Der Prophet und seine Sprachgewalt in Rainer Maria Rilkes Gedicht "Jeremia". Eine Gedichtanalyse


Hausarbeit, 2021

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Analyse von „Jeremia“
1.1. Formale Analyse
1.1.1. Metrik und Reime
1.1.2. Klanglichkeit
1.2. Perspektivität und Redeformen
1.3. Zeitstruktur und Szenen
1.4. Wort- und Bildgebrauch

2. Fazit: Ein Kampf zwischen Wort, Gott und Mensch

3. Literatur- und Quellenverzeichnis
3.1. Quellen
3.2. Literatur
3.3. Verwendete Internetseiten

4. Anhang

Einleitung

Rilke interessierte sich zeit seines Lebens für den Raum zwischen Diesseits und Jenseits, göttlichem und menschlichem. Er sah göttliches in Dingen und transzendentes im Alltäglichen. Im Alten Testament, das er weit mehr als das Neue Testament schätzte, fand er die Propheten als Figuren, die sich in diesem Raum bewegten.1 Von dreiundzwanzig Gedichten, die auf biblische Figuren zurückgreifen, haben sieben einen der Gottesmänner im Zentrum. Dabei finden wir aber nicht siebenmal dieselbe Figur. Denn so wie sich Rilkes Gottesverständnis im Laufe seines Schaffens von einem pantheistischen Gottesgefühl über einen gewaltsamen Gott hin zu einem fernen nietzscheanischen Gott wandelt, so entwickelte sich auch sein Prophetenbild.2

In Jeremia3 treffen wir auf einen Propheten, der in einer engen Beziehung zu seinem sehr gewaltsamen Gott steht. Er wird von Gott gebraucht und missbraucht und ausgestattet mit einer gewaltigen Stimme, die unheilbringende Worte ausspricht. Dass der Prophet im Gedicht mehr ist als nur ein Botschafter für Gott, wird schnell ersichtlich. Die Worte haben eine eigene Macht und Kraft, die sogar das Leben des Jeremia beeinflussen, bedrohen, aber auch bedingen.

Auf den folgenden Seiten soll das Gedicht Jeremia analysiert werden. Besonders wird dabei untersucht, in welcher Beziehung der Prophet zur Sprache steht und inwieweit die Worte des Gottesbotschafters eine eigene Sprachmacht4 entwickeln.

Am Anfang der Analyse steht eine Betrachtung von Metrik, Reimen und Klanglichkeit. Zweitens werden die Perspektivität und die Redeformen beleuchtet und anschließend die zeitlichen Strukturen im Gedicht ermittelt. Den größten Teil wird die Untersuchung von Bildlichkeit und Wortgebrauch einnehmen. Ein Fazit beschließt die Analyse.

In der Forschung stand noch nie die Prophetenfigur bei Rilke im Mittelpunkt eines Werkes. Immer wieder jedoch geschahen Auseinandersetzungen mit dieser Figur, wenn Rilkes Gottesbild oder seine Verwendung der Bibel untersucht wurde. Für diese Arbeit sind daher die Werke von Marianne Sievers, Ulrich Fülleborn und Manfred Windfuhr von Bedeutung.5 Gabriela Wacker, Michael Kahl und William Waters widmen Jeremia in ihren Untersuchungen eine eigene Analyse, die auch in diese Arbeit einflossen.6

1. Analyse von „Jeremia“

Rilke veröffentlichte 1907 und 1908 seine zweiteilige Gedichtsammlung Neue Gedichte und Neue Gedichte anderer Teil im Leipziger Insel Verlag.7 Neben bekannten Gedichten wie Der Panther oder Blaue Hortensie sind in dieser Sammlung auch einige Prophetengedichte zu finden, von welchen Jeremia Gegenstand dieser Analyse ist. Jeremia ist ein Klagelied des gleichnamigen Propheten, der unter seinem von Gott gegebenen Auftrag und den unheilbringenden Worten desselben leidet und sich schließlich zu befreien versucht.

1.1. Formale Analyse

1.1.1. Metrik und Reime

Ein erster Blick auf die Form zeigt zunächst eine große Regelmäßigkeit im Reimschema, wie es typisch ist für Rilke. Kreuzreime bestimmen die Zeilenenden der ersten drei Quartette. In der letzten, sechszeiligen, Strophe ist ein verschränkter Reim festzustellen. Fast kein Reim wird wiederholt, lediglich der Reim in Vers 6 und 8 findet sich erneut in den Versen 15 und 18.

Die Metrik ist teilweise regelmäßig. Häufig kommt ein alternierender Vers mit Auftakt vor, so etwa im ersten Vers. Hier wird im Zusammenspiel mit der Klanglichkeit und der zeitlichen Gestaltung eine harmonische Umgebung konstruiert. In diesem Vers, wie auch in allen anderen Versen mit dieser Metrik, wird der singhafte Klagelied-Charakter des Gedichtes evoziert. Im nächsten Vers folgen auf die Alternierung mit Auftakt zwei Daktylen. Da die Hebung so nun auf „Rasender“ und „du“ liegen kann, wird die Anklage an Gott metrisch gestützt. Im Rest der Strophe ist erneut eine jambische Metrik zu finden. An allen Strophenenden wird diese nach der letzten Hebung unterbrochen.

Die zweite Strophe ist bestimmt von alternierenden Versen mit Auftakt. Zwischen Vers 6 und 7 gibt es ein Enjambement, durch welches das Wundwerden des Mundes (V. 7) klanglich nahtlos an das Knabenalter des Propheten (V. 6) rückt. Im letzten Vers der Strophe gibt es eine Zäsur. „Ihm“ und „Unglücksjahr“ prallen metrisch aneinander und werden so auch inhaltlich zusammengestellt: Der Mund („ihm“) inkarniert das Unglück.8

Alternierende Verse mit Auftakt prägen auch die dritte Strophe. Markant ist hier die Zäsur im zweiten Vers dieser Strophe: Das Personalpronomen „du“ und die Gottesbezeichnung „Unersättlicher“ rücken enger zusammen, wodurch letztere noch intensiver die wahrgenommene Persönlichkeit Gottes bestimmt. Die letzten beiden Verse der Strophe sind alternierend mit Auftakt.

Die finale Strophe des Gedichtes weist mehrere Unregelmäßigkeiten auf: In 13 treffen drei Senkungen aufeinander, eingerahmt von zwei ähnlichen betonten Silben („zerstoßen und zerstören“). Dies korreliert mit der apokalyptischen Zerstörung, die dadurch nicht nur inhaltlich, sondern auch klanglich illustriert wird. Vers 16 und 17 lassen unterschiedliche Betonungen zu. Wahlweise liegt die Hebung auf den Pronomen „ich“ bzw. „meine“, oder auf den sie umgebenden Silben. Der Kampf des Propheten um die Wiedergewinnung der eigenen Identität wird dadurch metrisch dargestellt.

1.1.2. Klanglichkeit

In Jeremia wird der Inhalt und die Zeitstruktur vielfältig durch Klanglichkeit unterstützt, auch jenseits der Metrik und Reime. Oftmals geschieht eine Häufung von gleichklingenden Vokalen oder Konsonanten.

Schon im ersten Vers untermalt die vierfache Alliteration mit w die friedliche Harmonie der vergangenen Zeit im Leben der Figur. Diese klangliche Atmosphäre wird jäh gestört durch das intensiv zu betonende Ra in „Rasender“ und den Reibelaut in „vermo ch t im zweiten Vers. Zusammen mit der h -Alliteration im dritten Vers, die das erschöpfte Hauchen des Jeremia ausdrückt, wird der Moment der Berufung in der Rückschau reflektiert. Der Infinitiv mit zu („zu reizen“, V. 3) ähnelt klanglich dem Verb zerreißen. Durch diese Anspielung auf die Redensart wird das Herz klanglich an den Rand des Zerberstens gebracht. Das „hingehaltne Herz“ (V. 3) „kocht“ schließlich im vierten Vers. Das Kochen wird durch eine Onomatopoesie in Form von Zischlauten nachgeahmt ( ss, tzt, s ; V. 4).

In der zweiten Strophe ist die Vokal-Konsonant-Kombination un gleich fünfmal zu finden, dazu noch viermal mit anderen Konsonanten. Der dunkle Vokal drückt eine ebenso dunkle Stimmung aus. Die Silbe un hat eine zusätzliche negative Konnotation, da sie häufig für die Negation Verwendung findet.

In ähnlicher Weise fungieren die langgezogenen und dunklen ö - und ä - Laute in der dritten Strophe als klangliche Darstellung der Klage des Jeremia. Diese Strophe endet mit einem Enjambement: Die Stimmung des „stillen“ zwölften Verses eskaliert klanglich wie inhaltlich im dreizehnten Vers. Dies geschieht durch metrische Unregelmäßigkeiten (s.o.) und die Alliteration mit dem Zischlaut z.

Die Apokalypse in der letzten Strophe wird klanglich durch das Präfix ver und ähnlich klingende Silben („fern-“, „fahr-“; V. 14, 15) dargestellt. Diese Silbe „drückt in Bildung mit Verben aus, dass eine Sache durch etwas (ein Tun) beseitigt, verbraucht wird, nicht mehr besteht“.9

1.2. Perspektivität und Redeformen

Unter den vielen Prophetengedichten Rilkes ist Jeremia das einzige Rollengedicht, in dem der Prophet vollständig selbst spricht.10 Die Sprechinstanz, die sich selbst „Ich“ (V. 1) nennt, trägt laut dem Titel des Gedichtes den Namen Jeremia. „Ich“ und weitere sprechinstanzbezogene Pronomen wie „mir“ und „meine“ (V. 3; V. 17) finden sich in allen Strophen.

Die Rede des Propheten ist eine direkte Anrede an ein „du“ (V. 2), welcher auch „Rasender“ (V. 2) und „Unersättlicher“ (V. 10) genannt wird. Wird der intertextuelle Kontext der Figur Jeremia und der Kontext des Gedichtes innerhalb von Rilkes Werk hinzugezogen, ist davon auszugehen, dass es sich bei der angesprochenen Figur um Gott handelt. Als dieser wird das Du aber nie explizit bezeichnet.

Eine Bezeichnung der Rede als Gebet lässt außer Acht, dass der Prophet keine Antwort von Gott zu erwarten scheint, im Gegensatz zum biblischen Propheten Jeremia. Stattdessen kann die Rede als Anklage verstanden werden, das an die Klagelieder der Bibel angelehnt ist. Auch der Imperativ „sieh du zu“ (V. 12) ist ein Befehl, der keine sprachliche Reaktion in Erwartung stellt.11

Das Ich erzählt nichts auktoriales über den Angesprochenen, sondern spricht ihn aus einer ausschließlich individuellen Perspektive an. Gott ist so nur aus dem Blickwinkel des Ichs existent.12

1.3. Zeitstruktur und Szenen

Die Zeitstruktur des Gedichtes dreht „sich um die Zeitachse […] von ‚Einmal‘ als erstes Wort des Gedichts bis ‚endlich‘ in der vorletzten Zeile“.13 Dazwischen befindet sich Jeremia in einem Raum zwischen den Zeiten.

[...]


1 Vgl. Fülleborn, Ulrich: Rilkes Gebrauch der Bibel. In: Engel, Manfred u.a. (Hg.): Rilke und die Weltliteratur. Düsseldorf 1999, S. 19-38, hier S. 25.

2 Vgl. Wacker, Gabriela: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin/Boston 2013, S. 193-197.

3 Rilke, Rainer: Jeremia. In: Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte. Frankfurt/M. 1998 u. Leipzig, S. 513f.

4 Vgl. Wacker 2013, S. 226f.

5 Fülleborn 1999; Sievers, Marianne: Die biblischen Motive in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. In: Germanische Studien 202 (1938), Nachdruck Lübeck 1967; Windfuhr, Manfred: „Religiöse Produktivität“. Die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes Neuen Gedichten. In: Düsing, Wolfgang (Hg.): Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Tübingen 1997, S. 137-150.

6 Wacker 2013; Kahl, Michael: Lebensphilosophie und Ästhetik. Zu Rilkes Werk 1902-1910. Freiburg im Breisgau 1999; Waters, William: Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹. In: Fischer, Norbert (Hg.): ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Hamburg 2014, S. 201-222.

7 Rilke, Rainer Maria: Neue Gedichte. Leipzig 1907; Rilke, Rainer Maria: Neue Gedichte anderer Teil. Leipzig 1908.

8 Vgl. Wacker 2013, S. 232-234.

9 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/ver_ (letzter Zugriff 10.09.2021).

10 Vgl. Fülleborn 1999, S. 28.

11 Vgl. Waters 2014, S. 207f.

12 Vgl. Ebd. S. 202.

13 Ebd., S. 208.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Der Prophet und seine Sprachgewalt in Rainer Maria Rilkes Gedicht "Jeremia". Eine Gedichtanalyse
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
Gattungstheorie (Lyrik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
18
Katalognummer
V1151455
ISBN (eBook)
9783346540409
ISBN (Buch)
9783346540416
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gedicht, Lyrik, Gedichtsanalyse, Rilke, JEremia, Prophet, Deutsch, Interpretation, Prophetengedicht, Sprache, Metrik
Arbeit zitieren
Robin Baumann (Autor:in), 2021, Der Prophet und seine Sprachgewalt in Rainer Maria Rilkes Gedicht "Jeremia". Eine Gedichtanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151455

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