Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
2. Die Entwicklung der Identität nach George H. Mead
2.1. Vorüberlegungen
2.2. „I“, „Me“ und „Self“
3. Die Theorie musikalischer Selbstsozialisation
3.1. Theoriegeschichtliche Herleitung des Begriffs der Selbstsozialisation
3.2. Eine kritische Diskussion des Selbstsozialisationskonzeptes nach Jürgen Zinnecker
3.2.1. Zwischenfazit
3.3. Das Selbstsozialisationskonzept nach Renate Müller
3.4. Kritik am Konzept musikalischer Selbstsozialisation von Renate Müller
3.4.1. Zwischenfazit
4. Die digitale Mediamorphose 26
5. Musikalische Selbstsozialisation im Zeitalter von Youtube und Spotify?
5.1. Vorüberlegungen
5.2. Mediennutzung und Mediensozialisation
5.2.1. Hypothese I: Musikalische „Allesfresserei“ in Zusammenhang mit einem breiten Musikgeschmack?
5.2.2. Hypothese II: „Tags“ als Agenda-Setting-Effekt?
5.3. Zwischenfazit
6. Resümee: Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse 38
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung: Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
Nahezu selbstverständlich sind Ende des 20. Jahrhunderts elektronische Medien wie das Internet, PCs und Handys zu unseren ständigen Begleitern geworden, wodurch der Wandel zu einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft immer weiter vorangetrieben wurde. Verschiedenste Bereiche sind heute von diesen Kommunikationsträgern geprägt, welche sowohl unsere Freizeit als auch unser Denken und Handeln beeinflussen. Davon ist ebenso die Lebenswelt der Jugend mehr und mehr betroffen, was eine zunehmende Bedeutung der Medien für das Aufwachsen in unserer Gesellschaft nach sich zieht. Hier wird deutlich, dass es sich um einen komplexen Forschungsgegenstand handelt, der einen interdisziplinären Zugang erfordert. Vor diesem Hintergrund widmet sich die Bachelorrarbeit dem Themenbereich der Jugend im Prozess der Sozialisation und der damit zusammenhängenden Bedeutung der Mediennutzung.
Es lässt sich eine Vielzahl von zunehmend differenzierten Alltagswelten der Jugendlichen vorfinden, die sich durch die Bevorzugung bestimmter Stilelemente ausdrücken. Bei der Hervorhebung ihrer Zugehörigkeit und gleichzeitiger Abgrenzung zu anderen Bereichen kommt nahezu keine der einzelnen Gruppierungen ohne mediale Ausdrucksmittel aus. Ihre Nutzung eröffnet auf dieser Weise den Zugang zu der Vielfalt an Jugendkulturen und bringt eine steigende Zahl von Selbstdarstellungsmöglichkeiten und verschiedensten Lebenswelten mit sich. Hieran anknüpfend lautet die Hypothese der Arbeit, dass sich das „produktiv-realitätsverarbeitende Subjekt“ (Hurrelmann) selbst sozialisiert, und durch den Mediengebrauch seine Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen ausdrückt. Ob Webportale wie Youtube und Spotify dabei das Potential zur Selbstsozialisation haben, wird im fünften Kapitel anhand zweier Hypothesen sowie in einem abschließenden, zusammenfassenden Resümee erörtert.
Das erste Ziel der Arbeit besteht allerdings zunächst darin, mittels einer gebündelten Darstellung der Theorie des symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead eine sozialtheoretische Grundlage zur Identitätsentwicklung herauszuarbeiten. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass sich Identität durch Erfahrungs- und Entwicklungsprozesse innerhalb sozialer Instanzen ausbilden.
Nach einer Erläuterung des historischen Ursprungs des Selbstsozialisationkonzeptes, in der zum Vorschein kommt, dass sich die Forschung besonders auf den Eigenanteil des Subjekts im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung fokussierte, folgt die kritische Diskussion der Selbstsozialisationstheorien von Jürgen Zinnecker und Renate Müller.
Anhand von Zinnecker können wichtige Einblicke in das allgemeine Paradigma der Selbstsozialisation dargestellt werden, auf denen das Konzept von Renate Müller im Wesentlichen fußt. Da Müller die gesellschaftliche Funktion von Musik diskutiert, nähert sich die Arbeit an dieser Stelle auch an ihre Kernfrage an, nämlich ob musikalische Selbstsozialisation im Zeitalter des Internets und dank eines beinahe barrierefreien Zugangs zu jeglichen musikalischen Material stattfinden kann.
In der sich anschließenden Kritik von Hans Neuhoff und Anne Weber-Krüger werden dann einige Schwachstellen der Theorie Müllers erläutert, die im Wesentlichen die Autonomieproposition des Individuums einschränken. Gleichzeitig werden Milieueffekte bzw. Dispositionssysteme angesprochen, die als wichtige Einflussfaktoren auf die selbstgewählten kulturellen Kontexte gedeutet werden.
Das nächste Ziel ist es, die technikgeschichtlichen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre zu benennen sowie den Begriff der digitalen Mediamorphose zu explizieren. Dadurch kann gezeigt werden, dass das Internet bzw. die Musikrezeption via PC und Smartphones seit mehreren Jahren zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden ist.
Dieses Kapitel bildet die Grundlage um die Einflüsse der Mediennutzung aus sozialtheoretischer Perspektive zu durchleuchten, indem zwei mögliche Hypothesen zur Ausbildung des Musikgeschmacks am Beispiel von Youtube und Spotify diskutiert und in ihrem Potential miteinander verglichen werden. Kernpunkte dieser Diskussion sind erstens die bereits in den 1960er Jahren aufgestellte „Vermassungs-Hypothese“, die das Individuum als passiven Kulturkonsumenten und Opfer des medial gesteuerten Versuchs der Geschmacksmanipulation betrachtet; zweitens werden Agenda-Setting-Effekte angeschnitten, welche individuelle Musikpräferenzen lenken können, und drittens, ob sich die Entwicklung musikalischer Vorlieben im Subjekt gar selbst, also losgelöst von jeglichen strategischen Absichten, ausbilden kann.
Im abschließenden Resümee werden die theoretischen Konzepte der einzelnen Kapitel dann noch einmal zusammengefasst, und das Selbstsozialisationskonzept wird in Verbindung mit den Musikportalen einer kritischen Bewertung unterzogen.
2. Die Entwicklung der Identität nach George H. Mead
2.1. Vorüberlegungen
Zweifelsohne stellt Musikkonsum eine der bedeutsamsten Interessen von Jugendlichen dar, und die eigenständige Rezeption musikkultureller Angebote durch Jugendliche kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Jugendlichen und ihren spezifischen Rezeptionsweisen, Weiterentwicklungen und Transformationen musikalischer Gegenstände ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich die musikalische Landschaft in den letzten Jahrzehnten derart stark ausdifferenziert hat, dass ein Überblick über all die stilistischen und formalen Eigenschaften kaum mehr möglich zu sein scheint.
Einher geht diese Entwicklung mit vielfältigen Zugängen zu eigenen Rezeptionsmöglichkeiten aufgrund großer Kapazitätssteigerungen in den Bereichen Freizeit, technischer Entwicklungen und der Erweiterung von kulturellen Räumen.1 Weiterhin ist Musik in allen Zivilisationen anzutreffen und scheint offenbar grundlegende emotionale Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen; sie wird deshalb vielfach als „Sprache der Gefühle“ verstanden, die dazu in der Lage ist, Emotionen, Affekte und Motivationszustände zu schildern und dem Hörer durch Ausdrucksmuster zugänglich machen zu können. Die Prozesse des Musik-Erlebens lassen sich aber nur dann verstehen, wenn man auch die Frage nach den subjektiven Funktionen und Bedeutungen, also nach dem subjektiven Sinn des Musikhörens, stellt.
Heiner Gembris betont an dieser Stelle: „Musikalisches fordert eine Sinngebung, eine Bedeutungsverleihung heraus, es hat einen Sog nach Sinn.“2 Jugendliche wählen aus der Vielzahl musikalischer Angebote aus und funktionalisieren dabei die Musik; sie „durchlaufen“ musikalische Identitäten und gestalten sich Räume, die eine Orientierung für sie bieten.3 Diese verschaffen ihnen einen Gratifikationsgewinn, der sich aus der vielfältigen Rezeption von Inhalten und Medienformen speisen kann.
Die Perspektive der Sozialisation bezieht sich dabei auf die aktive Aneignung bzw. die Verarbeitung der mittlerweile äußerst pluralistischen Musik- und Medienangebote.
Fokussiert werden hierbei Selbststilisierung und -positionierung in der sozialen Gruppe sowie die aktive Entwicklung der eigenen Identität durch gezielte Musik- und Mediennutzung.
Bei der Betrachtung des Individuums kommt die Dimension von innerpsychischen gegenüber den außerpsychischen Einflussfaktoren hinzu. So kann Sozialisation als ein äußerer Prozess betrachtet werden, dessen Wirkung auf das Individuum an äußeren Merkmalen (z. B. bestimmten Rollenbildern) festgestellt werden kann.4
Fokussiert man Sozialisation aus innerpsychischer Perspektive, wird das subjektive Denken, Fühlen und Handeln, welches von der Umwelt beeinflusst wird, geschildert. Gleichzeitig kann gezeigt werden, wie das subjektive Denken wiederum die äußere Umwelt beeinflusst.5
Was hier deutlich werden soll, ist, dass der Interaktionsprozess zwischen dem Individuum und dem sozialen Umfeld als ein wichtiger Grundpfeiler der (musikalischen) Sozialisation fungiert, da die äußere soziale Komponente eine besondere Rolle bei der Herausbildung der Identität spielt. Demnach kann das Individuum sein Ich nur dann ausbilden, wenn es auch dazu in der Lage ist, bestehende soziale Gewohnheiten zu internalisieren und zu verarbeiten.6
Mit dem Begriff des symbolischen Interaktionismus liegt der Ausgangspunkt der Bestimmung von Interaktion speziell bei symbolisch vermittelten Systemen. Ebenso wie die Sprache gehört auch Musik zu den symbolischen „Gegenständen“ der Weltaneignung, weshalb die theoretischen Ansätze Meads also gleichermaßen bei Fragestellungen zur musikalischen Entwicklung bzw. musikalischer Selbstsozialisation mit einbezogen werden können.
Um einen allgemeinen Einblick in diesen Prozess der Ich-Entwicklung zu erhalten, folgt nun eine zusammenfassende Darstellung des Identitätsbegriffs von George H. Mead. Dieses in der Psychologie und Soziologie beispielhafte und klassische Modell der Identitätsbildung soll als Grundlage für die darauf folgende Verhandlung der Selbst- sozalisationskonzepte von Zinnecker und Müller dienen.
2.2. „I“, „Me“ und „Self“
Georg Herbert Mead gilt als der Begründer des symbolischen Interaktionismus und hat sich intensiv mit der Identitätsbildung des Individuums beschäftigt.
Grundlage seiner Überlegungen ist die Frage, wie eine Gesellschaft ihre Struktur und Ordnung bewahren kann, aber dennoch notwendige Veränderungen ermöglicht werden können.7 Die Lösung dieser Frage sieht er darin, dass das Individuum nicht nur ein Selbstbewusstsein für sich, sondern auch ein Bewusstsein für eine gesamte Gruppe entwickelt, um auf Umweltbedingungen einerseits individuell und andererseits kollektiv reagieren zu können.8
Mead integriert hier den gesellschaftlichen Standpunkt in das eigene Denken und Handeln des Subjekts, sodass sich ein generalisierter Anderer ausbildet; auf diese Weise lernt das Kind, sich auf andere Identitäten einzulassen. Es bekommt aber nicht nur ein Gefühl für die Rolle seiner Mitmenschen, sondern auch ein Gefühl für sich selbst: Indem sich das Kind zum Einen der Reaktionen der Umwelt auf sein eigenes Verhalten vergewissert, vergegenwärtigt es sich ebenso seiner eigenen Reaktion auf das Verhalten der Anderen.
Um mit den Worten Ulrich Bauers zu argumentieren, entsteht Handlungsautonomie also erst durch kumulative Lernprozesse im Sinne des interaktiven Paradigmas.9
In der von Mead bezeichneten „Ich-Identität“ - was an anderen Stellen auch „Self“ genannt wird - spielt die soziale Komponente eine besondere Rolle: Demnach kann das Individuum sein Ich nur ausbilden, sofern es dazu in der Lage ist, „soziale [...] Gewohnheiten zu internalisieren“.10 Diese Gewohnheiten sind in einem kulturell überlieferten System gemeinsamer Symbole einer Gesellschaft verankert, womit eine deutliche Verknüpfung zwischen ästhetischen Umgangsweisen und der Ich-Entwicklung angedeutet wird.11
Die soziale Interaktion des Individuums wird als essentiell angesehen, da „ein ,Ich' [...] nur dort entstehen [kann], wo ein sozialer Prozess vorliegt, in dem das ,Ich' seine Veranlassung findet“.12 Hierbei betont der Soziologe die Notwendigkeit kommunizieren zu müssen, da erst durch Sprache - die in seiner Theorie als Symbol aufgefasst wird - Bedeutungen geschaffen werden können.13
Wie entsteht aus diesem Interaktionsprozess jedoch die Identität des Subjekts?
Nach Mead enthält das „Self“ zwei unterschiedliche Facetten: Die eine nennt er „I“ und die andere „Me“. Das „I“ ist die nicht voraussagbare kreative Seite des „Self“, welche in gewisser Weise als Substrat des „Me“ in vorangegangenen Situationen beschrieben werden kann, da Verhaltensweisen als Ergebnis des Sozialisationsprozesses erst durch ein Wechselspiel zwischen „I“ und „Me“ entstehen kann. Das „Me“ als reflektiertes Ich enthält die organisierten Werthaltungen, die im Verlauf der Sozialisation erworben werden; es repräsentiert die gesellschaftliche Dimension der Identität.
Das „Self“ stellt dann die Summe der verinnerlichten Haltungen der Anderen dar. Dabei fungiert es als soziale Kontrollinstanz für die spontanen Reaktionen des „I“, indem es die Grenzen des sozial Zulässigen festlegt.
Die verschiedenen Perspektiven innerhalb des „Me“ müssen zu einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt diese Synthetisierung, dann entsteht das Self, was durch einen ständigen Dialog - in welchem das Individuum mit den beiden Instanzen seiner Persönlichkeit kommuniziert - gekennzeichnet ist. Von einer gelungenen Identität kann dann gesprochen werden, wenn beide Seiten („I“ und „Me“) in einer gleichgewichtigen Spannung zueinander stehen.
Aus Sicht musikalischer Sozialisation kann man diese o.g. gemeinsam geteilten Bedeutungen einer Gesellschaft auch auf musikalische Produkte anwenden, da diese in Form von Schall existieren, nur durch deren künstlerische Intention sowie spezifische Rezeption eine Bedeutung erhalten, und somit symbolisch vermittelt werden. Musik wird demnach als Symbolsystem aufgefasst, deren Bedeutungsebene sich nur durch den sozialen Interaktionsprozess realisiert, welcher wiederum Individuen voraussetzt, die diesen Prozess durch Rezeption und Praxis erhalten.
Um die Frage beantworten zu können wie sich musikalische Sozialisation vor diesem Hintergrund realisiert, gibt es mehrere Anknüpfungspunkte: So bedingt die Genese des Ich einen Prozess, der einem möglichen Begriff von Sozialisation entspricht und darüber hinaus musikalische Symbole im Besonderen beinhaltet. Aber auch bei der Differenzierung des „Self“ in das „I“ und das „Me“ lassen sich Ansatzpunkte für eine musikalische Sozialisationstheorie finden: So verweist das „Me“ auf den sozialen Prozess, der eine Verinnerlichung der Erwartung der Anderen zur Folge hat. Ebenso müssten auch die Verhaltensweisen der Anderen beim Umgang mit musikalischen Objekten im „Me“ gespiegelt sein, da es den gleichen Umgang des Individuums mit diesen Objekten impliziert.14
3. Die Theorie musikalischer Selbstsozialisation
3.1. Theoriegeschichtliche Herleitung des Begriffs der Selbstsozialisation
Der Begriff der Selbstsozialisation erhielt erst ab 1986 durch einem Aufsatz von Klaus Gilgenmann15 eine gewisse Prominenz, obgleich die Entgegensetzung von Selbst- und Fremdsozialisation bereits seit der Gründungsphase der Kinderforschung (v.a. um Karl Groos) schon zu Beginn dieses Jahrhunderts diskutiert wurde.16
Besonders im deutschsprachigen Raum nahm die Kindheitsforschung erst seit den 1990er Jahren eine eigene Kontur an. Sie wurde durch die Leitfrage angestoßen, welche Einflüsse veränderte Bedingungen des Aufwachsens auf Kinder und Jugendliche haben.
Im Zentrum standen sozialökologische Faktoren, die Folgen der neuen Medien sowie veränderte Erziehungsvorstellungen und Verhaltensmaßstäbe gegenüber Kindern und Jugendlichen.17 Hinter diesen Bedingungen steht die Frage, wie sich das Individuum in den gesellschaftlichen Kontext einfügt bzw. gesellschaftsideologische Werte internalisiert, um dadurch eine Position im sozialen Raum einnehmen zu können. Dies ist ein zentraler Aspekt innerhalb der Persönlichkeitsentwicklung.18
„Der Sozialisationsprozess betrifft das Hineinwachsen des Menschen in Gesellschaft und Kultur, die damit verbundene Entwicklung der handlungsfähigen Persönlichkeit und die Ausbildung der sozialen und personalen Identität. Wichtige Aspekte sind die Übertragung und Verinnerlichung der zentralen Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft und der Erwerb von gedanklichen Modellen verschiedener sozialer Situationen, ihrer Struktur und Definition und der Handlungsmöglichkeiten in ihnen.“19
Mit deutlicher Tendenz zur sozial- und entwicklungspsychologischen Traditionslinie war dann das Konzept der Selbstentwicklung von Krewer und Eckensberger Anfang der 1990er Jahre ein Vorläufer der Selbstsozialisationsforschung im deutschsprachigen Diskurs, auf die sich Zinnecker später dann auch bezogen hat.20
Er selbst spricht über seine Forschung von einer „Modernisierung des Sozialisations- konzeptes“21, dessen Modernisierungsnotwendigkeit sicherlich durch einen veränderten Zeitgeist in Bezug auf die Bedingungen des Aufwachsens gefordert wurde.
Auch Wolfgang Althof stellt hierzu fest, dass „ ,moderne' Kinder [heutzutage] ihre räumliche und soziale Welt sehr aktiv und in Teilen sehr selbstständig mitgestalten und nicht nur, im Sinne von Anpassungsleistungen, auf spezifische Bedingungen reagieren.“22
Der Begriff der Selbstsozialisation wurde hierbei ins Spiel gebracht, um die Rolle der Heranwachsenden im Vergesellschaftungsprozess aufzuwerten, und den starken Eigenanteil an ihrer Entwicklung zu unterstreichen.23
Dieser hohe Eigenanteil stellt an sich jedoch kein Novum dar, da Sozialisation immer mit der Frage verknüpft ist, wie sich die Verhältnisse zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Zwang definieren.24 In neueren sozialisationstheoretischen Ansätzen, v.a. um Hurrelmann et al., wird Sozialisation daher als ein Prozess beschrieben, „durch den in wechselseitiger Dependenz zwischen der biophysischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen.“25
Kinder und Jugendliche werden also nicht nur vergesellschaftet; sie bilden zugleich individuelle Kompetenzen aus, die sie zu autonomem Handeln befähigen. Die soziale und materielle Umwelt wird von den Heranwachsenden kognitiv angeeignet, reflektierend verarbeitet und permanent verändert.
In diesem Kommunikationsprozess ist das Subjekt aktiv tätig, indem es Situationen und Anforderungen interpretiert und diese mit selbstentworfenem Handeln beantwortet.26 Diese aktive und produktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ist im Zuge der Entstandardisierung von Lebensläufen sowie der Pluralisierung von Werte- und Normvorstellungen sowohl möglich als auch erforderlich geworden, da Jugendliche in immer komplexeren Welten aufwachsen und „die Jugendzeit [.] stetigen Ausdifferenzierungsund Pluralisierungsprozessen“27 unterliegt.
Durch die Möglichkeiten zur Individualisierung gewinnen die Jugendlichen in allen Bereichen des sozialen Lebens an Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit (Bildung, Beruf, Religion, Peerkultur, Szenen, Musikkulturen, Sexualität und Partnerwahl).28 So ist es heutzutage eher unwahrscheinlich, dass zwei aufeinanderfolgende Jugendgenerationen die gleichen Sozialisationskontexte erfahren.
All die Auswirkungen dieser Pluralisierungsströme provozieren die Frage nach dem eigenen und produktiven Handeln des Subjekts, da für die letzten Jahrzehnte eine Entwicklung der Sozialisationsverläufe festgestellt wurde, die immer mehr in Richtung Individualisierung tendiert; es gibt vermeintlich weniger Verbindlichkeiten und weniger normative Vorgaben, aber dafür mehr Entscheidungs- und Handlungsspielräume.
Ob diese postulierte Autonomieproposition allerdings mit aktuellen Ergebnissen aus der soziologischen Forschung korrespondiert oder sogar eingeschränkt werden muss, soll im Folgenden durch eine kritische Darstellung der Selbstsozialisationskonzepte von Zinnecker und Müller erfolgen. Hierbei wird überprüft, ob deren Argumente haltlos übernommen werden können oder ob es einige theoretische Leerstellen gibt, die durch Erkenntnisse der Bezugsdisziplinen wie der Soziologie und der pädagogischen Forschung aufgefüllt werden müssen, um eine differenzierte Darstellung des Selbstsozialisationskonzeptes zu ermöglichen.
3.2. Eine kritische Diskussion des Selbstsozialisationskonzeptes nach Jürgen Zinnecker
Aufbauend auf die vorangegangenen Darstellungen erfolgt nun die Verhandlung des Selbstsozialisationskonzeptes nach Jürgen Zinnecker. Hierbei werden die wichtigsten Theoriebestandteile dargestellt und kritisch hinterfragt.
Zinnecker sieht in der Betonung des „Selbst“ die Entgegensetzung zur reinen Sozialisation bzw. Fremdsozialisation.29 Er betont denjenigen Eigenanteil, den eine Person zu ihrer Sozialisation leistet, sodass „Selbstsozialisation [...] dahingehend ausgelegt werden kann, dass ein ,Selbst', also ein zentraler Kern der Persönlichkeit sozialisiert wird.“30 Laut seiner Theorie besteht das Konzept aus einem Dreischritt:
„Kinder sozialisieren sich selbst, indem sie erstens den Dingen und sich selbst eine eigene Bedeutung zuschreiben; indem sie zweitens eine eigene Handlungslogik für sich entwerfen; und indem sie drittens eigene Ziele für ihr Handeln formulieren.“31 Aus dieser Eigentätigkeit heraus entwickelt sich ein eigener Kindheitsraum, eine kindliche Lebenswelt. Selbstsozialisation findet dort statt, wo das bewusste, planmäßige pädagogische und didaktische Handeln nicht wirksam ist und ausgeklammert wird.
„Wir können also die These aufstellen, dass mit der Akzentsetzung auf Selbstsozialisation die Entpädagogisierung des Diskurses um Sozialisation weiter voranschreitet.“32 Auch Wolfgang Althof vertritt die Meinung, dass es bei Selbstsozialisation um Lernprozesse geht, „die nicht von Erwachsenen geplant und kontrolliert werden.“33 Hierauf aufbauend argumentiert Zinnecker, dass sich Selbst- und Fremdsozialisation auf entgegengesetzten Polen befinden, die aber systemisch miteinander verbunden sind.
Er betont eine wechselseitige Dynamik, bei der kein Pol unverändert bleibt, wenn sich der andere ändert. In diesem Sinne rückt der Begriff der Sozialisation auf die Seite der einzelnen Person, und der Begriff der Erziehung auf die Seite des sozialen Systems: Denn „während Sozialisation immer Selbstsozialisation aus Anlaß von sozialer Kommunikation ist, ist Erziehung die kommunikative Veranstaltung selbst.“34
Nach Meinung des Autors schwächen sie die primären Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule oder Nachbarschaft seit dem 20. Jahrhundert zugunsten neuartiger „Agenten“ entschieden ab; er geht davon aus, dass „Instanzen des Marktes [und] des Konsums“35 für Kinder und Jugendliche aktivere Formen der Beteiligung bieten. In diesen neuen soziokulturellen Räumen müssen sie sich möglichst unabhängig von ihrem Herkunftsmilieu verankern, sofern sie für die individuelle Zukunft des Jugendlichen bedeutsam sind.
Das Konzept der Selbstsozialisation findet seine Entsprechung also in der Verfasstheit des heutigen, modernen Aufwachsens und reagiert auf reale gesellschaftliche Veränderungen.36 Unter Rückgriff auf Niklas Luhmann sieht Zinnecker Kinder „demzufolge nicht als Teile der Familie, Schüler nicht als Bestandteile der Schule [...] sondern als personale Umwelten von Familie und Schule. Sie bilden eigenständige, komplexe ,personale Systeme' und operieren nach einer eigenen System- bzw. Psycho- Logik.“37
Sie sind nicht nur als auf ein Entwicklungsziel ausgerichtete Objekte zu betrachten, sondern als Subjekte, die sich ihre Wirklichkeit konstruieren und dabei Bedeutungen erzeugen, die nicht notwendigerweise mit den Vorstellungen der Erwachsenen übereinstimmen; ihr psychischer Apparat bildet sich selbstreferenziell als ein autopoietisches System aus. Darunter ist zu verstehen, dass die Systeme sich in einem ständigen, nicht zielgerichteten Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen. Die Systeme produzieren und reproduzieren sich demnach selbst.
Sozialisation wäre nach diesem Verständnis immer Selbstsozialisation und ein rein intraindividuelles Prozessgeschehen.38 Bauer sieht hierbei allerdings ein Missverhältnis zwischen dem einerseits hoch ausgearbeiteten Persönlichkeitsverständnis und dem andererseits weit weniger ausgebildeten Strukturverständnis der sozialen Instanzen. Diese beiden Seiten werden von Zinnecker nämlich als zu isoliert voneinander betrachtet, obwohl ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Individualisierung und den gegebenen äußeren Strukturen angenommen werden müsste.
Hieran zeigt sich bereits ein Defizit des zinnecker'schen Selbstsozialisationskonzeptes:
Die konstitutive Annahme einer Interaktion zwischen Person und Umwelt wird unterbrochen, und die eigentliche Dialektik von Vergesellschaftung und Individuation wird in eine Dichotomisierung transformiert.39 In seinem Konzept wird also das grundsätzlich interaktive Verhältnis von Person und Umwelt nicht erfasst; es fehlt ein Verständnis sozialer Vermittlungs- und Abhängigkeitsbeziehungen, die aber genau die Schnittstelle zur soziologischen Sozialisationsforschung darstellen.40
Ulrich Bauer kritisiert die Behauptung, dass Prozesse der Selbstsozialisation von denen der Fremdsozialisation fundamental zu unterscheiden seien. Zinnecker betont nämlich, dass Einflüsse aus der nahen sozialen Umwelt gegenüber den Instanzen der Selbstsozialisation als rückläufig betrachtet werden und an Bedeutung verlieren, was allerdings nicht haltlos bestätigt werden kann. So werden seiner Meinung nach Autonomiepotentiale in der Subjektwerdung schlicht als angeboren betrachtet, was die bisherigen Erkenntnisse der Sozialisationsforschung allerdings zu stark ignoriert. Der Erziehungswissenschaftler vertritt die Auffassung, dass sich die Fähigkeit autonomen Handelns rein auf die Genese individueller Kompetenz- und Performanzstrukturen konzentriert, obwohl sich subjektive Kompetenz- und Handlungsmuster erst aus der reziproken, interaktiven Beziehung zwischen Person und Umwelt entwickeln. Handlungsautonomie - und damit ist die normative Vorstellung des Selbstsozialisations- konzeptes untrennbar verbunden - entsteht also durch kumulative Lernprozesse im Sinne des interaktiven Paradigmas.41
[...]
1 Vgl. Heyer, Jugend, Musik und Sozialisation, S. 4.
2 Vgl. Gembris, Das Konzept der Orientierung als Element einer psychologischen Theorie der Musikrezeption, S. 109.
3 Vgl. Heyer, Jugend, Musik und Sozialisation, S. 6.
4 Vgl. Hurrelmann, Einführung in die Sozialisationstheorie, S. 28.
5 Vgl. Lenz, Soziologische Perspektiven auf musikalische Sozialisation, S. 162.
6 Vgl. ebd., S. 173.
7 Vgl. Mead, Das Problem der Gesellschaft - Wie der Mensch zum Ich wird, S. 57.
8 Vgl. ebd., S. 62.
9 Vgl. Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 125.
10 Mead, Das Problem der Gesellschaft - Wie der Mensch zum Ich wird, S. 72.
11 Vgl. Wallner; Funke-Schmitt-Rink, Soziologie der Erziehung, S. 66.
12 Mead, Das Problem der Gesellschaft - Wie der Mensch zum Ich wird, S. 83.
13 Vgl. Mead, Bewußtsein, S. 219.
14 Vgl. Lenz, Sozialisation, S. 174.
15 An dieser Stelle wird verwiesen auf: Gilgenmann, Autopoiesis und Selbstsozialisation. Zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Systemtheorie, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung 1 (1986), S. 71-90.
16 Vgl. Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 276. sowie Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 119.
17 Vgl. Althof, Scheinlösungen, S. 59.
18 Vgl. Lenz, Sozialisation, S. 161.
19 Esser, Soziologie, S. 371.
20 Vgl. Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 121.
21 Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 274.
22 Althof, Scheinlösungen, S. 64.
23 Vgl. ebd., S, 57f.
24 Vgl. Müller, Selbstsozialisation, S. 66.
25 Hurrelmann; Grundmann; Walper, Zum Stand der Sozialisationsforschung, S. 25.
26 Vgl. Althof, Scheinlösungen, S. 70f.
27 Heyer, Jugend, Musik und Sozialisation, S. 5.
28 Vgl. Rhein; Müller, Musikalische Selbstsozialisation Jugendlicher, S. 553. sowie Müller; Glogner; Rhein, Die Theorie musikalischer Selbstsozialisation, S. 20.
29 Vgl. Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 275.
30 Ebd., S. 281.
31 Ebd., S. 279. sowie Althof, Scheinlösungen, S. 58.
32 Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 276.
33 Althof, Scheinlösungen, S. 58.
34 Luhmann, Sozialisation und Erziehung, S. 187.
35 Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 277.
36 Vgl. Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 122.
37 Zinnecker, Selbstsozialisation, S. 278.
38 Vgl. Schulze; Künzler, Funktionalistische und systemtheoretische Ansätze in der Sozialisationsforschung, S. 136.
39 Vgl. Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 134.
40 Althof, Scheinlösungen, S. 70.
41 Vgl. Bauer, Selbst- und/oder Fremdsozialisation, S. 121-125.