Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Abbildungsverzeichnis
1. Einführung: Wissenschaftliche Relevanz, Vorstellung des Themas, der Forschungsfrage und des aktuellen Forschungsstands; Erläuterung Vorgehensweise
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Karl Polanyi
2.2 John M. Keynes
2.3 Bisheriger Einfluss von Keynes & Polanyi auf sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in Deutschland
3. Bisherige ökonomische Ausrichtung der SPD & Auswirkungen der Pandemie
3.1 Ökonomische Policies der SPD vor der Corona-Pandemie
3.2 Auswirkung der Pandemie auf die konjunkturelle Entwicklung
4. Analyse
4.1 Ökonomische Policies der SPD seit Ausbruch der Krise
4.2 Einfluss Polanyi auf ökonomische Policies der SPD
4.3 Einfluss Keynes auf ökonomische Policies der SPD
5. Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abstract
Diese Arbeit geht der Frage nach, in welchem Ausmaß die politische Ökonomie der SPD in der Corona-Pandemie von nachfrageorientierten Policies nach Keynes und Polanyi geprägt ist. Durch Darlegung der Thesen und Empfehlungen dieser Ökonomen und einer Analyse der formulierten und implementierten Policies seit Ausbruch der Pandemie wird deutlich, dass Denkmuster von Polanyi, in Bezug auf die fiktiven Waren im Kapitalismus im Bereich Gesundheitspolitik und der Frage des Wertes der Arbeit, durch die Pandemie in der SPD wiederzufinden sind. Darüber hinaus sind die Maßnahmen der Bundesregierung, vor allem in den SPD-Ministerien Finanzen, Arbeit & Soziales und Familie, Senioren, Frauen & Jugend, keynesianisch geprägt. Besonders auffällig ist das vorübergehende Aufgeben der „schwarzen Null“, also erstmalige Nettokreditaufnahmen durch den Bund seit 2014. Außerdem wird durch einen Vergleich der Policies der SPD vor der Pandemie mit denen danach, deutlich, dass ein grundsätzlicher Wandel in der Ausrichtung der, vor allem ökonomischen, Policies erfolgte.
Vorbemerkung zum Sprachgebrauch:
Nach Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Alle Personen- und Funktionsbezeichnungen in dieser Arbeit gelten für Frauen und Männer in gleicher Weise.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Formulierte und implementierte, hier relevante Policies der SPD vor Ausbruch der Corona-Pandemie
Abbildung 2: Bisherige formulierte und implementierte, hier relevante Policies der SPD nach Ausbruch Pandemie & Aufkommen wirtschaftliche Rezession
Abbildung 3: Empfehlungen von Keynes & entsprechende Policies der SPD tabellarisch zusammengefasst
1. Einführung: Wissenschaftliche Relevanz, Vorstellung des Themas, der Forschungsfrage und des aktuellen Forschungsstands; Erläuterung Vorgehensweise
„Die Covid-19-Pandemie ließ die deutsche Wirtschaft in der ersten Jahreshälfte massiv schrumpfen. Im ersten Quartal 2020 nahm das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 2,0 Prozent, im zweiten Quartal sogar um 9,7 Prozent gegenüber dem jeweiligen Vorquartal ab“ (IAB 2020: 1).“ Im Jahr 2020 sieht sich die Weltwirtschaft erstmals seit langer Zeit wieder einer Pandemie ausgesetzt, die eine wirtschaftliche Rezession, vielleicht sogar eine Depression, nach sich zieht. War die deutsche Wirtschaftspolitik bis Anfang diesen Jahres noch von strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalten, Einhaltung der Schuldenbremse und Exportstärke bei Beibehaltung von niedrigen Löhnen als Wachstumsmodell geprägt, so heißen die ökonomischen Policies seit Ausbruch der Pandemie Kurzarbeitergeld, Konjunkturprogramme und „Kinderbonus“. Offenkundig hat die deutsche Sozialdemokratie, sowie die Bundesregierung als Exekutive, ihre Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik grundlegend neu ausgerichtet. Aufgrund der Einzigartigkeit dieses externen Schocks und der Wahrnehmung eines stattgefundenen Wandels in den ökonomischen Policies der SPD, ist die wissenschaftliche Relevanz gegeben. Außerdem ist das Thema aktuell und es lässt sich in Form eines „natürlichen Experiments“ der Einfluss eines externen Schocks auf Formulierung und Implementierung von Policies beobachten. Darüber hinaus zeigt sich die Relevanz von wirtschaftlichen Theorien für praktisches Policy-Making.
Das Thema dieser Arbeitet lautet: Der Einfluss von Keynes und Polanyi auf die politische Ökonomie der deutschen Sozialdemokratie in der Corona-Pandemie. Die Forschungsfrage lautet: In welchem Ausmaß ist die politische Ökonomie der SPD seit Ausbruch der Pandemie von (nachfrageorientierten) Policies von Karl Polanyi und John M. Keynes geprägt? Bisher gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten über die politische Ökonomie der deutschen Sozialdemokratie in dieser Corona-Krise. Jedoch gibt es erste Essays über eine jetzt zunehmende nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und aktuelle Herausforderungen für die SPD durch die Pandemie (von Lucke 2020, Fitzi 2020, Dauderstädt 2020, Thierse 2020) und Studien über aktuelle konjunkturelle Entwicklungen in Deutschland und der Europäischen Union (Lemb 2020, IAB 2020). Nicht zu vernachlässigen sind allgemeine Befunde zu Parteienforschung, mit besonderem Fokus auf sozialdemokratische Parteien in Europa, deren bisherige Entwicklung, Perspektiven und besondere Herausforderungen (Meyer 1998, Kitschelt 1994, Hein & Truger 2000). Besonderen Fokus auf die politische Ökonomie sozialdemokratischer Parteien legen Bailey (2009), Held (1982), Bremer (2018), Müller-Jentsch et al. (2020), Rothstein & Schulze-Cleven (2020), Bremer (2019), Merkel et al. (2006), Moschonas (2002), Gray (1996) und Boix (1998). Die Forschungsfrage beinhaltet bereits die Annahme, dass die neue Ausrichtung der SPD in ökonomischen Policies stark von zwei wirtschaftlichen Theorien beeinflusst wird. Die Thesen von Polanyi und Keynes bilden die theoretische Grundlage meiner Arbeit. Im Folgenden werden diese erstmal deskriptiv dargelegt, wobei bei Keynes der Fokus vor allem auf seine makroökonomischen Ausführungen liegen wird und bei Polanyi auf seinen Überlegungen zu den fiktiven Waren, wie Arbeit und Gesundheit. Anschließend wird auf den bisherigen Einfluss Keynes‘ und Polanyis auf die Wirtschaftspolitik sozialdemokratischer Parteien eingegangen. Danach liegt der Fokus auf dem Einfluss der Pandemie auf die konjunkturelle Entwicklung Deutschlands. Im Anschluss daran werden die ökonomischen Policies der SPD seit Ausbruch der Pandemie mit denen vor der Krise verglichen. Im letzten Teil wird der Einfluss von Keynes und Polanyi auf die ökonomischen Policies der SPD analysiert. Abschließend wird ein Fazit gezogen.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Karl Polanyi
Karl Polanyi studierte Philosophie und Jura, und war Aktivist in der sozialistischen Bewegung. Seine zentralen Werke sind „Ökonomie und Gesellschaft“ (1974), „Trade and Markets in the Early Empires“ (1957) und „The Great Transformation“ (1944). In letzterer Schrift beklagt Polanyi (1944: 81), dass die Wirtschaft nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen in das Wirtschaftssystem eingebettet sind. In Marktwirtschaften werden Produktion und Distribution von Gütern ausschließlich durch Preise gesichert: „Dementsprechend gibt es Märkte für alle Wirtschaftsfaktoren, nicht nur für Güter (immer mit Einschluss der Dienstleistungen), sondern auch für Arbeit, Boden und Geld, deren Preise jeweils Warenpreise, Löhne, Bodenrente und Zins genannt werden (Polanyi 1944: 95). Er führt weiter aus, dass der Marktmechanismus über den Begriff der Ware mit den verschiedenen Elementen der gewerblichen Wirtschaft verzahnt ist, wobei Waren hier empirisch als Objekte definiert werden, die für den Verkauf auf dem Markt erzeugt werden (Polanyi 1944: 98). Dadurch, dass wiederum Märkte als tatsächliche Kontakte zwischen Käufern und Verkäufern definiert werden, wird angenommen, dass jegliches Erzeugnis der gewerblichen Wirtschaft für den Markt produziert wurde, da es dann dem Angebots- und Nachfragemechanismus unterliegt, der wiederum mit dem Preis zusammenwirkt (Polanyi 1944: 99). Polanyi (1944: 99) kritisiert, dass Arbeit, Boden und Geld zwar wesentliche Elemente der gewerblichen Wirtschaft darstellen, also als Waren behandelt werden, empirisch aber nicht als solche hingenommen werden dürfen:
„Arbeit ist bloß eine andere Bezeichnung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs, sondern zu gänzlich anderen Zwecken hervorgebracht wird; auch kann diese Tätigkeit nicht vom restlichen Leben abgetrennt, aufbewahrt, oder flüssig gemacht werden. Boden wiederum ist nur eine andere Bezeichnung für Natur, die nicht vom Menschen produziert wird; und das eigentliche Geld, schließlich, ist nur ein Symbol für Kaufkraft, das in der Regel überhaupt nicht produziert, sondern durch den Mechanismus des Bankwesens oder der Staatsfinanzen in die Welt gesetzt wird. Keiner dieser Faktoren wird produziert, um verkauft zu werden. Die Bezeichnung von Arbeit, Boden und Geld als Waren ist somit völlig fiktiv.“
Der Autor beklagt, dass diese dennoch auf dem Markt gekauft und verkauft werden. Vor allem die angebliche Ware der Arbeitskraft könne „(…) nicht herumgeschoben, unterschiedslos eingesetzt, oder auch nur ungenutzt gelassen werden, ohne damit den einzelnen, den Träger dieser spezifischen Ware, zu beeinträchtigen“ (Polanyi 1944: 100). Die Verfügbarkeit dieser drei fiktiven Waren konnten in einer kommerziellen Gesellschaft nur dadurch gewährleistet werden, dass sie auf dem Markt zum Verkauf angeboten wurden. Die Ausdehnung des Marktmechanismus auf die Produktionsfaktoren Arbeitskraft, Boden und Geld war die unvermeidliche Folge der Einführung des Fabriksystems in eine kommerzielle Gesellschaft (Polanyi 1944: 102).
2.2 John M. Keynes
Die Kernaussage von Keynes (1936) „allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ besteht in der Annahme, dass die Anzahl der Beschäftigten in einer Volkswirtschaft von dem Quantum an Gütern und Diensten bestimmt wird, das die Unternehmen meinen verkaufen zu können. Dafür entscheidend ist die effektive Nachfrage, die sich aus der inländischen Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern sowie aus der Nachfrage des Auslands zusammensetzt (Kromphardt 2004: 177). Eine notwendige Bedingung für die Konsumgüternachfrage stellt das Volkseinkommen dar, also der Gesamtheit aller privaten Haushalte in Höhe des produzierten Sozialprodukts in Form von Löhnen, Zinsen oder Gewinnen zufließt. Diese ergibt sich aus dem verfügbaren Einkommen der Haushalte und der Konsumquote (Kromphardt 2004: 178). Da die Haushalte jedoch einen Teil ihres Einkommens sparen, besteht eine Lücke zwischen der Nachfrage der Haushalte und der Produktion, welche durch die Sachinvestitionen der Unternehmer geschlossen werden muss. Keynes lehnt das Say’sche Theorem ab, wonach durch den Zinsmechanismus die Investitionen immer genau die Höhe erreichen, die der Ersparnis der privaten Haushalte entspricht; denn der Zinssatz werde durch Angebot und Nachfrage nach Geld bestimmt und zweitens, werden die Investitionen nicht vom Marktzins alleine bestimmt, sondern von der Differenz zwischen Marktzins und erwarteter Rendite aus den Investitionen. Er betrachtet die Renditeerwartung, unter anderem abhängig von der effektiven Nachfrage, als Quelle der Instabilität. Fehlende Investitionen führen somit zu einem Sinken der Ersparnis (Kromphardt 2004: 178). Zwar erhöht einzelwirtschaftliches Sparen das Vermögen des sparenden Haushalts, doch senkt gesamtwirtschaftliches Sparen das Vermögen aller Haushalte, wenn das Sparen zu einem Nachfrageausfall führt, der Produktion und Einkommen mindert (Kromphardt 2004: 179 & 180). Keynes zog seine Erkenntnisse maßgeblich aus den Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise 1929-1933. Damals waren Preise und Löhne nach unten flexibel, wodurch in Deutschland der Preisindex des privaten Verbrauchs um 24 Prozent sank; im Tiefpunkt der Depression belief sich die Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt von 1932 auf 30 Prozent (Kromphardt 2004: 181). Nach seiner Ansicht gibt es keinen negativen Zusammenhang zwischen Arbeitsproduktivität und Beschäftigung, wodurch es für eine Zunahme der Beschäftigung bei freien Produktionskapazitäten keiner Reallohnsenkung bedarf (Kromphardt 2004: 183). Für Keynes kann eine Lohnsenkung nicht der Motor für mehr Beschäftigung sein, denn wenn alle Unternehmen die Löhne der Beschäftigten verringern, verringert sich das Gesamteinkommen, die Gesamtnachfrage und damit die Produktion, wodurch die Beschäftigung sinken würde (Kromphardt 2004: 189). Da es keinen endogenen Stabilisierungsmechanismus gibt, der die Wirkungen der starken Schwankungen der Investitionstätigkeit auf die Beschäftigung ausgleichen könnte, folgert Keynes, dass die Aufgabe, das Volumen der Investitionen zu steuern, nicht in privaten Händen gelassen werden kann (Kromphardt 2004: 183 nach Keynes 1936: 320). Wegen der institutionellen Grenzen der Geldpolitik müssen die Staatsausgaben und -einnahmen konjunkturpolitisch eingesetzt werden, um Einkommen und Beschäftigung zu steuern. Ziel dieser wirtschaftspolitischen Empfehlung ist die Steuerung des Investitionsvolumens. Darüber hinaus wird die gesellschaftliche Verantwortung für das Gesamtvolumen der Investitionen betont. Des Weiteren fordert er eine indirekte geld- und fiskalpolitische Globalsteuerung der Investitionen und der Konsumgüternachfrage, welche global sein sollte (Kromphardt 2004: 184 & 185). Zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit fordert er eine Einkommensumverteilung zu Gunsten der Bezieher niedriger Einkommen mit hoher Konsumquote und eine Reduzierung des Zinsniveaus. Andernfalls drohe eine Tendenz zur chronischen Arbeitslosigkeit:
„If capitalist society rejects a more equal distribution of incomes and the forces of banking and finance succeed in maintaining the rate of interest somewhere near the figure which rules on the average during the nineteenth century (...), then a chronic tendency towards the underemployment of resources must in the end sap and destroy that form of society” (Keynes 1937: 132).
In seiner Analyse erweist sich der Kapitalismus als ein instabiles, aufgrund unsicherer, hin- und her schwankender Erwartungen heftigen Konjunkturbewegungen unterworfenes System, indem die ungleiche Einkommensverteilung, die Konsumfähigkeit breiter Bevölkerungssichten unnötig niedrig hält und somit eine Tendenz zur Unterbeschäftigung hervorruft (Kromphardt 2004: 186). Unter Berufung auf das Dogma von Hicks – Begründer der modernen Konjunkturtheorie - (1950: 2f.), wonach es in einer Marktwirtschaft notwendigerweise stets zu Konjunkturschwankungen kommen muss, wird die Bedeutung der Nachfrageaggregate für die Konjunkturschwankungen betont (Kromphardt 2004: 190 & 191). Da die Wirtschaft nicht automatisch ihr Vollbeschäftigungsgleichgewicht finden würde, wäre eine staatliche Steuerung nötig. Keynes distanziert sich von planwirtschaftlichen Vorstellungen, aber hält Interventionen des Staates für unabdingbar. Durch die keynesianische Konzeption der Globalsteuerung, wonach für die Preisstabilisierung derselbe Ansatzpunkt wie für die Beschäftigungspolitik wählte, nämlich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, entsteht für die Wirtschaftspolitik die Aufgabe, die Konjunkturschwankungen möglichst gering zu halten (Kromphardt 2004: 192).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Keynes eine staatliche Steuerung der Wirtschaft für unabdingbar hält, da diese nicht automatisch ihr Vollbeschäftigungsgleichgewicht findet. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage lässt sich durch höhere Löhne, höhere Sozialleistungen und höhere Investitionen steigern. Durch trendorientierte, also antizyklische Geld- und Fiskalpolitik sollten private Investitionsentscheidungen expansiv bzw. restriktiv begleitet werden (Globalsteuerung). Des Weiteren soll der Staat selbst fiskalpolitische Maßnahmen ergreifen, indem durch Umverteilung über das Steuersystem Nachfrage stabilisiert werden kann, da niedrigere und mittlere Einkommen eine höhere Konsumneigung haben. Außerdem soll die Zentralbank das Geldangebot erhöhen und den Zinssatz senken, um Nachfrage anzukurbeln.
2.3 Bisheriger Einfluss von Keynes & Polanyi auf sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in Deutschland
Historisch betrachtet hat die wirtschaftskonzeptionelle Innovation der SPD zu einem Keynesianismus auf marktwirtschaftlicher Grundlage 1948 begonnen und 1954 mit dem Berliner Parteitag ihren Abschluss gefunden (Held 1982: 257). Nach der erneuten Niederlage bei der Bundestagswahl 1957 wurde das bisherige Aktionsprogramm in ein neues Grundsatzprogramm umgewandelt, welches in den Bundesparteitag in Bad Godesberg 1959 mündete (Held 1982: 258). Was in der Konzeption der 1940er Jahre durch die Kombination von keynesianischer Wirtschaftspolitik und Sozialisierung erreicht werden sollte, wurde nun der keynesianischen Politik allein auf der Grundlage von Privateigentumsverhältnissen zugeschrieben (Held 1982: 260). Der „keynesianische Traum“ war von nun an das Programm der SPD: „Es wäre ein großes Glück für die Menschheit, wenn sie sich nicht nur frei von Kriegen, sondern auch frei von Krisen in einer sich ständig expandierenden Wirtschaft bei Vollbeschäftigung sicher fühlen könnte. (…) Es dürfte nicht schwer sein, Außenseiter durch Lenkungsmittel der leichten Hand in die richtige Bahn zu lenken. Mit einer solchen Wirtschaftspolitik sichern wir im Gegensatz zum späten Kapitalismus die Stabilität der Wirtschaft, die für alle Berufszweige so wichtige Vollbeschäftigung, die Währungsstabilität und eine andauernde ruhige Expansion“ (Veit 1985: 205 & 206). Nach dem zukünftigen Finanzminister, Karl Schiller, sollte die politische Ökonomie der SPD durch eine Synthese zwischen einer keynesianischen Stabilisations-orientierenden und einer ordoliberalen regulierenden Policy verkörpert werden (Nachtwey 2013: 236 & 237; Bremer 2020: 443). Schillers Keynesianismus war eine neoklassische Synthese, der Keynes in einer neoklassischen ökonomischen Theorie verortete:
„Herein lies the uniqueness of the rationality of social democratic actors: Keynesian productivism sees a produkctive side-effect in material redistribution because higher wages, social expenditure and the expansion of public services contribute to growth” (Nachtwey 2013: 237).
1967 entstand das Wachstums- und Stabilitätsgesetz, indem keynesianische Planungsprogramme eine antizyklische Budgetpolitik mit Koordinierung von lokalen Verwaltungen kombinierte (Nachtwey 2013: 237). Dies gilt als Beginn einer kurzen keynesianischen Periode in der Bundesrepublik (Bremer 2020: 443). Im Bereich der Sozialpolitik kam es zu Abbau von Statusdifferenzen zwischen Arbeitern und Angestellten und zu einer Erhöhung des Arbeitslosengelds. Die Sozialpolitik der ersten großen Koalition konzentrierte sich auf mehr Einkommensgleichheit (Nachtwey 2013: 237). In der anschließenden ersten sozialliberalen Bundesregierung stieg das Verhältnis von Sozialausgaben zu deren Kosten von 25,7 Prozent im Jahr 1970 zu 33,7 Prozent innerhalb der nächsten fünf Jahre (Nachtwey 2013: 238). Als 1974 Helmut Schmidt Willy Brandt als Bundeskanzler vorzeitig ablöste, kam das keynesianische Paradigma zunächst unter Druck (Nachtwey 2013: 238 & Müller-Jentsch et al.: 524). Als im Herbst 1973 die Ölkrise und der anschließenden schweren Rezession strukturelle Fehlentwicklungen die Grenzen des traditionellen wirtschaftspolitischen Instrumentariums aufzeigte, ließen Forderungen nach einer staatlichen Investitionslenkung und -kontrolle nicht lange auf sich warten (Kromphardt 2004: 200). Grundsätzlich war die Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Bundesregierung von 1969 bis 1982 stärker geprägt von keynesianischen nachfrageorientierten Policies (Rothstein & Schulze-Cleven 2020: 305). Während sich die SPD ab 1982 für 16 Jahren in der Opposition befand, behielt sie keynesianische Überlegungen bei, wenngleich sie sich offener für angebotsorientierte Policies zeigte, als andere sozialdemokratische Parteien (Bremer 2020: 443 nach Allen 1989: 273). Nach Nachtwey (2013: 235) hat sich die SPD in den 2000er Jahren weg vom Keynesianismus, hin zu einer „market social democracy“ transformiert, welche in der Formulierung von ökonomischen Policies besteht, die das Verhältnis zwischen Markt, Staat und Individuen neu justierten, indem Elemente des Wirtschaftsliberalismus aufgenommen wurde. Nachtwey (2013: 235) analysierte Grundannahmen des Ordoliberalismus im neuen Parteiprogramm. Dies schlussfolgerte er nach einer Policy-Analyse in den Feldern Arbeitsmarkt-, Sozial- und Finanzpolitik. Nach der Bundestagswahl 1998 schaffte es die SPD mit dem Spitzenkandidaten Gerhard Schröder nach 16 Jahren wieder, stärkste politische Kraft zu werden und den Bundeskanzler zu stellen (Merkel et al. 2006: 154). Durch den „dritten Weg“ (Giddens 1998), formuliert als „die neue Mitte“ versuchte die SPD mit Schröder eine Alternative zwischen keynesianischer Sozialdemokratie und Neoliberalismus zu bilden und zu etablieren (Nachtwey 2013: 235). Der Slogan für den Wahlkampf „Innovation und Gerechtigkeit“ zeigte den politökonomischen, programmatischen und personellen Dualismus der SPD während dieser Zeit (Nachtwey 2013: 238). Spätestens nachdem Oskar Lafontaine wenige Monate nach dem Wahlsieg von SPD und Bündnis90/Die Grünen den Posten als Bundesfinanzminister aufgab, verbreiteten sich in Zuge des dritten Weges überwiegend angebotsorientierte ökonomische Policies (Nachtwey 2013: 239). Mit der Arbeitsmarktreform Agenda 2020 zog die SPD der neuen Mitte angebotsorientierte ökonomische Policies während der Wirtschaftskrise vor (Bremer 2020: 242). Statt einem Ausbau von sozialen Leistungen hieß die Devise „fördern und fordern“; für sozialdemokratische Akteure führte die Globalisierung zu einem „Ende der keynesianischen Strategie“ (Nachtwey 2013: 239 & 241). „Social democracy’s new political economy was not neoliberal and anti-statist, but retained an interventionist character. However, its focus was now on the microeconomic level and the sphere of supply to create public goods for better market performance” (Nachtwey 2013: 242).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ökonomische Policies nach Keynes in sozialdemokratischen Parteien insbesondere bei Aufkommen von wirtschaftlichen Krisen eine bedeutende Rolle spielten. Darüber hinaus lassen sich auch aus Sicht der Parteiendifferenzthese Parallelen von sozialdemokratischen und keynesianisch empfohlenen Policies beobachten. Abweichungen davon waren vor allem in der Kanzlerschaft Helmut Schmidts und Gerhard Schröder zu beobachten. Überlegungen von Polanyi, insbesondere zu den sogenannten fiktiven Waren, haben wenig Anklang bei sozialdemokratischen Parteien gefunden. Das mag allerdings auch daran liegen, dass die Ökonomisierung – vor allem durch Privatisierungen - von Boden, Geld und Arbeit erst in den letzten Jahrzehnten signifikant zugenommen hat.
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