Verkauf unter Einstandspreis. Seine Wertung im Europäischen und deutschen Kartellrecht


Seminararbeit, 2019

44 Seiten, Note: 9


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Literaturverzeichnis IV

A. Einführung

B. Charakteristik und Einordnung

C. Bewertung nach Europäischem Kartellrecht - Art. 102 AEUV
I. Kampfpreisunterbietung als Missbrauchshandlung
1. Begriff
2. Bewertung nach der Rechtsprechung
a) Preise unter den durchschnittlichen variablen Kosten
b) Preise unter den durchschnittlichen Gesamtkosten
c) Die Verdrängungsabsicht als subjektiver Tatbestand ?
d) Verlustausgleich
e) Rechtfertigung
3. Vorgehensweise der Kommission
II. Kampfpreisunterbietung mit Preisnachlässen
1. Allgemeines
2. Aktuelle Entwicklung: Der Intel-Rechtsstreit
3. Bewertung und mögliche Auswirkungen

D. Bewertung nach deutschem Kartellrecht
I. Bewertung nach § 19 GWB
II. Bewertung nach § 20 Abs. 3 GWB
1. Allgemeines
2. Entwicklung
a) Gesetzgebung und Rechtsprechung
b) Die Neufassung des § 20 Abs. 3 GWB
3. Angebot unter Einstandspreis
4. Weitere Voraussetzungen zum Angebot von Lebensmitteln
5. Weitere Voraussetzungen zum Verkauf von anderen Waren oder Leistungen
a) Nicht nur gelegentliches Anbieten
b) Rechtfertigung
6. Kritik an der Vorschrift

E. Schlussbetrachtung

Schlusserklärung

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einführung

Als ein elementares Merkmal einer Marktwirtschaft gilt, die Freiheit, den Verkaufs­preis eines Produktes oder einer Dienstleistung selbst festzulegen.1 Die Preispolitik eines Unternehmens ist bei der Gewinnung von neuen, sowie bei der Erhaltung von alten Kunden von hoher Bedeutung, sodass das Streben eines Unternehmens nach niedrigen Preisen, selbst wenn dadurch andere Wettbewerber verdrängt werden, zur Natur des Wettbewerbs gehört.2 Der daraus folgende intensive Preiswettbewerb ist eine der Grundformen des Wettbewerbs und kann den Verbrauchern in Form von niedrigen Preisen zugutekommen.3 Nicht ohne Grund hat die Preisbildungsfreiheit eine besondere Bedeutung bei der Interessenabwägung im GWB.4

Auch Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung können und sollen durch niedrige Preise am Preiswettbewerb teilnehmen, um die Gunst der Verbrau­cher zu erlangen.5 Ein intensiver Preiswettbewerb, der mit leistungsgerechten Mit­teln geführt wird, ist ein wesentliches Merkmal eines freien und wirksamen Wett­bewerbs und darf nicht durch Gesetze oder Rechtsprechung eingeschränkt werden.6 Ferner führt ein solcher legitimer Preiswettbewerb auch dazu, dass weniger leis­tungsfähige Unternehmen, die dadurch für den Verbraucher weniger interessant sind, vom Markt ausgeschlossen werden.7 Somit ist es auch grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn das marktbeherrschende Unternehmen diesen Preiskampf ge- winnt.8 Der Preiswettbewerb eines marktbeherrschenden Unternehmens kann nicht schon deshalb als wettbewerbswidrig gelten, weil ein Wettbewerber dadurch vom Markt verdrängt wird, da sonst das Missbrauchsverbot „einen sicheren Hafen gegen scharfen Wettbewerb seitens marktbeherrschender Unternehmen bieten“ würde.9 Stattdessen muss darauf Bezug genommen werden, wann die Preissenkung nicht mehr als Ausdruck des Leistungswettbewerbs angesehen werden kann.10 Dies führt zu der Frage, wie eine genaue Abgrenzung zwischen legitimer Preissenkung mit leistungsgerechten Mitteln und einem gezielten, missbräuchlichen Verhalten vor­genommen werden kann, damit die Preispolitik eines Unternehmens adäquat be­wertet werden kann und gegebenenfalls notwendige Maßnahmen seitens der Be­hörden ergriffen werden können.11

Die nachfolgende Arbeit beschäftigt sich allgemein mit dem Verkauf unter Einstandspreis und inwiefern dieser, als bestimmte Form einer Niedrigpreisstrate­gie, im Europäischen und deutschen Kartellrecht bewertet wird. Dazu werden zu­nächst die grundlegenden Merkmale dieser Verhaltensart erfasst und im Gesamt­kontext eingeordnet. Daran anknüpfend wird im Schwerpunkt der Arbeit der Ver­kauf unter Einstandspreis zuerst in Bezug auf Art. 102 AEUV bewertet und danach in Bezug auf die §§ 19, 20 GWB. Grundlegende Fragen dieser Bewertung sind, ab wann konkret eine Preissenkung nicht mehr als Ausdruck des Leistungswettbe­werbs angesehen werden kann und ob ein solches Verhalten, falls es wettbewerbs­widrig ist, gerechtfertigt werden kann. Diesbezüglich stellt sich im Rahmen eines Verdrängungsmissbrauch ebenfalls die Überlegung, ob die Verhaltensweise einen Zweck oder eine Wirkung haben muss. Im Europäischen Kartellrecht wird zudem auf Preisnachlässe in Form von Treuerabatten und das Intel -Urteil von 2017 einge­gangen und inwiefern daraus Auswirkungen für die kommende Rechtsprechung entstehen könnten. Im deutschen Kartellrecht wird insbesondere Bezug genommen auf die Neufassung des § 20 Abs. 3 S. 3 GWB und der bestehenden Kritik an einem Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis. Abschließend werden die wesentlichen Ergebnisse in einer Schlussbetrachtung zusammengefasst.

B. Charakteristik und Einordnung

Der Einstandspreis ist, der zwischen dem Lieferant und dem Händler für die Be­schaffung der Ware vereinbarte Preis.12 Kommt es nun zu einem Verkauf unter die­sem eigenen Einkaufspreis, entsteht für den Händler grundsätzlich ein Verlustge­schäft. Fraglich ist daher, welche Gründe es geben mag, eine solche Niedrigpreis­politik zu verfolgen, bei der gezielt Verluste in Kauf genommen werden.

Die Intention einer solchen Preisgestaltung wird meist darin bestehen, dass ein bestimmtes Unternehmen seine Wettbewerber preislich unterbietet, um neue Kunden zu gewinnen und dadurch die Konkurrenten derart in ihrem Absatz zu be­hindern, dass diese dazu gedrängt werden, vom Markt auszuscheiden.13 Dieses kon­krete Verhalten wird als Kampfpreisunterbietung bezeichnet.14 Im englischen Sprachraum wird die Kampfpreisunterbietung sinnbildlich als „ predatory pricing “ bezeichnet.15 Eine Kampfpreisunterbietung ist eine Niedrigpreisstrategie, die man in zwei Phasen gliedern kann.16 In der ersten Phase setzt das marktbeherrschende Unternehmen seine erhebliche Finanzkraft dazu ein, über einen längeren Zeitraum unverhältnismäßig niedrige Preise anzusetzen, die die finanzschwächeren Wettbe­werber meist nicht über diesen Zeitraum mithalten können, sodass sie sich früher oder später vom Markt zurückziehen müssen.17 Hierbei nimmt das Unternehmen finanzielle Verluste in Kauf.18 Das Ziel des Verhalten muss nicht unbedingt die Verdrängung vorhandener Wettbewerber sein, sondern kann auch darauf gerichtet sein, potenzielle Wettbewerber vor dem Markteintritt einzuschüchtern oder vorhan­dene Wettbewerber zu disziplinieren.19

Falls die Verdrängung der Wettbewerber oder die Einschüchterung der po­tenziellen Wettbewerber erfolgreich war, folgt die zweite Phase der Kampfpreis­strategie. Hierbei kann das marktbeherrschende Unternehmen seine Preise, auf­grund des nun verringerten Wettbewerbsdrucks, derart hoch ansetzen, dass die kommenden Einkünfte, die erheblichen finanziellen Verluste bei dem vorangegan­genen Preiskampf, amortisieren und auf Dauer ein höherer Gewinn erzielt werden kann, als bei der Marktsituation zuvor.20 Denn das Verhalten des marktbeherrschen­den Unternehmens in der ersten Phase führt zu einer Abschwächung des horizonta­len Wettbewerbsdrucks, wodurch das Unternehmen bei der Preisbildung einen grö­ßeren Spielraum hat, als zuvor.21

Maßgeblich ist die niedrige Preisfestsetzung, wodurch das Unternehmen zwar zeitweilig Verlust erleidet, jedoch auf lange Sicht die anderen Wettbewerber in ihrer Absatzmöglichkeit behindert und bestenfalls vom Markt verdrängt.22 Abs­trakt gesehen, ist der Verkauf unter Einstandspreis eine Form der Kampfpreisunter­bietung, die auf die Behinderung der Wettbewerber gerichtet ist. Folglich muss auch der Verkauf unter Einstandspreis als eine Niedrigpreisstrategie in Form einer Kampfpreisunterbietung eingestuft und anhand dieser Kriterien bewertet werden.

C. Bewertung nach Europäischem Kartellrecht - Art. 102 AEUV

Die Kampfpreisunterbietung ist eine einseitige Maßnahme eines Unternehmens, wodurch die Rechtmäßigkeit dieses Verhaltens auf europarechtlicher Ebene im Lichte der allgemeinen Grundsätze des Art. 102 S. 1 AEUV geprüft werden muss. Damit eine Kampfpreisunterbietung unter Art. 102 S. 1 AEUV fällt, muss das be­troffene Unternehmen zwingend eine marktbeherrschenden Stellung innehaben, welche missbräuchlich ausgenutzt wird und wodurch die Gefahr begründet wird, dass der zwischenstaatliche Handel beeinträchtigt werden könnte.

I. Kampfpreisunterbietung als Missbrauchshandlung

Das Missbrauchsverbot soll den unverfälschten Wettbewerb möglichst umfassend gegen Eingriffe von marktbeherrschenden Unternehmen schützen.23 Insbesondere die Generalklausel muss aufgrund des Schutzzwecks umfassend verstanden wer- den.24 Daraus folgt, dass Art. 102 AEUV nicht nur dazu dient, die Wettbewerbsde­fizite zwischen verschiedenen Marktteilnehmern auszugleichen, sondern auch zur Verbesserung und Erhaltung des vorhandenen, jedoch bereits geschwächten, Wett- bewerbs.25

Ein Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung kann aufgrund seiner wirtschaftlichen Machtstellung, die Wettbewerbsverhältnisse nachteilig be- einflussen, sodass das marktbeherrschende Unternehmen eine gewisse Verantwor­tung zu tragen hat und einen unverfälschten Wettbewerb nicht verhindern darf.26 Daraus ergibt sich, dass bestimmte Handlungen des Unternehmens als Miss­brauchshandlungen geahndet werden, die den Wettbewerbern ohne marktbeherr­schende Stellung gestattet sind.27 Jedoch besteht diese besondere Verantwortung, die aus der Marktbeherrschung resultiert, nicht grenzenlos. Einem marktbeherr­schenden Unternehmen muss das Verhalten gestattet sein, dass ein Ausdruck von Leistungswettbewerb ist, wie z. B. günstige Preise oder Investitionen.28

1. Begriff

Aus diesen Überlegungen heraus, hat die Rechtsprechung den Missbrauch folgen­dermaßen definiert. Unter einem Missbrauch versteht man „die Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die Struktur des Marktes be­einflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindern, welche von den Mitteln eines normalen Pro­dukt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen.“29 Aus der Definition ergibt sich, dass der Missbrauchs­begriff an objektive Kriterien anknüpft.30

Die klassische Kampfpreisunterbietung ist eine Form des Behinderungs- missbrauchs.31 Der Behinderungsmissbrauch stellt sich ausschließlich als Miss­brauchsform im Horizontalverhältnis gegenüber Wettbewerbern dar.32 Hierunter werden alle Verhaltensarten eines marktbeherrschenden Unternehmens erfasst, die die Vermarktungsmöglichkeiten der vorhandenen und potenziellen Wettbewerber beeinträchtigen, mit der Konsequenz, dass der Wettbewerbsdruck verringert wird.33

Eine Preissenkung eines marktbeherrschenden Unternehmens ist als solche jedoch nicht als per se missbräuchlich anzusehen.34 Stattdessen muss darauf Bezug genom­men werden, wann die Preissenkung nicht mehr als Ausdruck des Leistungswett­bewerbs angesehen werden kann.35

2. Bewertung nach der Rechtsprechung

Die Grundsätze für die Bewertung des EuGH bezüglich der Kampfpreise haben sich aus den Rechtssachen AKZO, Tetra Pak II und France Télécom ergeben.36 Demnach ist maßgeblich, wie sich das Preis-Kosten-Verhältnis des marktbeherr­schenden Unternehmens zusammensetzt.37 Grundsätzlich unterscheidet der EuGH zwei Fallgruppen: Den Verkauf von Produkten unter den durchschnittlichen vari­ablen Kosten und den Verkauf unter den durchschnittlichen Gesamtkosten, jedoch über den variablen Kosten.38 Die durchschnittlichen variablen Kosten sind die Kos­ten, die nach den produzierten Mengen variieren.39 Die variablen Kosten und die Fixkosten ergeben die durchschnittlichen Gesamtkosten.40 Unter die Fixkosten fal­len von der Auslastung unabhängige Kosten, wie z.B. die Miete für Lagerräume.41 Unter variable Kosten fallen z.B. Kosten für die Rohmaterialien oder auch für die Kundenacquisition.42

a) Preise unter den durchschnittlichen variablen Kosten

Verkauft ein Unternehmen seine Leistungen unter den durchschnittlichen variablen Kosten, so stellt eine solche Niedrigpreispolitik immer einen Missbrauch der markt­beherrschenden Stellung dar.43 Ein solcher Verkauf führt dazu, dass das Unterneh­men einen Verlust in Höhe der gesamten Fixkosten und zumindest eines Teils der variablen Kosten je produzierter Einheit, erleidet.44 Die Fixkosten stellen somit den Verlust dar, den das Unternehmen in jedem Fall erleidet.45 Eine solche unwirt­schaftliche Niedrigpreisstrategie ist nur dann sinnvoll, wenn sie zur Verdrängung der Wettbewerber eingesetzt wird, um später den Markt als Monopolist zu beherr­schen und bezüglich der Preisgestaltung unabhängig zu sein.46 In dieser Konstella­tion ist die Ausschaltung des Wettbewerbers das einzige wirtschaftliche Ziel des marktbeherrschenden Unternehmens, aufgrund der Tatsache, dass jede produzierte Einheit einen Verlust für das Unternehmen bringt.47 Eine Verdrängungsabsicht wird nach der Rechtsprechung des EuGH nicht gefordert, sondern wird unwider­leglich vermutet.48 Somit liegt bei einem Verkauf unter den durchschnittlichen va­riablen Kosten per se ein missbräuchliches Verhalten vor.

b) Preise unter den durchschnittlichen Gesamtkosten

Der Verkauf unter den durchschnittlichen Gesamtkosten, jedoch über den variablen Kosten ist grundsätzlich nicht als missbräuchlich anzusehen, da ein solches Verhal­ten durchaus rational sein kann und nicht zwingend verlustbringend sein muss.49 Zum Beispiel kann der Verkauf unter den Gesamtkosten dann sinnvoll sein, wenn die Stilllegung der Produktion teurer ist, als die weitere Produktion.50 Ein Miss­brauch wird jedoch dann angenommen, wenn das Unternehmen das Ziel verfolgt, einen Wettbewerber vom Markt zu verdrängen, der zwar vielleicht ebenso leis­tungsfähig ist, jedoch wegen seiner verminderten Finanzkraft, den auf ihm ausge­übten Wettbewerbsdruck nur zeitweise standhalten kann.51 Verfolgt das Unterneh­men eine Preispolitik, die insgesamt die Kosten deckt, so könnte ein gleichfalls leistungsfähiger Wettbewerber ebenfalls diese Preise über einen langen Zeitraum festsetzen, ohne erhebliche Verluste zu erleiden und folglich mit den Preisen des marktbeherrschenden Unternehmens konkurrieren.52 Ein missbräuchliche Kampf­preisunterbietung setzt nach Ansicht der Rechtsprechung deshalb voraus, dass das marktbeherrschende Unternehmen den Plan verfolgt, den Wettbewerber vom Markt zu verdrängen.53 Hierbei muss die Kommission darlegen, dass es „gewichtige über­einstimmende Anhaltspunkte“54 gab, dass das marktbeherrschende Unternehmen einen solchen Plan verfolgt hat.55 Im einfachsten Fall erlangt die Kommission Zu­griff auf interne Unterlagen, die einen solchen Verdrängungsplan unterstreichen.56 Ferner sind auch Drohungen gegenüber Konkurrenten, aber auch Dauer und Um­fang einer Preispolitik ein Indiz für einen solchen Verdrängungsplan.57

c) Die Verdrängungsabsicht als subjektiver Tatbestand ?

Beim Verkauf unter den Gesamt-, jedoch noch über den durchschnittlichen variab­len Kosten muss nachgewiesen werden, dass das marktbeherrschende Unternehmen den Plan verfolgt, einen ebenso leistungsfähigen Wettbewerber vom Markt zu ver­drängen. Diese Formulierung indiziert, dass das betroffene Unternehmen mit seiner Preispolitik einen konkreten Zweck verfolgen muss. Das heißt, es wird hierbei an subjektive Kriterien angeknüpft, nämlich konkret an die Absicht des marktbeherr­schenden Unternehmens, mittels Unterkostenpreise die Verdrängung des Wettbe­werbers vom Markt zu bezwecken. Eine solche Anknüpfung an subjektive Kriterien bei der Bestimmung des Vorliegens eines Missbrauchs ist eher befremdlich. Dies resultiert aus der Annahme, dass der Missbrauchsbegriff objektiver Natur ist und subjektive Elemente grundsätzlich irrelevant sind.58 Anders als Art. 101 AEUV nimmt Art. 102 AEUV nach seinem Wortlaut keinen Bezug auf den Zweck oder die Wirkung einer Verhaltensweise. Aus diesen Überlegungen stellt sich die Frage, ob ein Missbrauch nach Art. 102 AEUV voraussetzt, dass tatsächliche Auswirkun­gen des missbräuchlichen Verhaltens auf die Wettbewerber und die Marktgegen­seite vorliegen müssen und inwiefern subjektive Komponenten, bei der Bewertung eines missbräuchlichen Verhaltens, einzubeziehen sind.

Beim Behinderungsmissbrauch, wo ein marktbeherrschendes Unternehmen die Wettbewerbsbedingungen nachhaltig beeinträchtigen kann, ist die Anknüpfung an den Zweck und die Wirkung des Verhaltens durchaus sinnvoll, insbesondere aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Kartellverbot aus Art. 101 AEUV.59 Anders wie bei einem Ausbeutungsmissbrauch liegt die Wettbewerbsverfälschung nicht schon in der Handlung an sich, sondern im konkreten Erfolg, nämlich der Veränderung der Angebots- oder Nachfragestruktur.60

In dem Urteil Michelin II beschrieb das EuG den Grundsatz, dass eine Ver­haltensweise nur dann als missbräuchlich gelten kann, wenn sie den Wettbewerb auch beschränken kann.61 Hierbei muss zumindest nachgewiesen werden, dass das Verhalten geeignet sei, diese wettbewerbsbeschränkende Wirkung zu entfalten.62 Eine solche Eignung wird dann als gegeben angenommen, wenn das Verhalten eine konkrete Ausrichtung aufweise.63 Denn ein marktbeherrschendes Unternehmen, das mit seinem Verhalten eine Wettbewerbsbeschränkung beabsichtigt, sei grund­sätzlich auch in der Lage, eine solche wettbewerbsbeschränkende Wirkung tatsäch­lich zu verursachen.64 Im Ergebnis gehen der Nachweis des Zwecks eines Verhal­tens und der Nachweis der wettbewerbsbeschränkenden Folge, also die Wirkung, ineinander über.65 Das EuG bezieht sich auf das Urteil des EuGH zur Rechtssache Michelin.66 In diesem Urteil hatte der EuGH festgestellt, dass Michelins Rabattsys­tem gegen Art. 102 AEUV verstößt, weil das Verhalten geeignet ist, einen Markt­verschluss zu bewirken.67 Nach Ansicht von Bulst ist diese Bezugnahme auf das vorherige Urteil fehlerhaft, da der EuGH bei seiner Wertung, ob das Verhalten für eine Marktverschließung geeignet war, nicht die subjektiven Motive von Michelin bewertete, sondern die Auswirkungen des Rabattsystems auf die Abnehmer, also konkrete objektive Kriterien, heranzog.68 Ferner sei der Schluss von dem Nachweis des Zwecks eines Verhaltens auf die Wirkung des Verhaltens nicht ausreichend begründet.69

[...]


1 Killian/Wendt, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 204.

2 Lange, ZHR 2005, 495 (495).

3 Brand in FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 295; Kommission, Abl. 2009 C-45/7 Rn. 5.

4 Markert in: Immenga/Mestmäcker, GWB, § 19 Rn. 188.

5 GA Fennelly,Schlussanträge, C-395/69 P, C-396/96 P - Compagnie maritime belge, Slg. 2000, I­1365, Rn 117; Emmerich, Kartellrecht, § 10 Rn. 37; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 489.

6 Lange/Pries, EWS 2009, 57 (57); Schröter in: Schröter, EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 301.

7 Schröter in: Schröter, EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 301.

8 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 489.

9 GA Fennelly,Schlussanträge, C-395/69 P, C-396/96 P - Compagnie maritime belge, Slg. 2000, I­1365, Rn 132; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 489.

10 Schröter in: Schröter, EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 301; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 526.

11 Lange/Pries, EWS 2009, 57 (58).

12 Vgl. § 20 Abs. 3 S. 2 GWB.

13 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 488; Wurmnest, S. 375; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 523; Lettl, Kartellrecht, § 3 Rn. 55.

14 Emmerich, Kartellrecht, § 19 Rn. 36; Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 295.

15 Glöckner/Bruttel, ECLR 2010, 423 (423); Wurmnest, S. 375; Huttenlauch in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 102 AEUV Rn. 225.

16 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 488; Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 295.

17 Bulst in: Langen/Bunte, EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 310; Emmerich, Kartellrecht, § 10 Rn. 36; Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV R. 295.

18 Emmerich in: Dauses/Ludwig, Hdb. EU-WirtschaftsR, Art. 102 AEUV Rn. 143; Grill in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV Rn. 41.

19 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 488; Wurmnest, S. 375.

20 Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 295; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 Rn. 488; Bulst in: Langen/Bunte, EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 310.

21 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 488.

22 Glöckner, Kartellrecht, Rn. 523.

23 Emmerich, Kartellrecht, § 10 Rn. 1.

24 Emmerich, Kartellrecht, § 10 Rn. 1.

25 Glöckner, Kartellrecht, Rn. 512; Schröter in: Schröter, EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 24.

26 Lettl, Kartellrecht, § 3 Rn. 3; Dreher/Kulka, WettbR/KartellR, Rn. 1144;

27 EuGH v. 21.2.1973, Rs. 6/72 - Continental Can, Slg. 1973, 215 Rn. 27; Brinker in: Schwarze, EU- Kommentar, Art. 102 AEUV Rn. 15; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 519.

28 Glöckner, Kartellrecht, Rn. 519; Dreher/Kulka, WettbR/KartellR, Rn. 1164; Huttenlauch in: Loe- wenheim/Messen/Riesenkampff, Art. 102 AEUV Rn. 218.

29 EuGH v. 13.2.1979, Rs. 85/76 - Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rn. 91; v. 13.2.2009, Rs. 202/07 - France Telecom, Slg. 2009, I-2369 Rn. 103

30 Glöckner, Kartellrecht, Rn. 515; Grill in Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV Rn. 22; Eilmannsberger, CMLR 2005, 129 (146 ff.).

31 Brand in FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 295; Bulst in Langen/Bunte, EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 310

32 Dreher/Kulka, WettbR/KartellR, Rn. 1163.

33 Huttenlauch in: Loewenheim/Messen/Riesenkampff, Art. 102 AEUV Rn. 218.

34 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 490.

35 Schröter in: Schröter, EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 301; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 526.

36 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 72; v. 14.11.1996, Rs. C-333/94 P - Tetra Pak, Slg. 1996, I-5951; v. 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369.

37 EuGH v. 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369 Rn. 34-38.

38 Brand in FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 300.

39 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 71.

40 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 72.

41 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 498.

42 EuGH v. 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369 Rn. 78; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 498.

43 EuGH v. 14.11.1996, Rs. C-333/94 P - Tetra Pak, Slg. 1996, I-5951 Rn. 41.

44 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 522; Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 301.

45 Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 301.

46 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 7; EuG v. 6.10.1994, Rs. T-83/91 - Tetra Pak, Slg. 1994, II-755, Rn. 147.

47 EuGH v. 14.11.1996, Rs. C-333/94 P - Tetra Pak, Slg. 1996, I-5951 Rn. 41.

48 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 71 f.; v. 14.11.1996, Rs. C-333/94 P - Tetra Pak, Slg. 1996, I-5951 Rn. 41 ff.

49 Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 302; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 522.

50 Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 302.

51 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 72; EuGH 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369, Rn. 35; EuG v. 6.10.1994, Rs. T-83/91 - Tetra Pak, Slg. 1994, II-755, Rn. 149.

52 EuGH v. 27.3.2012, Rs. C-209/10 - Post Danmark, ECLI:EU:C:2012:172, Rn. 38.

53 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 72; EuG v. 6.10.1994, Rs. T- 83/91 - Tetra Pak, Slg. 1994, II-755, Rn. 149; EuGH 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369, Rn. 35;

54 EuGH 2.4.2009, Rs. C-202/07 P - France Télécom, Slg. 2009, I-2369, Rn. 35; EuG v. 6.10.1994, Rs. T-83/91 - Tetra Pak, Slg. 1994, II-755, Rn. 151.

55 Brand in: FK/EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 302; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 522.

56 So z.B. in der Rechtssache EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 78.

57 EuGH v. 3.7.1991, Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rn. 76 ff.; Bulst in: Langen/Bunte, EuKartellR, Art. 102 AEUV Rn. 315; EuGH v. 3.7.1991 - Rs. C-62/86 - AKZO, Slg. 1991, I-3359, Rz. 140, 142; EuG v. 6.10.1994 - Rs. T-83/91 - Tetra Pak, Slg. 1994, II-755, Rz. 190; bestätigt durch EuGH v. 14.11.1996 - Rs. C-333/94 P - Tetra Pak, Slg. 1996, I-5951

58 EuGH v. 13.2.1979, Rs. 85/76 - Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rn. 91.

59 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 164.

60 Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 166.

61 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 237.

62 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 239; Eilmannsberger in: MüKo/EuWettbR, Art. 102 AEUV Rn. 159.

63 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 239.

64 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 241; Glöckner, Kartellrecht, Rn. 527.

65 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 241.

66 EuG v. 20.9.2003, Rs. T-203/01 - Michelin II, Slg. 2003, II-4071, Rn. 240 f.

67 EuGH v. 9.11.1983, Rs. 322/81 - Michelin, Slg. 1983, 3461, Rn. 73, 85.

68 Bulst in: Lange/Bunte, Art. 102 AEUV Rn. 124 mit Verweis auf EuGH v. 9.11.1983, Rs. 322/81 - Michelin, Slg. 1983, 3461, Rn. 74-84.

69 Bulst in: Lange/Bunte, Art. 102 AEUV Rn. 124

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Verkauf unter Einstandspreis. Seine Wertung im Europäischen und deutschen Kartellrecht
Hochschule
Universität Konstanz
Note
9
Autor
Jahr
2019
Seiten
44
Katalognummer
V1151247
ISBN (eBook)
9783346541178
ISBN (Buch)
9783346541185
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Seminararbeit im Schwerpunkt Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht. Es werden insbesondere die neueren Entwicklungen behandelt, wie z.B. die Intel-Rechtsprechung des EuGH und die Neufassung des § 20 GWB.
Schlagworte
Kartellrecht, Deutsches Kartellrecht, Europäisches Kartellrecht, Einstandspreis, GWB, AEUV, Art. 102 AEUV, § 19 GWB, § 20 GWB, Kampfpreisunterbietung, Marktbeherrschung, Intel-Rechtsprechung
Arbeit zitieren
Egor Gontschar (Autor:in), 2019, Verkauf unter Einstandspreis. Seine Wertung im Europäischen und deutschen Kartellrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151247

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