszuarbeiten, sondern jene zu beleuchten. Nichtsdestotrotz erschien es uns wichtig, die Angemessenheit der hier erfolgenden Kritik unsererseits kurz zu reflektieren.

4.1 Sakralisierung und Idealisierung á la Comte

Wie oben bereits erwähnt, widerspricht Hans Joas der These von einer gesamtgesellschaftlichen und vollumfänglichen Emanzipation transzendentaler Glaubensvorstellungen zugunsten einer Rationalisierung oder Verwissenschaftlichung. Seine Argumentation diesbezüglich geht von der anthropologischen, für ihn unumstößlichen Prämisse der menschlichen Idealbildung infolge von Sakralisierungsprozessen aus: „Für meine Argumentation auf anthropologischer Ebene war vor allem eine solche Tatsache zentral, die ich als »Faktum der Idealbildung« bezeichne […].“66 Diese historisch vielfältigen Ideale, also Vorstellungen über das absolut Gute, so Joas, würden menschliches Zusammenleben zu einem wesentlichen Teil strukturieren.67 Sakralisierung, also die Zuschreibung von Heiligkeit, und die daraus folgende Idealbildung (letztere muss nicht notwendigerweise aus ersterem folgen, dafür braucht es eine nachgeordnete Ethisierung68 ) sind aus unserer Sicht integrale Bestandteile in Comtes Zivilreligion. Das wird zum einen ersichtlich bei Berücksichtigung der von Comte geforderten positivistischen Doktrin, dass allein die wissenschaftliche Methode der empirischen Überprüfung gültiges Wissen hervorzubringen vermag, zum anderen bei seiner Erhebung der Menschheit zum neuen absoluten, handlungsanleitenden Prinzip (oder Ideal, um sich hier Joas´ Terminologie zu bedienen). Nimmt man die von Comte an sich selbst gestellten und in dieser Arbeit beschriebenen streng-szientistischen Ansprüche ernst, so scheint dieser Sachverhalt Widersprüchlichkeiten in seinem Denkgebäude offenzulegen. Warum sind Positivismus und Menschheit erstrebenswerte Ideale, bisherige metaphysische oder religiöse Spielarten dagegen unangebracht?

Joas spricht von modernen „Transzendenzvorstellungen, die […] Selbstsakralisierung zu verbieten scheinen“69. Sakralisierungsprozesse würden als Gefahr interpretiert und man spreche sich gleichzeitig für eine Überwindung jener aus.70 Das heißt, für Joas ist Comtes vehemente Verneinung aller transzendentaler Vorstellungen im positiven Stadium selbst schon eine ebensolche Transzendenzvorstellung. Aber auch „die Menschheit“ kann als transzendentales Konzept aufgefasst werden, denn sie kann schließlich nicht unmittelbar zum Gegenstand der menschlichen Erfahrung werden. Ähnlich wie die Nation, kann auch die Menschheit als eine „imagined community“71, als sozial konstruierte Gruppe aufgefasst werden. Das Individuum habe sich ihr vollständig unterzuordnen. Auch die Fortschrittserwartung infolge der ordnungsstiftenden Zivilreligion und die Vorstellung, allein eine positiv ausgerichtete Wissenschaft könne gültiges und nützliches Wissen produzieren, sind totalitäre Ideen von unflexiblen Gesetzmäßigkeiten und würden von Joas, so unsere Auffassung, wie die noch jüngeren „Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts“72 als transzendental verstanden werden. Die in der Religion Comtes verankerte Hoffnung auf Fortschritt weist des Weiteren Parallelen zu klassisch-religiösen Erlösungsvorstellungen auf. Eine solche Auslegung des Fortschrittsbegriffs sah unter anderem Löwith äußerst kritisch.73

Die Religion de l’Humanité lässt sich in dieser Hinsicht auch mithilfe von Webers Klassifikation der Weltreligionen begreifen. Die Erlösung (der Fortschritt) ist an eine innerweltliche Askese gebunden, also das aktive Zutun der einzelnen Gesellschaftsmitglieder wurde vorausgesetzt.74 Jeder Mensch opfert sich im Sinne des Altruismus innerhalb der Welt für die Gemeinschaft auf und bedient sich der positiven Methode, um so nutzenerbringendes Wissen zu generieren. Die Askese als „gottgewolltes Handeln als Werkzeug Gottes“75 trifft auch auf Comtes Zivilreligion zu – spezifiziert würde es dort heißen: Askese als ein (von der Menschheit gewolltes) Handeln als Werkzeug der Menschheit.

Die Theorie der Sakralisierung nach Hans Joas besteht aus fünf Stufen76. Die erste Stufe konzipiert menschliches Handeln als Bewältigung der eigenen Umwelt: die in einer bestimmten Situation wahrgenommene Probleme sollen beseitigt werden.77 Ausgangspunkt ist demzufolge ein pragmatistisches Handlungsmodell.78 Die positive Methode bei Comte spiegelt dieses Handlungsmodell insofern, als dass auch sie die Handlungsfähigkeit des Menschen erhöhen und Fortschritt erbringen sollte, der als Umweltbewältigung aufgefasst werden kann. Sein Plädoyer für den Positivismus (und auch die Zivilreligion) fußt ja auch maßgeblich auf seiner Problemwahrnehmung. Explizit wird die pragmatische Geisteshaltung bei Comte in seiner Forderung, nicht einfach nur unreflektiert mechanistisch Daten anzuhäufen wie im Empirismus, sondern die Erkenntnisse zu ordnen und abzuwägen, was wirklich nützliches Wissen ist: „Wissen, um vorherzusehen, vorhersehen, um handeln zu können.“79

Die zweite Stufe beschreibt die Konstitution des Selbst aus der sozialen Interaktion heraus.80 Die Identität eines Menschen ist nicht einfach naturgegeben, „sondern das Produkt der aktiven Bewältigung von Konflikten zwischen den Erwartungen anderer und der eigenen Selbstwahrnehmung“81. Dieser Entwicklungsprozess findet zu keiner Zeit seinen Abschluss, die Grenzen des Selbst können sich im Laufe des Lebens weiter verschieben. Diese Neusetzung der Grenzen der Identität findet allerdings nicht nur durch aktive Bewältigung statt, sondern auch durch Erschütterungen induziert werden, innerhalb derer der Mensch zu einer passiven Entität wird und keinerlei Handlungsmöglichkeiten ergreift. Diese Erschütterungen bezeichnet Joas als außeralltägliche „Erfahrungen der Selbsttranszendenz“82, infolge derer intensive affektive Bindungen an Personen oder Ideale entstehen.83 Jene werden, so Schritt vier, zwingend sakralisiert und gegebenenfalls idealisiert.84 Hier kann erneut auf Comtes persönlichen Schicksalsschlag hingewiesen werden, um die These des unaufhörlichen Selbstfindungsprozesses auch durch Erfahrungen der Selbstentgrenzung zu untermauern: Durch den Tod seiner Geliebten als außeralltägliche Erfahrung entstand eine starke Bindung an das Ideal der Liebe. Joas selbst zählt sogar explizit Erfahrungen zu jenen der Selbsttranszendenz, in denen der Verlust einer nahestehenden Person erlebt wird.85

Berücksichtigt man die starke Betonung der im vorigen Kapitel skizzierten Ritualkultur Comtes, die Einzug in die Religion des Positivismus erhalten soll, so scheinen Erfahrungen der Selbsttranszendenz als integraler Bestandteil der Comte´schen Zivilreligion vorgesehen gewesen zu sein. So sollte sichergestellt werden, dass sich die einzelnen Gesellschaftsmitglieder an das positivistische Dogma und die Menschheit als das neue absolute Prinzip binden. Bezüglich der Bindung an Personen sollen die spirituellen Führer, die „Wissenschaftspriester“, zum Gegenstand der Sakralisierung und Idealisierung werden. An dieser Stelle offenbart sich ein großer Gegensatz zwischen der positiven, szientistischen Methode der vermeintlich gefühlsneutralen Überprüfung und Messung einerseits und der „Methode“ der ekstatischen, hoch-emotionalen Selbstentgrenzungserfahrung in Ritualen andererseits. Beide zielen auf einen Erkenntnisgewinn ab86, die Art und Weise, wie jener zustande kommen soll, unterscheidet sich allerdings deutlich. Beide Methoden sind doch eigentlich unvereinbar im positiven Stadium. Hier bietet sich ein weiterer Exkurs in das Denken Max Webers an, für den es verschiedene Arten gibt, wie einer Ordnung von den Handelnden Legitimität zugeschrieben werden kann. Die Ordnung des Positivismus und der Menschheit erlangt mithilfe der Rituale als Erfahrungen der Selbsttranszendenz legitime Geltung dank affektuellen beziehungsweise emotionalen Glaubens.87 Dieser Weg der Zuschreibung von Geltung hat aus Sicht Webers im Gegensatz zu positiven Satzungen oder Vereinbarungen mit Rationalität wenig zu tun.

Bindungen an etwas einstmalig Sakralisiertes, so Joas, können verblassen, ohne dass eine neue Bindung entsteht oder aber sie wird auf etwas Neues übertragen, wie beispielsweise von Christentum und Kirche auf Sozialismus und Partei.88 Bei Comte war letzteres der Fall. Er nennt ja gerade die katholische Kirche explizit als Vorbild und wünscht sich eine Kontinuität – die positivistische Religion soll unmittelbar an das Christentum anknüpfen, dessen Rolle adaptieren und die mit jener einhergehenden Funktionen ausführen. Positivismus und Menschheit ersetzen die christlichen Ideale unmittelbar. Folgende Schlussfolgerung ergibt sich aus den Ausführungen dieses Kapitels: Das Narrativ von der Emanzipation von jeglicher transzendentaler Spekulation im positiven Stadium steht in einem auffälligen Widerspruch zu den Sakralisierungs- und Idealisierungsprozessen, die von Comte für den Zweck der gesellschaftlichen Verankerung des Positivismus vorgesehen waren (und die dieser selbst durchlaufen hat). Die neuen „Heiligkeiten“ in der Religion of Humanity sind anders als die traditionell-religiösen, die Comte vehement ablehnt, doch auch deren Fundament besteht allein aus dem unbedingten Glauben an sie, der ihnen durch affektive Bindungen zukommt.

5. Fazit

Mit der vorliegenden Arbeit sollten mögliche Widersprüche im Gedankenkonstrukt von Auguste Comte diskutiert und kritisch beleuchtet werden, insbesondere mit Hinblick auf die Rolle von Glauben in seinem Positivismus. Dabei wurde schwerpunktmäßig der Frage nachgegangen, inwiefern die Zivilreligion Comtes der Idealvorstellung seines Positivismus widerspricht. Zur Kontextualisierung wurde in einem ersten Schritt auf das Drei-Stadien-Gesetz sowie weitere zentrale Merkmale des Comte´schen Positivismus in Anbetracht des historischen Kontextes Bezug genommen.

Hierbei gilt es hervorzuheben, dass sich nahezu sein gesamtes Leben in einer Zeit fortwährender Umbrüche im politischen System Frankreichs abspielte. Als Anhänger der Aufklärung sowie der Französischen Revolution suchte Comte demzufolge nach Lösungen für eine stabile Ordnung. Für Comte ist die Menschheit ausschließlich im dritten, dem positiven Stadium zu Höchstleistungen sowie zur vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten in der Lage. Zentral in diesem Stadium ist die alleinige Fokussierung auf real beobachtbares mit dem Ziel der rationalen Voraussicht, im Gegensatz zur theologischen und metaphysischen Spekulation der vorausgegangenen Phasen menschlicher Entwicklung.

Comte selbst macht in seiner Rede über den Geist des Positivismus deutlich, dass seine streng wissenschaftliche Idealvorstellung menschlicher Ordnung mit der Theologie unvereinbar sei. Nichtsdestotrotz sieht Comte auch positive Eigenschaften von Religion, abseits von theologischen Glaubensinhalten, nämlich zum einen die Fähigkeit zur Herstellung von gesellschaftlicher Orientierung und somit Ordnung, was laut Comte wiederum Grundvoraussetzung für den von ihm angestrebten sozialen Fortschritt sei. Zum anderen bedürfen Menschen eines handlungsleitenden, absoluten Prinzips, welches in der materiellen Welt nicht zu finden sei. Gerade deshalb begründet Comte mit seiner Zivilreligion ein eigenes positivistisches Glaubenssystem, dessen absolutes Prinzip das der Liebe ist. Ein Widerspruch zur strengen szientistischen Ausrichtung der Comte´schen Philosophie?

In unserer Analyse wird deutlich, dass die Methode der Zuschreibung der Gültigkeit von Comtes Zivilreligion nicht mit seinen streng wissenschaftlichen Ansprüchen vereinbar ist. Insbesondere die Betonung der Relevanz von gefühlsneutraler Erhebung und Überprüfung wissenschaftlicher Daten einerseits steht im Gegensatz zur ekstatischen, hoch-emotionalen Selbstentgrenzungserfahrung in den Ritualen seiner Zivilreligion andererseits – beide mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns. Ferner übernimmt Comte, ganz im Sinne von Joas, die wesentlichen strukturellen Merkmale des Katholizismus, lediglich die christlichen Elemente werden durch Positivismus und Menschheit als neue Ideale ersetzt. Was bleibt, ist der unbedingte Glauben an die universelle Gültigkeit dieser neuen „Heiligkeiten“ – dieser ist nicht mit der sonst so streng szientistischen Herangehensweise Comtes zu vereinen. Unklar bleiben weiterhin die Gründe für Comtes intellektuelle Inkonsistenz, welche es in zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten zu Comtes positiver Philosophie zu beleuchten gilt.

6. Literaturverzeichnis

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[...]


1 Vgl. Comte, Auguste (1844): Discours sur l‘Esprit Positif. Rede über den Geist des Positivismus (1844), französisch-deutsch, übers. Eingel. U. hg. V. Iring Fetscher, Hamburg: Meiner 1956, S. 6-7.

2 Ebd, S. 11.

3 Ebd, S. 26-27.

4 Ebd, S. 6-7.

5 Ebd, S. 8-9.

6 Ebd, S. 10.

7 Ebd, S. 10-11.

8 Ebd, S.10-11.

9 Ebd, S. 18.

10 Ebd, S. 19.

11 Ebd, S. 17-25.

12 Ebd, S. 26.

13 Ebd, S. 27.

14 Ebd, S. 30.

15 Ebd, S. 28-29.

16 Ebd, S. 25-28.

17 Ebd, S. 27.

18 Vgl. Wagner, Gerhard: Auguste Comte zur Einführung, 1. Aufl., Hamburg, Deutschland: Junius, 2001, S. 9–21.

19 Ebd, S. 9-18.

20 Ebd, S. 18.

21 Ebd, S. 19-20.

22 Ebd, S. 20-21.

23 Vgl. Comte, Auguste (1844): Discours sur l‘Esprit Positif. Rede über den Geist des Positivismus (1844), französisch-deutsch, übers. Eingel. U. hg. V. Iring Fetscher, Hamburg: Meiner 1979, S. 25.

24 Ebd, S. 27.

25 Ebd, S. 28-29.

26 Ebd, S. 29-33.

27 Ebd, S. 33.

28 Ebd, S. 33-35.

29 Ebd, S. 35.

30 Ebd, S. 45.

31 Ebd, S. 55-57.

32 Ebd, S. 69.

33 Ebd, S. 71.

34 Ebd, S. 71-73.

35 Ebd, S. 75.

36 Ebd, S. 77.

37 Ebd, S. 77-83.

38 Vgl. Precht, Richard David. 2019. Sei du selbst. Eine Geschichte der Philosophie. Band 3. München. Wilhelm Goldmann Verlag, S. 102.

39 Vgl. Dunham, James H. 1947. The Religion of Philosophers. Pennsylvania. University of Pennsylvania Press, S. 274.

40 Ebd. 273.

41 Vgl. Caird, Edward. 1893. The Social Philosophy and Religion of Comte. 2. Aufl. Glasgow. J. Maclehose, S. 3-4.

42 Ebd., S. 4.

43 Dunham, 1947, S. 274.

44 Vgl. ebd., S. 279.

45 Vgl. ebd., S. 280.

46 Caird, 1893, S. xv-xvi.

47 Comte, Auguste. Zitiert nach Precht, 2019, S. 102.

48 Vgl. Wernick, Andrew. 2001. Auguste Comte and the religion of humanity: the post-theistic program of French social theory. Cambridge. Cambridge University Press, S. 1.

49 Vgl. ebd., S. 2.

50 Comte, Auguste; Fetscher, Irving. 1994 1844. Rede über den Geist des Positivismus. Hamburg. Meiner, S. 88.

51 Vgl. Dunham, 1947, S. 279.

52 Wernick, 2001, S. 2-3.

53 Ebd., S. 3-4.

54 Caird, 1893, S. xv-xvi.

55 Comte, Auguste. 1809. Cours de Philosophie Positive. 3. Aufl. Paris. Bailliere, S. 325.

56 Ebd., S. 5.

57 Vgl. ebd., S. 5-6.

58 Vgl. Wernick, 2001, S. 6.

59 Vgl. Joas, Hans. 2017. Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin. Suhrkamp, S. 422.

60 Vgl. ebd., S. 11.

61 Eine hier erfolgende ausführliche Beschreibung dieser Ähnlichkeiten wäre wohl wissenschaftlich angebracht und gewinnbringend, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem übersteigen. Wir hoffen, dass der Leserin bzw. dem Leser der explizite Hinweis auf diese unsere Wahrnehmung von Vergleichbarkeit zwischen Comte und Weber ausreicht.

62 Vgl. Kaesler, Dirk. 2003. Klassiker der Soziologie. Band 1. Von Auguste Comte bis Norbert Elias. 4. Aufl. München. C.H. Beck, S. 198-199.

63 Vgl. Haring, Sabine A. et al. 2000. Modernisierungstheorien in der Soziologie gestern und heute. Max Weber und Ulrich Beck im Vergleich. In: Sabine A. Haring & Katharina Scherke (Hrsg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000. Studien zur Moderne. Bd. 12. Wien. Universität Graz, S. 291-292.

64 Vgl. Joas, 2017, S. 419.

65 Vgl. Dunham, 1947, S. 280.

66 Joas, 2017, S. 421.

67 Vgl. ebd.

68 Vgl. ebd., S. 434.

69 Ebd., S. 423.

70 Vgl. ebd.

71 Vgl. Anderson, Benedict R. O´G. 1991. Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism. Durchgesehene und erweiterte Ausg. London. Verso, S. 6-7.

72 Joas, 2017, S. 438.

73 Vgl. Löwith, Karl. 1963. Verhängnis des Fortschritts. Stuttgart, S. 320-339 aus Karl Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte. Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts, Verlag: J.B. Metzler Stuttgart 1990.

74 Vgl. Schmidt-Glintzer, Helwig; Weber, Max. 2019. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Konfuzianismus und Taoismus: Schriften 1915-1920. Tübingen. J.C.B. Mohr, S. 482.

75 Ebd.

76 Wobei Stufe fünf, der Artikulationsprozess, in dieser Arbeit nicht berücksichtigt wird, da er für die Beantwortung unserer Frage von nur untergeordneter Relevanz ist.

77 Vgl. Joas, 2017, S. 426.

78 Vgl. ebd., S. 428.

79 Oswald, Hans-Peter. 2008. Auguste Comte und der Positivismus. Norderstedt. Books on Demand, S. 40.

80 Vgl. Joas, 2017, S. 428.

81 Ebd., S. 430.

82 Ebd., S. 432.

83 Vgl. ebd., S. 421.

84 Vgl. ebd., S. 434.

85 Vgl. ebd., S. 433.

86 Erfahrungen der Selbsttranszendenz sollen zu der Erkenntnis führen, dass Positivismus und Menschheit als die obersten Ideale zu erachten sind.

87 Vgl. Weber, Max. 1988. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen. Mohr Siebeck UTB, S. 580.

88 Vgl. Joas, 2017, S. 444-445.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Auguste Comtes widersprüchliche Rolle von Glauben in seinem Positivismus. Inwiefern widerspricht Comtes Zivilreligion der Idealvorstellung seines Positivismus?
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Glauben und Wissen
Note
1,0
Autoren
Jahr
2021
Seiten
28
Katalognummer
V1149068
ISBN (eBook)
9783346529817
ISBN (Buch)
9783346529824
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fortschritt, Fortschrittsoptimismus, Glauben, Wissen, Positivismus, Comte, Zivilreligion
Arbeit zitieren
Paul Pozzi (Autor:in)Jan Eggers (Autor:in)Torben Graf (Autor:in), 2021, Auguste Comtes widersprüchliche Rolle von Glauben in seinem Positivismus. Inwiefern widerspricht Comtes Zivilreligion der Idealvorstellung seines Positivismus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1149068

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