Institutioneller Rassismus. Polizeigewalt an afroamerikanischen Bürgern in den USA

Pierre Bourdieu und die Theorie Sozialer Ungleichheit


Bachelorarbeit, 2020

64 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1. Einleitung

2. Pierre Bourdieu und die praxeologische Theorie der Praxis
2.1 Strukturierung der gesellschaftlichen Welt
2.1.1 Zentrale Begriffe
2.1.1.1 Habitus
2.1.1.2 Kapital
2.1.1.3 Klasse
2.1.2 Der soziale Raum und die Dynamik der Felder
2.2 Die symbolische Herrschaft und ihre Mechanismen
2.3 Rassismustheoretische Perspektiven
2.3.1 Soziale Ungleichheit und Rassismus
2.3.2 Institutioneller Rassismus

3. Polizeigewalt als Dimension des institutionellen Rassismus in den USA
3.1 Rassismus in den USA
3.1.1 Gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung des Rassismus
3.1.2 Rassismus in der Gegenwart
3.2 Die Exekutive in den USA
3.2.1 Die Polizei als Handlanger des Staates
3.2.2 Masseninhaftierungen als Strategie des Staates

4. Die Bedeutung der Wohlfahrt und die Rolle der Sozialen Arbeit

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

Abstract

Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, institutionellen Rassismus in den USA am Beispiel der Polizeigewalt an afroamerikanischen Bürger*innen zu verdeutlichen. Hierfür wird die Theorie der Sozialen Ungleichheit des Soziologen Pierre Bourdieu beschrieben und auf die amerikanische Gesellschaft angewandt. Historische Rückblenden und eine Gegenwartsdiagnose der amerikanischen Gesellschaft hinsichtlich Rassismus führen zu eindeutigen Ergebnissen, die eine systematische Ausbeutung und Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung aufzeigt, das Jahrhunderte zurückgreift. Institutioneller Rassismus ist fortwährend ein Bestandteil der amerikanischen Gesellschaft, deren Mechanismen lediglich immer weiter verborgen werden.

Außerdem etabliert sich in den USA im Zuge eines Wohlfahrstaates die Soziale Arbeit als Profession, die jedoch im Aufkommen eines Strafstaates rückläufige Entwicklungen zu verzeichnen hat. Folge für die Soziale Arbeit ist ihre neue Aufgabe als Handlanger des Staates durch Kontrolle und Überwachung. Dies führt zur Stärkung einer Reproduktion rassistisch sozialer Ungleichheit. Durch die anwachsende Privatisierung des Strafjustizsystems und der Wohlfahrt wird zunehmend in die Souveränität des Staates eingegriffen. Der Staat als Monopol symbolischer Herrschaft wird ausweitend von einer ökonomischen Elite mit kapitalistischen Ambitionen gelenkt, dass die Reproduktion rassistisch motivierter sozialer Ungleichheit stark fördert.

1. Einleitung

Nach wie vor stellt Polizeigewalt ein weltweit aktuelles Thema dar, das Probleme mit sich bringt und Zweifel in Bezug auf einen Rechtsstaat aufwirft. Die Folgen sind weitreichend. Neben unzähligen Todesopfern durch Polizeigewalt, trägt diese auch zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei. Häufig handelt es sich um bestimmte ethnische Gruppen, die zur Zielscheibe von Polizeigewalt werden. Allein in den USA werden laut Amnesty International pro Jahr schätzungsweise 400 bis 1000 Todesopfer aufgrund von Polizeigewalt verzeichnet. Bei den meisten Opfern handelt es sich um afroamerikanische Bürger*innen. Michael Brown, Eric Garner und Walter Scott sind nur einige von vielen bekannten Opfern, deren Tode auf nationaler Ebene zu Unruhen und Aufständen geführt haben.1

Diese Arbeit befasst sich mit institutionellem Rassismus, das anhand der Polizeigewalt aufgeführt werden soll. Als Beispiel dient die USA und die Polizeigewalt an afroamerikanischen Bürgern*innen. Denn in den USA herrscht bereits seit Jahrhunderten eine Rassenproblematik, die mit Abschaffung der Sklaverei nicht sein Ende gefunden hat und somit weiterhin als aktuelles gesellschaftliches Problem gilt. Der heutige Rassismus findet im Gegensatz zur Vergangenheit hinter einem verborgenen Schleier statt, deren Mechanismen das Erkennen von Rassismus erschweren.

Ziel dieser Arbeit ist die Veranschaulichung dieser verborgenen Mechanismen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft, die insbesondere durch institutionellen Rassismus gestärkt werden. Die daraus entstehenden Folgen für afroamerikanische Bürger*innen und die gesellschaftlichen Auswirkungen sollen ebenfalls skizziert und erläutert werden. Neben der Reproduktion von sozialer Ungleichheit spielt die symbolische Herrschaft ebenfalls eine entscheidende Rolle, die zur Legitimierung von Herrschaftsverhältnissen dienlich ist. Im Falle des institutionellen Rassismus ist es der Staat, von dem die symbolische Herrschaft ausgeht und dadurch die Gesellschaft spaltet und den Rassismus weiter vorantreibt. Welcher Zweck sich hinter diesem Mechanismus verbirgt, soll ebenfalls deutlich werden.

Die Arbeit gliedert sich folgendermaßen: Der Schwerpunkt im theoretischen Teil liegt auf den Werken des Soziologen Pierre Bourdieu und seiner Theorie der sozialen Ungleichheit, die zur Untersuchung des Rassismus angewendet werden. So spielen von Bourdieu eingeführte Begriffe wie u.a. Habitus, Kapital und Klassenzugehörigkeit eine bedeutende Rolle, wenn es um die Erklärung sozialer Wirklichkeit und um symbolische Herrschaft geht. Zwar liegt der Fokus des theoretischen Rahmens dieser Arbeit auf der Bourdieu' schen Theorie, doch kann sie aufgrund dessen Komplexität nicht in ihrer gesamten Fassung wiedergegeben werden. Daher beschränkt sich die Arbeit auf die zentralsten Begriffe und Konzepte, die zur späteren Analyse erforderlich sind. Außerdem erfolgt ein Einblick in die Rassismusforschung, in der Bezüge zwischen sozialer Ungleichheit und Rassismus herausgearbeitet werden und auf institutionellen Rassismus näher eingegangen wird. Anschließend folgt das Untersuchungskorpus, an dem die aufgeführten theoretischen Grundlagen Anwendung finden sollen. Dazu werden gesellschaftliche Entwicklungen des Rassismus in den USA genauer betrachtet und eine Gegenwartsdiagnose erörtert. Zudem wird die exekutive Gewalt in den USA genauer betrachtet. Das Augenmerk liegt dabei auf der Polizeiarbeit und ihren Folgen. Wie hat sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt und weshalb kommt es immer wieder zu rassistischen Übergriffen seitens der Polizei? Außerdem ist die Frage zu klären, wie es in den USA zum Wechsel von einem Wohlfahrstaat zu einem strafenden Staat kam und welche Konsequenzen es nach sich zieht? Forschungsliteratur zu diesem Thema liefert bereits Loïc Wacquant2, in dem er die Folgen des strafenden Staates veranschaulicht, deren größte Zielgruppe Afroamerikaner*innen sind. Im Anschluss folgt eine Erörterung zur Bedeutung der Wohlfahrt und der Sozialen Arbeit im Kontext des institutionellen Rassismus. Inwieweit kann Soziale Arbeit in den USA der sozialen Ungleichheit entgegenwirken? Wo sind Herausforderungen und wo ihre Grenzen? Ist sie lediglich ein Handlanger des strafenden Staates geworden oder bieten sich ihr wichtige Handlungsspielräume?

2. Pierre Bourdieu und die praxeologische Theorie der Praxis

Um die Soziologie Pierre Bourdieus genau zu verstehen, ist es sinnvoll sich zunächst mit seiner Vorgehensweise vertraut zu machen. Denn Bourdieu verfolgt eine Soziologie jenseits des Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus, aus der seine praxeologische Theorie entstand, die sich in die Soziologie etablierte. In seinem Werk Entwurf einer Theorie der Praxis befasst sich Bourdieu neben seinen ethnologischen Studien mit den erkenntnistheoretischen Grundhaltungen des Subjektivismus und Objektivismus, die innerhalb der Sozialwissenschaften dominieren. Bourdieu bietet mit seiner Praxeologie eine alternative erkenntnistheoretische Grundhaltung an. Sein Anliegen liegt darin, diesen vorherrschenden Dualismus innerhalb der Sozialwissenschaften zu überwinden. Beide erkenntnistheoretische Grundhaltungen sind durch die Gegensätze innerhalb der Soziologie zu erkennen, wie z.B. durch die „Gegensatzpaare Individuum und Gesellschaft, Lebenswelt und System, […] Verstehen und Erklären, Mikro- und Makrosoziologie“.3 Grund für Bourdieus Bestreben einer Überwindung des Dualismus ist die Problemstellung, die sich hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis ergibt. Denn beide erkenntnistheoretische Positionen führen zu verschiedenen Fokussierungen der Erkenntnisse und somit nur zu beschränkten Wahrheiten. Beide Vorgehensweisen beinhalten demnach Gefahren für falsche Rückschlüsse und Urteile. Außerdem seien nach Bourdieu diese Dualismen künstlich erschaffen, sodass durch eine Zusammenführung beider Grundhaltungen diese beschränkten Wahrheiten zu einem Gesamtbild systematisch verbunden werden sollen.4

Während der Subjektivismus durch die Analyse subjektiver Umstände wie Wahrnehmung, Kognition und Handlung der ausführenden Individuen zu Erkenntnissen gelangt, versucht der Objektivismus Erkenntnisse durch subjektunabhängige Sachverhalte zu erlangen, wie z.B. der Analyse von Systemen, Gesetzen oder Strukturen.5

Bourdieu entwickelt mit seiner Praxeologie eine innovative Vorgehensweise innerhalb der Sozialwissenschaften, in dem er beide erkenntnistheoretischen Grundhaltungen zusammenführt. Dabei geht es „weder um eine Infragestellung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis noch um die Perpetuierung der objektivistischen Ignoranz bezüglich der spezifischen Eigenart subjektiv-praktischer Erkenntnis.“6 Vielmehr werden durch eine kritische Betrachtung Grenzen beider Grundhaltungen kenntlich gemacht, reflektiert und verbunden.

Der Fokus der Praxeologie liegt daher in dem Aufzeigen der Art und Weise wie Menschen die Praxis leben. Das soll die Bandbreite menschlicher Vorgehensweise verdeutlichen, die weder allein auf Regeln noch auf Ideen gestützt agiert, sondern ebenso durch unbehandelte Hintergründe resultieren. Neben dem Erfassen dieser Praxis der Individuen ist für Bourdieu auch ihre Entstehung von Bedeutung, sodass anhand der Praxeologie beide erkenntnistheoretischen Bereiche weitreichendere Erkenntnisse ermöglichen sollen. Hierbei spielt die Theorie des Habitus, des sogenannten inkorporiertem Seins eine entscheidende Rolle, auf das im weiteren Verlauf genauer eingegangen werden soll.7 Auch fordert Bourdieu eine wissenschaftliche Reflexivität innerhalb der Wissenschaft und Forschung mit dem Ziel eines verlässlicheren sozialwissenschaftlichen Wissens, ohne das Tradieren von subjektiven Einflüssen wie z.B. der eigenen sozialen Herkunft.8

2.1 Strukturierung der gesellschaftlichen Welt

Bourdieu geht von einer Theorie der sozialen Ungleichheit aus, in der die Strukturierung der gesellschaftlichen Welt durch verborgene Mechanismen organisiert und diese durch eine Doxa gekennzeichnet ist, in der „die Einrichtung der sozialen Welt, wie sie ist, als selbstverständlich [erscheint].“9 Soziale Wirklichkeit unterscheidet sich daher womöglich von unserer persönlichen Wahrnehmung der Gesellschaft. Um diese soziale Wirklichkeit genauer betrachten und erfassen zu können, entwickeln sich innerhalb Bourdieus Forschungen zentrale Begriffe. Diese liefern erstmals hilfreiche Handwerkzeuge, mit denen neben der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen auch ihre verborgenen Mechanismen erkannt, benannt und erklärt werden können. Außerdem wird eine Reflexivität ermöglicht, in der sich Forscher*in sowie Leser*in innerhalb der Gesellschaft verorten kann und verborgene Machtstrukturen erkennt, um die eigene Unfreiheit besser begreifen und ggf. eingreifen zu können sowie soziale Ungleichheiten und ihre Reproduktion zu verstehen.

2.1.1 Zentrale Begriffe

2.1.1.1 Habitus

Der Begriff des Habitus existierte bereits vor Bourdieu und ist in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen vorhanden. Der zu untersuchende Habitusbegriff stammt aus der soziologischen Sichtweise mit Prägung Bourdieus.10

Trotz der Kritik des Determinismus am Habitus-Konzept stellt dieses das Zentralste in Bourdieus Soziologie dar und meint „die Haltung des Individuums in der sozialen Welt, seine Dispositionen, seine Gewohnheiten, seine Lebensweise, seine Einstellungen und seine Wertvorstellungen“.11 Gemeint ist eine „sozialisierte Subjektivität“12, in der inkorporierte bzw. verinnerlichte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata im Individuum vorherrschen und seine Interaktion innerhalb der Gesellschaft bestimmen. Folglich stellt der Habitus ein komplexes Produkt von Erfahrungen dar, die das Individuum in seiner sozialen Welt meist auf unbewusster Ebene macht. Das bedeutet, dass eine reziproke Relation zwischen Habitus und sozialer Praxis besteht. Zudem ist der Habitus leibgebunden und meint die Erfahrungen eines Individuums, die sich u.a. in Sprache, Mimik und Aussehen festsetzen und widerspiegeln.13

In Anlehnung an Chomskys generative Grammatik grenzt sich Bourdieu mit seinem Habitus-Konzept insofern davon ab, dass der Habitus als Produkt von Erfahrungen gilt und demnach keine genetische Disposition besteht, sondern auf praktische Funktionen in seinem sozialen Umfeld ausgerichtet ist. Zwar ist der Habitus nur schwer veränderbar, doch ist es trotz dessen möglich und somit als dynamisches Konzept zu verstehen. Beispielsweise bei sich verändernden äußeren Lebensumständen, wie durch sozialen Aufstieg oder Abstieg, die flexibleren Strategien hinsichtlich Bewältigung und Umgang in der sozialen Welt voraussetzen, ist eine Veränderung und Anpassung des Habitus möglich.14 Bourdieu geht weiter und spricht von klassenspezifischem Habitus:

Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer […] Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.15

Das bedeutet, dass innerhalb sozialer Klassen ähnliche Denk-, Wahrnehmungs-, und Handlungsschemata vorhanden sind. Dies führt zu der Annahme, dass die soziale Herkunft bei der Herausbildung und Entstehung des Habitus eine wichtige Rolle einnimmt, die Bourdieu mit seinen Studien zum Bildungssystem in Frankreich bestätigt.16 „Somit ist der Habitus in einem Raum der Positionen verortet.“17 Durch die Unbewusstheit bzgl. des Habitus entsteht eine Doxa hinsichtlich sozialer Klassen und der Strukturierung der gesellschaftlichen Welt, in der alles als selbstverständlich wahrgenommen wird. Außerdem bestehen ein klassenspezifischer Lebensstil und Geschmack, das als Ausdruck des Habitus und der sozialen Klasse verstanden werden kann. Dies führt zu einer symbolischen Ordnung innerhalb der Gesellschaft, die durch ungleiche Güterverteilungen sowohl soziale Ungleichheit erschafft als auch diese reproduziert.18

Aus dem Habitus ergibt sich auch eine Strategie, die das Handeln der Individuen bestimmt. Doch verwendet Bourdieu Strategie nicht im eigentlichen Sinne, sondern betont damit die „Wirkung der Vergangenheit.“19 Das meint, dass in der Vergangenheit erworbene Handlungsräume und Gewohnheiten des Habitus die eigene Handlung unbewusst bestimmen und diese folglich nicht aus strategischem Planen und Handeln hervorgehen.20

Das Konzept des Habitus verdeutlicht sowohl die Ebene des Subjekts anhand seiner Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata als auch die der Struktur durch klassenbezogenen Lebensstil und Geschmack, dass der Praxeologie Bourdieus gerecht wird. Der Habitus kann neben klassenspezifischer Prägung auch ethnisch geprägt sein, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit deutlich werden soll.

2.1.1.2 Kapital

Ein weiterer zentraler Begriff ist das Kapital: „Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff bezieht sich auf alle Entitäten, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen und eine Bewahrung oder Verbesserung der sozialen Position ermöglichen.“21 Es handelt sich somit um Ressourcen, die innerhalb der Gesellschaft als bedeutend gelten und über die soziale Position innerhalb eines Sozialraumes bestimmen sowie Machtverhältnisse festlegen. Dabei unterscheidet Bourdieu zwischen verschiedenen Formen von Kapital: ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital und symbolisches Kapital.

Unter ökonomischem Kapital ist das ganze Vermögen gemeint samt materiellem Besitz, d.h. neben Geld auch in Geld konvertierbares Gut, wie z.B. Immobilien, Wertpapiere, etc. Es handelt sich um die wichtigste Form des Kapitals.22

Das soziale Kapital umfasst die Beziehungen und Netzwerke zu Personen, die zu bestimmten Feldern Zugang und Teilhabe verschaffen können. Es beinhaltet die Bildung und Pflege solcher Freundschaften und Bekanntschaften und „dient vor allem dazu, die Chancen der Erhaltung und der Vermehrung des ökonomischen und des kulturellen Kapitals zu sichern.“23 Folglich erleichtert vorhandenes hohes soziales Kapital auch den Zugang zu anderen Kapitalsorten.

Das kulturelle Kapital hingegen umfasst Bildung, Bildungsabschlüsse sowie Titel, die zum Teil auch von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Bourdieu unterteilt das kulturelle Kapital in drei Kategorien: Das inkorporierte Kulturkapital ist körper- bzw. personengebunden und bedeutet die verinnerlichte Bildung und benötigt daher Zeit und Aufwand. Diese vollzieht sich meist unbewusst und durch die Primärerziehung in der Familie. „Familie und Schule fungieren als Orte, an denen sich durch die bloße Verwendung für einen bestimmten Zeitpunkt als nötig erachteten Kompetenzen herausbilden“.24 Das institutionalisierte Kulturkapital bezieht sich hingegeben auf die Objektivierung des inkorporierten Kulturkapitals in Form von Bildungsabschlüssen. Es ist daher rechtlich ausweisbar und bestimmt den Wert einer Person auf dem Arbeitsmarkt. Das objektivierte Kulturkapital umfasst die materielle Ebene und ist übertragbar, wie z.B. Bücher, Gemälde und Kunstwerke. Jedoch ist es an das inkorporierte Kulturkapital gebunden, da für die materiellen Kulturgüter kulturelle Fähigkeiten von Nöten sind, um aus diesen profitieren zu können.25

Symbolisches Kapital ist „die Form, die eine dieser Kapitalformen annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die seine spezifische Logik anerkennen, […] der sich sein Besitz und seine Akkumulation verdankt.“26 Das bedeutet, dass das symbolische Kapital mit den vorherigen Kapitalformen einhergeht bzw. erst aus diesen entsteht. Wichtig hierbei ist die Anerkennung und das Ansehen aufgrund der eigenen Kapitalausstattung, das zu sozialem Prestige und Status führt. Somit ist diese Form des Kapitals symbolischer Natur und wird von Gesellschaftsmitgliedern vergeben, das neben Prestige und Status auch innerhalb eines Feldes, in dem man sich bewegt „Autorität und Legitimität der Weisung“27 verleiht.

Insofern kann Folgendes festgehalten werden: „Die Anwendung von Kapital geschieht immer in einem Feld, also in einem Netz von sozialen Positionen, Machtverhältnissen und Handlungsregeln.“28 Aus diesem Grunde existiert ein immer fortwährender Kampf um oben genannte Kapitalformen. Die ersten drei genannten Kapitalformen stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis, da sie ineinander überführbar sind. Denn ökonomisches Kapital ermöglicht kulturelles Kapital, während soziales Kapital ökonomisches und kulturelles Kapital ermöglichen kann. Dabei spielt das ökonomische Kapital eine zentrale Rolle, da sie „allen anderen Kapitalarten zugrundeliegt“, aber „niemals ganz auf dieses zurückzuführen sind“.29 Denn Kapitalumwandlungen benötigen je nach Umwandlung nicht nur materiellen Einsatz, sondern auch Zeit, Engagement und Aufwand.30

2.1.1.3 Klasse

Innerhalb der Soziologie versteht man unter Klasse „objektiv ähnliche Möglichkeitsräume“ von Menschen, die „auf geteilten, ähnlichen Existenzbedingungen [beruhen], die sich soziologisch analysieren lassen.“31 Welche Faktoren und Gegebenheiten spielen demnach bei der Zuweisung in soziale Klassen eine Rolle? Hierbei scheint die ökonomische Lage und der Beruf als Antwort zu genügen, doch stellt Bourdieu fest, dass „die Klassen selbst aber über die Verfügung über drei Kapitalsorten und durch Unterschiede in Geschmack und Lebensstil definiert sind.“32 Das bedeutet, dass nicht nur die Kapitalausstattung, sondern auch der Habitus und mit diesem einhergehend auch der Lebensstil und der Geschmack eine Rolle spielen.

Das Konzept der Klasse nach Bourdieu entstand in Anlehnung an Marx und Weber, in dem zentrales Gedankengut bzgl. des Klassenbegriffs aufgenommen und um verschiedene Aspekte erweitert wurden. Denn Bourdieu betont: „Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen“.33 Daher ist Bourdieus Klassenbegriff vielschichtig, sodass die Differenzierung in Klassen sowohl anhand des Kapitals als auch durch den Habitus stattfinden kann. Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, dass sich Klassen durch Abgrenzung zu anderen Klassen definieren, die Bourdieu Distinktion nennt. „Diese Grenzziehungen können auf verschiedenen Ebenen und durch unterschiedliche Akteure vollzogen werden“34, wie z.B. durch Kapitalausstattung, Habitus und Lebensstil.

Bourdieu unterscheidet zwischen drei Klassen: die herrschende Klasse, die Mittelklasse und die Volksklasse. „Die Klasse selbst versteht Bourdieu als sozialen Raum, in dem spezifische Dispositionen des Denkens und Handelns wirken.“35 Folglich unterscheiden sich die Klassen in ihrem Habitus sowie dem daraus resultierenden Lebensstil und in ihrer Position innerhalb des Sozialraums. Dafür verwendet Bourdieu den Begriff der Distinktion, der „Unterschiede setzende Verfahren“ meint, „in dem eine bewußte Absicht, sich von der Allgemeinheit abzusetzen, impliziert sein mag oder nicht.“36 Folglich ist Distinktion ein gesellschaftliches Konstrukt, das erst in Beziehung zu Anderen zum Vorschein tritt und von der herrschenden Klasse bewusst zur Abhebung von anderen Klassen eingesetzt wird.

Die Volksklasse, auch beherrschte Klasse genannt, verfügt über eine allgemein wenige Kapitalausstattung und ist gekennzeichnet durch einen populären Geschmack oder auch einen Geschmack der Notwendigkeit. Der Habitus hierbei ist aufgrund der geringen Kapitalausstattung ausgerichtet auf Praktikabilität im Bezug auf Essen, Kleidung, Konsum, etc. und „macht erst gar keinen Versuch, sich die Gegenstände und Praktiken des legitimen Geschmacks anzueignen, sondern beschränkt sich auf illegitime Werke und Praktiken.“37 Innerhalb dieser sozialen Klasse dominiert die Doxa und damit weitaus weniger Infragestellungen der sozialen Ordnung.38

Das Gegenteil dominiert in der Mittelklasse, die eine breite Masse umfasst, u.a. soziale Aufsteiger oder Absteiger. Der Geschmack dieser Klasse wird auch mittlerer Geschmack genannt und ist durch einen Habitus gekennzeichnet, der auf altbewährte Klassik ausgerichtet ist.39 Insbesondere die Nachahmung des legitimen Geschmacks und die Bildungsbeflissenheit sind kennzeichnend.40

Die herrschende Klasse verfügt über eine allgemein hohe Kapitalausstattung und erhält dadurch die Funktion der Herrschenden über die anderen Klassen und „zeichnet sich immer durch einen Abstand aus.“41 Innerhalb dieser Klasse wird ebenfalls zwischen Dominierenden und Dominierten unterschieden. Erstere bilden Akteure mit hohem ökonomischem Kapital, während Letztere durch hohes kulturelles Kapital gekennzeichnet sind.42 „Die herrschende Klasse hat die Macht, ihren eigenen Lebensstil als vollkommen geltend durchzusetzen, also als notwendig und natürlich.“43 Dieses wird auch legitimer Geschmack genannt, deren Habitus auf Ästhetik, Individualität und Distinktion ausgerichtet ist. Außerdem wird hohe Bildung häufig als Selbstzweck angestrebt, das den Unterschied zur Bildungsbeflissenheit der Mittelklasse markiert.44 Deutlich wird die Macht der herrschenden Klasse in allen Lebensbereichen, die ihre willkürlichen Festlegungen „zu einer Naturgabe stilisiert“.45 Dadurch entsteht eine legitime Kultur, die insbesondere in öffentliche Räume wie Schule, Universität und Arbeitsmarkt eingreift. Es gewährleistet auf diese Weise eine Reproduktion sozialer Positionen und somit auch sozialer Ungleichheit. Der Geschmack dient hierbei der Distinktion und der Legitimation von sozialen Unterschieden sowie Herrschaftsverhältnissen, wobei Geschmack „eine soziokulturell bedingte Form ästhetischer Bewertung und Unterscheidung“46 meint.

2.1.2 Der soziale Raum und die Dynamik der Felder

Bis jetzt wurden die zentralen Begriffe Bourdieus separat betrachtet und erläutert, doch existieren diese nicht für und an sich, sondern müssen als Gesamtbild erfasst werden. Denn diese Begriffe stehen vielmehr in reziprokem Verhältnis zueinander, das sowohl im Sozialraummodell als auch durch das Konzept der Felder unterstrichen wird. So können folgende Ergebnisse zusammengefasst werden: Bourdieu unterscheidet zwischen drei sozialen Klassen, die sich in Kapitalausstattung, Habitus und Lebensstil/ Geschmack unterscheiden. Jeder sozialen Klasse liegt ein ähnlicher Habitus zugrunde. Der Habitus eines Individuums hängt wiederum von der sozialen Herkunft und der Kapitalausstattung ab, während die Kapitalausstattung die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse bestimmt. Mit dem klassenspezifischen Habitus geht auch ein ähnlicher Lebensstil und Geschmack einher, das zur Distinktion führt und der Abgrenzung der Klassen sowie der Hervorhebung der herrschenden Klasse und ihrer legitimen Kultur dient. Wie stehen nun diese Begriffe in Relation zu Bourdieus Sozialraummodell und dem Konzept der Felder? Worüber bestimmen letztendlich Habitus, Klasse und Kapital?

„Das Modell des sozialen Raums setzt sich aus zwei zueinander homolog strukturierten Räumen zusammen“.47 So unterscheidet Bourdieu zwischen dem Raum der sozialen Positionen, das anhand des ökonomischen und kulturellen Kapitals ermittelt wird und dem Raum der Lebensstile, das v.a. durch den Habitus zum Vorschein tritt. Das Sozialraummodell dient der Darstellung und der Analyse sozialer Strukturen und individueller Positionen. Außerdem zeichnet sie die Verteilungsstruktur des gesellschaftlichen und individuellen Kapitals innerhalb einer Gesellschaft nach und veranschaulicht die Komplexität einer Sozialstruktur.48 Des Weiteren soll das Sozialraummodell auf weitere Aspekte hinweisen: „Es gibt so etwas wie einen Raum, der sehr starke Zwänge ausübt. […] Allerdings ist dieser Raum veränderbar.“49 Daraus lässt sich schließen, dass es sich um kein statisches Konzept handelt. Vielmehr wird die Gesellschaft als dynamischer sozialer Raum verstanden, der anhand der Kriterien Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und soziale Laufbahn die Position der sozialen Klassen ermittelt, das anhand eines Koordinatensystems dargestellt werden kann.50 Kapitalvolumen meint die Ausstattung mit den jeweiligen Kapitalsorten, während Kapitalstruktur die Verteilung bzw. die Relation der vorhandenen Kapitalsorten zueinander meint. Letzteres soll den Stand der sozialen Position verdeutlichen, soll heißen, ob sich eine bestimmte Klasse im Abstieg oder Aufstieg befindet.51 Das Sozialraummodell bietet auch einige Unzulänglichkeiten. Dazu gehört beispielsweise nicht thematisierte Merkmale, die innerhalb einer Gesellschaft dominieren können, wie z.B. Ethnizität oder Religion oder die nicht Berücksichtigung von Studierenden, Hausfrauen und Rentnern innerhalb des Modells.52 Insbesondere das Merkmal Ethnizität wird bei Bourdieu nur am Rande erwähnt. Doch dass die ethnische Zugehörigkeit hinsichtlich Kapitalausstattung und Klassenzugehörigkeit ein zentraler Faktor sein kann, wird innerhalb der amerikanischen Gesellschaft deutlich, auf das später genauer eingegangen wird.

[...]


1. Vgl. Amnesty International USA 2015: 1ff.

2. Vgl. Wacquant 2013.

3. Schwingel 1995: 42.

4. Vgl. Schwingel 1995: 41ff.; Vgl. Bourdieu/ Wacquant 1992: 25ff.

5. Vgl. Schwingel 1995: 41ff.

6. Schwingel 1995: 49.

7. Vgl. Fröhlich/ Rehbein (Hrsg.) 2014: 196f.

8. Vgl. Bourdieu/ Wacquant 1992: 62ff.

9. Fröhlich/ Rehbein (Hrsg.) 2014: 79.

10. Vgl. Lenger/ Schneickert/ Schumacher 2013: 14.

11. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 89.

12. Bourdieu/ Wacquant 1992: 159.

13. Vgl. Barlösius2004: 123.; Vgl. Fröhlich/ Rehbein 2014: 113ff.

14. Vgl. Fröhlich/ Rehbein 2014: 112f.

15. Bourdieu 1979: 278.

16. Vgl. Rehbein 2016: 122ff.

17. Barlösius 2004: 128.

18. Vgl. Bourdieu 1979: 279ff.

19. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 138.

20. Vgl. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 138.

21. Fröhlich/ Rehbein 2014: 134.

22. Vgl. Brake/ Büchner 2012: 57f.

23. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 133.

24. Bourdieu 1979: 150.

25. Vgl. Bourdieu 2005 [1992]: 59ff.

26. Bourdieu/ Wacquant 1992: 151.

27. Fröhlich/ Rehbein 2014: 138.

28. Fröhlich/ Rehbein 2014: 135.

29. Bourdieu 2005 [1992]: 71.

30. Vgl. Bourdieu 2005 [1992]: 52; 70ff.

31. Fröhlich/ Rehbein 2014: 141.

32. Abels 2007: 309.

33. Bourdieu 2005 [1992]: 18.

34. Fröhlich/ Rehbein 2014: 142.

35. Abels 2007: 309.

36. Bourdieu 1979: 62.

37. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 146.

38. Vgl. Schwingel 1995: 116.

39. Vgl. Fuchs-Heinritz/ König 2014: 142ff.

40. Vgl. Bourdieu 1979: 503ff.

41. Bourdieu 2005 [1992]: 39.

42. Fröhlich/ Rehbein 2014: 142.

43. Rehbein 2016: 173.

44. Vgl. Abels 2007: 314.; Vgl. Bourdieu 1979: 298ff.

45. Bourdieu 1979: 17.

46. Schwingel 1995: 114.

47. Fröhlich/ Rehbein 2014: 220.

48. Vgl. Rehbein 2016: 160ff.

49. Bourdieu 2005 [1992]: 36f.

50. Vgl. Barlösius 2004: 166ff.

51. Vgl. Schwingel 1995: 106ff.

52. Vgl. Fröhlich/ Rehbein 2014: 224.

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Institutioneller Rassismus. Polizeigewalt an afroamerikanischen Bürgern in den USA
Untertitel
Pierre Bourdieu und die Theorie Sozialer Ungleichheit
Hochschule
Fachhochschule Dortmund
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
64
Katalognummer
V1151605
ISBN (eBook)
9783346546333
ISBN (Buch)
9783346546340
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Klassismus, Soziale Ungleichheit, Pierre Bourdieu, Rassismus in den USA, Polizeigewalt in den USA
Arbeit zitieren
Yasemin Ceran-Kaya (Autor:in), 2020, Institutioneller Rassismus. Polizeigewalt an afroamerikanischen Bürgern in den USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151605

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