Die Diskussion als Methode der moralischen Bildung in der sozialen Arbeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Stufen der Moral als Grundlage moralischer Entwicklung

3. Lernen von Moral
3.1 Die Dilemmadiskussion
3.2 Der Begriff des Dilemmas in der Dilemmadiskussion
3.3 Urteils- und Diskursfähigkeit als Lernziel
3.4 Moralische Entwicklung als Lernprozess des Subjekts
3.4.1 Selbstbestimmter Lernprozess
3.4.2 Lernen anhand qualitativer Lernsprünge als Grundlage moralischen Lernens
3.4.3 Reflexionsprozesse im Diskurs als Auslöser von Lernprozessen

4. Didaktische Selbstverpflichtung

5. Diskussionen als Methode der moralischen Bildung in der sozialen Arbeit

1. Einleitung

Zur Einleitung dieser Arbeit dient eine Schlüsselszene aus meinem praktischen Semester in einem Kinder- und Jugendhaus. Eine Gruppe von Jugendlichen hat mit den Sozialpädagog*innen und Erzieher*innen im Haus eine Diskussion über Geschlechtsidentitäten und -rollen geführt. Einer der Jugendlichen hat bislang immer eine sehr ablehnende Haltung gegenüber homosexuellen Menschen geäußert, solches Verhalten gar als unmoralisch gesehen; nun überraschte er uns durch eine sehr akzeptierende Haltung. In der Argumentationsstruktur des Jugendlichen war also ein qualitativer Unterschied zu beobachten. Hatte er vorher noch seine autonomen Gedanken als gesellschaftliche Norm gesehen und andere danach beurteilt, hat sich nun gezeigt, dass er die Autonomie und Freiheit anderer Menschen mit in Betracht gezogen, diese respektiert und seine eigenen handlungsweisenden Urteile angepasst hat. Er scheint einen Lernprozess durchlaufen zu haben.

Warum ist ein solcher Lernprozess so wichtig für die Entwicklung junger Menschen? Dazu äußerte sich Alt-Bundespräsident Johannes Rau folgendermaßen: „Die Frage, ob Moral und damit Sittlichkeit erlernt werden kann, ist eine der ältesten und zugleich auch wichtigsten Fragen. Das Selbstverständnis unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaftsordnung hängt entscheidend von ihrer Beantwortung ab. Wird diese Frage bejaht, so stellt sich automatisch die weitere Schlüsselfrage, auf welche Art und Weise und mit welchem Erfolg moralische Urteilsfähigkeit entwickelt und gelernt werden kann.“ (wie in: Lind 2009, S. 6)

Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas sieht die Grundlage, Moral in den sozialen Kontexten der Gesellschaft ausbilden zu können, als Vorrausetzung, dass moralisch urteilende Menschen auch so handeln können, wie sie das für richtig halten (vgl. Habermas 1991, S. 36). Dass sich Menschen entwickeln können, zeigt auch das Eingangsbeispiel.

Im moralisch reflektierten Handeln der Menschen einer Gesellschaft, wie es Habermas postuliert, erkennt der Soziologe George Herbert Mead die Bedingung für gesellschaftliches Handeln (vgl. Mead 1973, S. 184). Moral scheint also eng mit dem gesellschaftlichen System verbunden zu sein und damit wichtig für funktionierende Demokratien, wie Rau konstatiert, zu sein.

Damit wird klar, dass moralische Bildung in Demokratien einen hohen Stellenwert haben sollte. Allerdings ist damit nicht geklärt, wie diese Bildung aussehen kann und wie Diskussionen wie im Eingangsbeispiel darauf Einfluss nehmen können. Im Folgenden wird deswegen erörtert, wie die Diskussion in der Gruppe (bzw. der öffentliche Diskurs für die Gesellschaft) zu einer Methode der moralischen Bildung werden kann. Dabei wird vor allem aus der Perspektive der Sozialen Arbeit argumentiert und somit ein lebensweltlicher Kontext systematisch mit einbezogen.

2. Stufen der Moral als Grundlage moralischer Entwicklung

Eine wichtige Grundlage für die moralische Entwicklung liefert der Psychologe Lawrence Kohlberg und seine Theorie zu den sechs Stufen der moralischen Entwicklung (vgl. Garz 2015, S. 54ff). Er gliedert seine sechs Stufen in drei konkrete Ebenen, die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle Ebene (vgl. ebd.).

Die präkonventionelle Ebene lässt sich auf Stufe 1 als ein moralisches Verhalten beschreiben, das sich an Gehorsam, also Lob und Strafe, orientiert; auf Stufe 2 handelt es sich eher um ein zweckorientiertes Verhalten, das gelegentlich die egozentrische Perspektive zugunsten von wechselseitigen „Deals“ verlässt (vgl. ebd. S. 55f).

Die konventionelle Ebene beginnt auf Stufe drei mit der Idee wechselseitiger zwischenmenschlicher Erwartungen und Beziehungen (vgl. ebd. S. 56f). Individuen gehen bewusst auf andere Menschen ein, um als „guter Mensch“ wahrgenommen zu werden (vgl. ebd.). Stufe vier kennzeichnet sich durch ein moralisches Verhältnis zwischen der individuellen Person und dem umfassenden sozialen System (vgl. ebd. S. 58). Es werden also Gesetze, deren Einhaltung und ein bewusstes Verhältnis zur sozialen Ordnung als Richtschnur moralischer Vorstellungen berücksichtigt (vgl. ebd.).

Auf der postkonventionellen Ebene wird Stufe fünf durch eine moralische Haltung, die auf den der Gesellschaft vorgeordneten Prinzipien, der Stufe des Sozialvertrags, beruht, charakterisiert (vgl. ebd. S. 59). Abschließend kennzeichnet sich Stufe sechs durch die Orientierung an universellen moralischen Prinzipien, die Stufe fünf noch einmal vorgelagert sind, indem sie ermöglichen, dass die Gesetzes- und (Sozial-)Vertragsansprüche dieser Stufe aus ihnen abgeleitet werden können (vgl. ebd. S. 60). Ein solches universelles Prinzip stellt zum Beispiel der kategorische Imperativ des Philosophen Immanuel Kant dar, ein auf Stufe 5 angesprochener Gesellschaftsvertrag stellt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dar.

Die Entwicklung von Moral orientiert sich also an der Erkenntnis der Umgangsregeln einer Gesellschaft – dem Gesellschaftsvertrag, wenn man so will. Für die präkonventionelle Ebene sind die Regeln der Gesellschaft noch nicht voll erkannt, mit der konventionellen Ebene wird sich im Regelsystem eingefunden und auf der postkonventionellen Ebene die Ebene von Prinzipien erreicht, die Regelsystemen zugrunde liegen können. Habermas merkt an, dass man die Unterscheidung der Unterstufen der Ebenen – zumindest für die postkonventionelle Ebene – vielleicht anhand von Anwendung und Begründung unterscheiden kann; Kenntnis um den Sozialvertrag langt nicht aus, um ihn auch anwenden (1. Unterstufe) zu können und die daraus resultierende Handlung auch ausreichend begründen (2. Unterstufe) zu können (vgl. Habermas 1991, S. 95).

Spätestens seit der Studie von Anne Colby et al. (1983) ist die Existenz der von Kohlberg konstituierten Stufen unumstritten. Man hat in einer Längsschnittstudie die moralische Entwicklung von Menschen anhand Kohlbergs Stufen nachweisen können, auch wenn man eine Entwicklung über Stufe fünf hinaus nicht finden konnte (vgl. ebd.; vgl. Garz 2015. S. 61). Das kann vielleicht auch daran liegen, dass die Anwendung des Sozialvertrags in Argumentationsstrukturen oftmals keiner weiteren Begründung bedarf, und sich somit der implizite Begründungszusammenhang, auch wenn das Individuum für sich eine Begründung auf Stufe 6 finden könnte, nicht beobachtbar äußert.

Gesetzt, dass Diskussionen eine funktionable Methode zur moralischen Bildung sein könnten, so muss im Austausch der Meinungen ein immanenter Lernprozess begründet liegen, durch welchen die Diskusteilnehmenden - ausgehend von einer eher individuellen, subjektiven Sichtweise - zu einem objektiven, allgemeinverbindlichen Urteil, das als moralische Norm gelten kann, geleitet werden. Insofern ließe sich dann die Diskussion nicht nur als ein kommunikativer Erfahrungs- und Lernhorizont, sondern gleichzeitig als ein Medium zur Objektivierung von Meinungen verstehen.

Im Weiteren soll diese Frage anhand der sogenannten „Dilemmadiskussion“ näher beleuchtet werden, um auf dieser Basis anschließend das didaktische Ziel von Diskussionen formulieren zu können.

3. Lernen von Moral

3.1 Die Dilemmadiskussion

Aufgrund seiner Ergebnisse hat Kohlberg mit dem Pädagogen Moshe Blatt eine Methode entwickelt, die Diskussionen als Lernmethode beinhaltet: Die Dilemmadiskussion. Dabei legt Blatt Wert auf die Entstehung eines genuin moralischen Konflikts, von Unsicherheit und der Nichtübereinstimmung in eindeutig problematischen Situationen (vgl. Blatt/Kohlberg 1975, S. 130f; Garz 2015, S. 133).

Außerdem ist es Teil von Blatts Methode, die Adressierten der Methode mit Modi des Denkens zu konfrontieren, die eine von Kohlbergs Stufen über deren momentaner Stufe liegen (vgl. ebd.). Er rekurriert dabei auf die Annahme, dass dadurch höhere Stufen an die moralischen Argumente und Urteile der Adressierten assimiliert werden können (vgl. ebd.). Georg Lind, ein Pädagoge, der Blatts Methode weiterentwickelt hat, verzichtet allerdings auf dieses Vorgehen zugunsten einer Konfrontation der Diskussionsteilnehmenden mit Pro- und Kontra-Argumenten (vgl. Lind 2009, S. 26). Lawrence Walker (1986) hat nachgewiesen, „dass [es] wohl generell Argumente sind, die von den eigenen verschieden sind – vor allem Argumente, die den eigenen widersprechen-, [die] das moralische Denken herausfordern und die Entwicklung anregen“ (Lind 2009, S. 73). Diese Ergebnisse legitimieren eher Blatts zweite These, dass die Adressierten der Methode höherstufige Urteile assimilieren, wenn Argumente einen kognitiven Konflikt erzeugen (vgl. Blatt/Kohlberg 1975, S. 130f; Garz 2015, S. 133).

Mittlerweile gibt es einige empirische Studien, die zeigen, dass die Dilemmadiskussion für die moralische Entwicklung im Stufenmodell nach Kohlberg sehr erfolgreich ist (vgl. Garz 2015, S. 134; Lind 2009, S. 67).

Der Ansatz der diskursiven Konfrontation erinnert sehr stark an den Grundsatz des besten Arguments in der Diskursethik von Habermas, aber er zeigt auch, dass die Didaktik der Diskussion, wenn sie moralisch bildend sein soll, die Adressierten der Methode kognitiv fordern und zur Reflexion anregen muss. Diese kognitive Herausforderung sollte am besten über eine gute Argumentation und die Konfrontation mit Gegenpositionen passieren; der Anstoß zu kognitiven Lernprozessen wäre dann als zentrales Element einer gelingenden Diskussionskultur zu benennen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Diskussion als Methode der moralischen Bildung in der sozialen Arbeit
Hochschule
Evangelische Hochschule Nürnberg; ehem. Evangelische Fachhochschule Nürnberg
Veranstaltung
Profilmodul 2: Ethik
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
20
Katalognummer
V1150889
ISBN (eBook)
9783346541079
ISBN (Buch)
9783346541086
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethik, Diskurs, Diskussion, Bildung, Moral, moralische Bildung, ethische Bildung, Ethikpädagogik, ethische Pädagogik, Stufen der Moral, Dilemmadiskussion, Dilemma, Dilemmata, lehren, lernen, Urteilsfähigkeit, Diskursfähigkeit, Didaktik, didaktische Selbstverpflichtung, Kohlberg, Habermas, Lind, Diskussionen, soziale Arbeit, Sozialarbeit, Sozialpädagogik, ethisch, diskursiv, sozialpädagogisch
Arbeit zitieren
Valentin Hodel (Autor:in), 2021, Die Diskussion als Methode der moralischen Bildung in der sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1150889

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