Übungsstrategien zur Improvisation an der Orgel

Welche Strategien eignen sich zum Erlernen der Orgelimprovisation für Kirchenmusikstudierende?


Masterarbeit, 2021

77 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zum Begriff der Improvisation
2.1 Merkmale (liturgischer) Orgelimprovisation
2.2 Die Sonderrolle der Orgelimprovisation

3 Improvisatorische Kompetenzen
3.1 Grundsätzliche Überlegungen zu improvisatorischen Kompetenzen
3.2 Instrumentaltechnische Fertigkeiten
3.3 Musiktheoretisches Wissen
3.4 Repertoirekenntnisse
3.5 Kreativität
3.6 Gehör und Höraufmerksamkeit
3.7 Reaktionsvermögen und Interaktion
3.8 Begabung

4 Improvisation lernen und üben
4.1 Was ist Üben?
4.2 Parallelen zum Sprachlernen
4.3 Blick in das historische Improvisationslernen
4.4 Übestrategien

5 Forschungsdesign
5.1 Forschungsfrage
5.2 Datenerhebung
5.3 Datenanalyse
5.4 Das Dilemma der Intuition

6 Untersuchungsergebnisse
6.1 Ergebnisse der quantitativen Umfrage
6.1.1 Improvisatorische Vorerfahrungen
6.1.2 Selbsteinschätzung und Mindset
6.1.3 Unterricht in Improvisation bzw. Liturgisch Orgel
6.1.4 Üben von Improvisation
6.1.5 Zusammenfassung
6.2 Ergebnisse der qualitativen Experteninterviews
6.2.1 Übungstypen
6.2.2 Umsetzung auf die Tasten - die Grundvoraussetzung
6.2.3 Emotion
6.2.4 Kreativität

7 Interpretation der Forschungsergebnisse
7.1 Übungstypen
7.2 Umsetzung auf die Tasten
7.3 Lernziele
7.4 Technische Aspekte
7.5 Emotion und Mindset
7.6 Kreativität und Inspiration

8 Konkrete Übestrategien

9 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

Mit der Orgelimprovisation ist das so eine Sache. Es gibt da immer die wenigen, die wie beseelt aus ihrem Improvisationsunterricht kommen, die sich ans Instrument setzen und scheinbar aus dem Nichts die tollsten Vorspiele, Intonationen und Meditationen improvi­sieren können. Und dann gibt es den großen Rest, für die Improvisation scheinbar ein völlig unerreichbares Mysterium darstellt. Über eines ist man sich im Gespräch unter Mitstudierenden weitestgehend einig: Am Unterricht liegt es nicht. Auch ich kann von ganzem Herzen behaupten, mit meinen drei Improvisationslehrern großes Glück gehabt zu haben; ich habe viel gelernt und den Unterricht immer als produktiv und konstruktiv empfunden. Die folgende Situation kenne ich so oder so ähnlich aus meinen ersten Stu­dienjahren und auch aus den Erzählungen vieler Mitstudierender:

Motiviert und inspiriert durch den Unterricht setze ich mich am Tag nach dem Unterricht an die Orgel, doch das Gelernte, was doch im Unterricht so gut funktioniert hatte, will sich einfach nicht mehr rekonstruieren lassen. Gähnende Leere, Kreativitäts- und Inspi- rationslosigkeit im Kopf. Kein Ansatz, obwohl man doch vom Lehrer so viele Tipps und Anregungen bekommen hatte! Wie kann das sein? Ich bin doch sonst nicht so einfallslos, kann mich beim Üben gut disziplinieren und würde behaupten, auf dem Instrument und auch musiktheoretisch firm zu sein. Erfolglose Versuche einer Choralbearbeitung. Es klingt überhaupt nicht, wie wir das gestern angefangen hatten, wieso kriege ich das nur nicht hin? Die Zeit verrinnt - wertvolle Zeit, die ich gut für die Vorbereitung anderer Fä­cher gebrauchen könnte. Ich pilgere an die Nachbarorgel, an der ein älterer Mitstudent sitzt, von dem ich weiß, dass er gut improvisieren kann. Er übt gerade ein ziemlich leich­tes Präludium von Bach, das ich vor Jahren schon gespielt habe und stöhnt darüber. Als ich ihn um Hilfe frage, spielt er mir aus dem Stegreif eine Choralfantasie vor, die ich mir selbst in vier Jahren Arbeit nicht hätte ausdenken können. In der Hoffnung, mir aus dem Gehör noch ein paar Dinge zusammensuchen zu können, setze ich mich abermals an die Orgel. Wieder 20 Minuten später schlage ich enttäuscht von mir selbst Literaturstü­cke auf und übe lieber dort weiter, wo ich auch das Gefühl habe, Fortschritte zu machen.

Von dieser - zugegebenermaßen etwas überspitzt dargestellten - Situation erzählen viele meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen. Es muss eben irgendwas für die nächste Woche vorbereitet werden, aber Fortschritte sieht man keine. Dabei würde man es gerne können! Wer träumt nicht davon, ohne große Vorbereitung einen Kirchenraum mit schöner Musik füllen zu können? Spontan auf eine Stimmung oder in der Predigt angeklungene Choralzeilen reagieren zu können? Wenn es nicht an fehlendem Unterricht oder unzureichenden motorischen Voraussetzungen hängt, woran dann? Viel­leicht am Üben?

Das Üben von Improvisation unterscheidet sich grundsätzlich vom Literaturspiel. Impro­visation ist ein individueller, nicht greifbarer und zudem sehr schlecht erklärbarer Pro­zess. Aber Improvisation ist erlernbar. Das unterstreicht nicht nur die Jahrhunderte alte Tradition der Kirchenmusik, sondern auch eine Fülle an Improvisationsschulen oder - ratgebern und Kompendien aus gleichermaßen Jazz und Klassik. Was diese Ratgeber nicht verraten, ist das Wie des Übens. Wie übe ich eine Kadenz so, dass ich sie auch anwenden kann? Wie finde ich Inspirationen ohne die Hilfe eines Lehrers1 ? Wie erar­beite ich mir stiltypische Harmonien und Formen und vor allem, wie übertrage ich sie auf eigene Ideen?

An diese Fragen soll sich diese Arbeit anschließen. Sie stützt sich dabei auf das im Li­teraturspiel schon weiter verbreitete Konstrukt der Übestrategien. Solche Strategien sol­len dem Übenden helfen, sich aus vermeintlichen Sackgassen zu manövrieren oder gar nicht erst hineinzulaufen. Im Kapitel 2 wird zunächst der Begriff der Improvisation defi­niert und genauer auf die Charakteristika der (liturgischen) Orgelimprovisation eingegan­gen. Die Arbeit widmet sich dann zunächst sog. improvisatorischen Kompetenzen, die zum Erlernen der Improvisation notwendig sind (Kapitel 3), um im Kapitel 4 empirische Erkenntnisse zum Thema Üben darzustellen. Nachdem im Kapitel 5 Forschungsdesign und -aufbau dieser Arbeit näher beleuchtet wurden, werden im Kapitel 6 die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Forschung dargestellt und anschließend aufeinander bezogen und interpretiert (Kapitel 7). Schließlich werden aufbauend auf dem wissen­schaftlichen Fundament sowie den Erkenntnissen der Forschung im Kapitel 8 konkrete Übestrategien formuliert.

2 Zum Begriff der Improvisation

„Musikalische Improvisation im engeren Sinne unterscheidet sich von in traditi­oneller Notenschrift fixierter Komposition dadurch, daß mindestens ein in deren Notationssystem primärer Parameter (d. h. Tonordnung oder Zeitordnung, die jeweils von Einzelwerten bzw. ihren Konstellationen ausgehend fixiert sind) nicht exaktvorhersehbar ist.“ (Frisius, 1996, S. 1)

Improvisation - ein Wort, das sich vom lateinischen improvisus (unvorhergesehen, un­vorbereitet) oder auch ex improviso (aus dem Stegreif) ableiten lässt. Der Charakter ei­ner jeden musikalischen Improvisation ist also abhängig von den Parametern oder Vor­gaben, an denen sie sich orientiert, per se als flüchtig und einmalig zu beschreiben. Dementsprechend schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist es, den Begriff der musikali­schen oder gar .freien' Improvisation in den Rahmen einer starren Definition zu zwängen. Nicht grundlos manövriert sich das Gros der Autoren in seinen Veröffentlichungen zum Thema Improvisationsforschung um genaue Festlegungen auf Begrifflichkeiten herum.

Dennoch kommt man bei der Beschäftigung mit der Kunst des Improvisierens nicht um­hin, Begriffe zu verwenden, die die Eigenständigkeit und Einmaligkeit der Improvisation infrage stellen oder zumindest nicht angemessen ausdrücken können. Ginge man aller­dings davon aus, dass nicht einmal einzelne Aspekte der Improvisation verallgemeiner­bar wären, würde man damit zwangsläufig ihre Lehrbarkeit negieren - und das wider­spräche jahrhundertelanger Tradition der Kirchenmusik sowie neueren Studiengängen mit Improvisationsschwerpunkt im JRP-Bereich2 3 seit den 1990er-Jahren.

Was beschreibt nun also den Terminus der musikalischen Improvisation? Improvisation zeichnet sich vor allem durch die Gleichzeitigkeit von Erfinden und Ausführen aus. Der Improvisierende ist also nicht nur Erfinder, sondern gleichzeitig auch Spieler und Inter­pret seiner Musik, was die deutlichste Abgrenzung der Improvisation zur Komposition bildet. Überdies ist Soloimprovisation charakterisiert durch Undeterminiertheit - sowohl materiell als auch zeitlich -, Kreativität, Automatismus und Spontanität. (Figueroa- Dreher, 2016, S. 10) Die materielle Undeterminiertheit, einfacher ausgedrückt die Unfi- xiertheit der Musik, bedeutet nicht zwangsläufig, dass ausschließlich eine völlig unvor­bereitete und ohne Notizen dargebotene Improvisation als solche bezeichnet werden kann - die Grenzen der Definition sind ohnehin fließend - sondern, dass diese haupt­sächlich undeterminiert und unfixiert ist. Zur Kreativität, dem wohl interessantesten, aber auch abstraktesten Teil des Improvisationsprozesses, findet sich im Kapitel 3.5 eine aus­führliche Erläuterung. Automatismus bedeutet, dass das improvisatorische .Rüstzeug' automatisiert abrufbar sein muss, um es im improvisatorischen Kontext verwenden zu können. Spontanität schließlich bezeichnet die ungeplante und unplanbare Dimension in der Handlung der Improvisation. (ebd., S. 11)

Beim Begriff der Improvisation muss zwischen dem kirchenmusikalischen Kontext und der Jazzszene klar unterschieden werden. Letztere ist vorrangig geprägt durch Grup­penimprovisationen oder zumindest durch Chorusimprovisationen in Interaktion mit Mit­spielenden. Die Soloimprovisation, wie sie in der Kirchenmusik ausschließlich vorkommt, spielt eher eine untergeordnete Rolle und wird sogar bisweilen als weniger kunstvolle Improvisationsform verkannt. Da sich der Großteil der vorhandenen Literatur mit der Analyse von Gruppenimprovisationen beschäftigt, hat die Interaktion zwischen den Mu­sizierenden sowohl in den Definitionen als auch in der Forschungsarbeit eine wesentli­che Bedeutung. Für die hier thematisierte Orgelimprovisation ist dieser Aspekt allerdings natürlich unerheblich.

Überdies wird zwischen relativer und absoluter Improvisation unterschieden. Diese Be- grifflichkeiten wurden zuerst von Ernest Ferand verwendet, der seinerzeit als erster eine umfassende Studie über die westlich geprägte Improvisationskultur veröffentlichte. Sie werden in der einschlägigen Literatur heute in verschiedener Intensität, teilweise mit Ein­schränkungen, teilweise gar nicht verwendet oder sogar infrage gestellt. Für die Orge­limprovisation sind sie deshalb interessant, da Ferand die kirchliche Orgelimprovisation als Beispiel für relative Improvisation anführt, in der „der Spieler an ein unveränderliches, immer gleich bleibendes melodisch-formales Modell gebunden ist, das er mit wechseln­den, stets neuen rhythmisch-melodischen, kontrapunktischen oder akkordischen Einfäl­len neu zu beleben hat“. (Ferand, 1961, S. 6) Ungebundene, absolute oder auch freie Improvisation dagegen beschreibt Ferand wesentlich weniger eindeutig. In der Literatur wird im Zusammenhang mit absoluter Improvisation auch von nicht-idiomatischer Impro­visation gesprochen. (vgl. Wilson, 2014, S. 18) Ein Begriff, der meiner Meinung nach etwas irreführend ist, da jeder Musizierende in irgendeiner Weise musikalisch sozialisiert ist und es ihm daher streng genommen auch nicht möglich ist, völlig absolut zu improvi­sieren.

Da die Definition des Begriffs Improvisation so weit gefasst und mitnichten auf alle Arten der Improvisationsformen übertragen werden kann, werden im nachfolgenden Kapitel kurz die Merkmale des liturgischen Orgelspiels bzw. der Orgelimprovisation herausge­arbeitet.

2.1 Merkmale (liturgischer) Orgelimprovisation

Der Begriff liturgisches Orgelspiel bezeichnet im weitesten Sinne alle Arten der nicht fixierten Musik im liturgischen Kontext. Historisch aus dem 16. Jahrhundert gewachsen, beinhalten diese die Choral- bzw. Gemeindebegleitung ohne eine ausgesetzte Harmo­nisierung, die Begleitung und Intonation liturgischer Elemente sowie die musikalische Umrahmung des Gottesdienstes durch solistische Stücke (z. B. Ein- und Auszug, Kom­munion etc.), die dem liturgischen Kalender bzw. dem Gottesdienstthema und -abschnitt angepasst sein sollen. Ferand nimmt an - allerdings nicht nur speziell auf die Orgelmusik bezogen -, dass sich Improvisation gewissermaßen ,aus der Not‘ heraus entwickelte, immer dann, wenn nicht genügend verschriftlichte Literatur zur Verfügung stand. (Ferand, 1961, S. 21) Dieser Schluss scheint auch auf Organisten bezogen durchaus logisch, bedenkt man, dass es früher weit mehr Gottesdienste gab, gleichzeitig jedoch die Vervielfältigung von Noten zeitaufwendig und selten war.

Heutzutage ist liturgische Orgelimprovisation meist stilgebunden, soll also dem musika­lischen Idiom4 einer Epoche oder eines Komponisten entsprechen. Es existieren dem­nach fast immer gewisse festgelegte Parameter und Formen, Vorlagen sozusagen, die durch den Organisten bedient werden. Eine Besonderheit dieser Formen, zum Beispiel der Toccata, der Passacaglia oder der Fantasie, stellt dar, dass sie selbst aus Improvi­sationen entstanden sind und sich heute als Vorlagen manifestiert haben. (Gagel, 2010)5 Improvisationen können entweder choralgebunden oder frei sein. Hier ergeben sich im Grad der Freiheit teils sehr große Unterschiede je nach gewählter Form. In der Literatur werden diese Freiheitsgrade meist in drei grobe Typen eingeteilt (vgl. Ferand, 1961; auch Bailey, 1992):

1. Das Auszieren einer Melodie, zum Beispiel Kolorieren, Diminuieren etc.
2. Die polyphone Ausgestaltung eines Cantus firmus durch das Hinzufügen kontra­punktischer Stimmen, das Fortführen und Imitieren von Motiven
3. Eine freie, nicht gebundene6 Improvisation unter Ausnutzung der technischen und musikalischen Möglichkeiten der Instrumentaltechnik im Akkord- und Passa­genspiel (Präambeln, Präludien, Toccaten usw.)

Vor allem die Begrifflichkeiten der dritten Gruppe, der freien Improvisation, lassen sich nicht eindeutig voneinander abgrenzen und variieren im Sprachgebrauch von Hoch­schule zu Hochschule („freie Form[Passacaglia, Fantasie, Präludium o. Ä.J“, HfK Dres­den, HfK Herford; „cantus-firmus-freie Vorspielformen“, HfK Heidelberg; „Freie Improvi­sation“, UdK Berlin). Für die Untersuchung von Übestrategien ist die feine Unterschei­dung dieser Improvisationsformen jedoch erst mal recht unerheblich.

2.2 Die Sonderrolle der Orgelimprovisation

Heutzutage sucht man Improvisation in der klassischen Konzertkultur vergeblich - mit einer Ausnahme: der Orgelimprovisation. Die beiden schon immer eng miteinander ver­knüpften Bereiche Komposition und Improvisation entwickelten sich mit dem öffentlichen Konzertleben im 18. Jahrhundert vor allem im pianistischen Bereich zu einem festen Programmpunkt im Konzert. (Frisius, 1996, S. 2) Das „selbstständige Fantasieren (-.Im­provisieren:)“ (Czerny, ca. 1829, S. 4) galt als Zurschaustellung von Virtuosität bei Pub­likum und Komponisten wie Beethoven, Chopin oder Liszt gleichermaßen als Zeichen wahrer Meisterhaftigkeit. Mit dem Verschwinden der musikalischen Salonkultur Ende des 19. Jahrhunderts verlor auch die Praxis des Improvisierens an Interesse. (Frisius, 1996, S. 2) Bei vielen Instrumenten verläuft die Grenze zwischen Improvisation und Komposition in etwa parallel zu jener zwischen klassischer Musik und Unterhaltungsmu­sik, Jazz oder ethnischer Musik.

Die Weiterentwicklung der Orgel zu einem fast orchestral anmutenden, klanggewaltigen und vielseitigen Instrument mag einen Anteil daran haben, dass diese Entwicklung in der Geschichte des Orgelspiels bis heute nicht stattgefunden hat. Orgelimprovisationen er­freuen sich anhaltender Beliebtheit und gelten ähnlich wie bei den Pianisten des 19. Jahrhunderts, als Zeichen höchster Kunstfertigkeit und musikalischen Könnens. Diesen Stand hatte die Improvisation bei Weitem nicht immer, wie folgendes Zitat des königli­chen Konsistoriums zu Münster beweist: „Man hört nicht selten, daß schwache Organis­ten statt eines ordentlichen Orgelstückes ihre eigenen Phantasien vortragen“ (Zimmer, 1885, S. 285)

Freilich liegt die Bedeutung der Orgelimprovisation vor allem in der Tradition kirchenmu­sikalischer Praxis begründet: Seit jeher sind im gottesdienstlichen Orgelspiel Improvisa­tion und Literaturspiel eng miteinander verknüpft. Schon Johann Sebastian Bach, später Anton Bruckner, Max Reger, Marcel Dupré und Olivier Messiaen waren gleichermaßen Interpreten, Improvisatoren und Komponisten in Personalunion. Im Gegensatz zu ande­ren Instrumenten ist Improvisation bis heute ein fester Bestandteil und eine eigenstän­dige Disziplin in der klassischen Ausbildung an der Orgel. Umso verwunderlicher ist es, dass sich bis heute wenig wissenschaftliche Literatur findet, die sich mit der Orgelimprovisation beschäftigt. Zwar gibt es einige historische Beleuchtungen sowie Lehrwerke und Kompendien, die Improvisierenden auf verschiedenen Spielniveaus an die Hand gegeben sind. Diese behandeln jedoch fast alle ausschließlich den Bereich der Musiktheorie und vernachlässigen dabei andere, ebenso wichtige Kompetenzen, die zum Erlernen der Improvisation notwendig und essenziell wären.

3 Improvisatorische Kompetenzen

„Wie auch immer wir es nennen, Fähigkeit, Kompetenz, Vermögen, Potenz oder Potential (Arno Schmidt sprach von Poetenz): Improvisation ist nicht nur ein Prinzip und ein Prozess, sondern auch ein Können, ein Vermögen, etwas zu tun, und das mehr oder weniger gut. Oder besser: Improvisation setzt ein Kön­nen voraus, wenn sie professionell sein und kein Mist dabei herauskommen soll.“ (Moldaschl, 2017, S. 62)

Improvisieren kann man nicht einfach so, zumindest nicht hochwertig oder musikalisch wertvoll. Beinahe jeder Studierende der Kirchenmusik wird im Laufe seiner Ausbildung mehr oder weniger schmerzhaft zu dieser Erkenntnis gelangt sein. In der westlich ge­prägten, klassischen Ausbildung am Instrument spielt Improvisation jedoch, wenn über­haupt, nur in Ausnahmefällen eine Rolle. So kommen viele Studierende mit freier Impro­visation, vor allem in Großformen, erstmals in ihrem Studium in Berührung.

Der Musizierpraxis des Improvisierens haftet durch das Fehlen einer Orientierung am Notentext und ihrer vermeintlich völlig freien Gestalt, selbst unter versierten Musikern nicht selten etwas Unerreichbares, ja gar Mystisches an. Dieser mystischen Verklärung der Improvisation liegt die Vorstellung zugrunde, Improvisation sei „voraussetzungs- lose[n] Entwicklung musikalischer Kreativität“ (Erwe, 2004, S. 181), doch sie verkennt, dass dem Improvisieren in einem Idiom immer eine Vielzahl musikalischer und kognitiver Fähigkeiten zugrunde liegen. (Rora, 2008, S. 215)

Jeff Pressing schreibt 1984 in seinem Artikel „Cognitiv processes in improvisation“ (1984, S. 353):

„Es ist möglich, den Verlauf der Improvisation als eine Folge von kreativen lm- pulsen zu betrachten, die Musik abbildet und die an akustische Rahmenbedin­gungen angepasst ist. [...] Vor diesem Hintergrund sind die Faktoren, die die Umwandlung jener Impulse in Klang beeinflussen, unzählig und umfassen Kennt­nisse in Komposition und Theorie, Instrumentaltechnik, die Fähigkeit, Theorie und Praxis schnell verbinden zu können (erreicht durch Übung/Praxis), die Geschwindigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten der Vorstellungskraft, Gedächt­nis, Aufmerksamkeit, geistige Tiefgründigkeit, verwendete Aufmerksamkeitsstra­tegien, den Charakter des verwendeten Instruments, die Überzeugung davon, was möglich ist, Bühne, Situation, Bewusstseinszustand und Ziele. [...] Eine ein­fache Beschreibung des Prozesses könnte wie folgt lauten: Ideen werden er­zeugt und in Klang umgesetzt - über den Weg der Technik. “7

Einige dieser improvisatorischen Kompetenzen sollen im Folgenden dargestellt und - sofern möglich und sinnvoll - in den Zusammenhang der Orgelimprovisation gebracht werden. Das Kapitel erhebt nicht den Anspruch, alle Kompetenzen, die zum Improvisie­ren nötig sind, zu erfassen - zumal das schon allein aufgrund der Natur der Improvisation sowie des noch dürftigen Forschungsstands zum Thema Improvisation und Musiklernen wohl sehr schwer möglich sein dürfte. Es werden viel mehr einige Bereiche dargestellt, die sich in der Literatur als besonders relevant oder essenziell herausbilden.

3.1 Grundsätzliche Überlegungen zu improvisatorischen Kompetenzen

Improvisatorische Fähigkeiten basieren auf prozeduralem Lernen, sogenanntem Hand­lungslernen. Es sind also Fertigkeiten, die auf dem eigenen Handeln und den damit ver­bundenen Erfahrungen basieren. Dieses prozedurale Wissen ist uns zum größten Teil unbewusst und entzieht sich einer sprachlichen, deklarativen Vermittelbarkeit. (Altenmüller, 2018, S. 213) Auch wenn die psychologischen und hirnphysiologischen Zusammenhänge beim Musiklernen erst in Ansätzen erforscht sind, so lässt sich daraus doch folgende Aussage ableiten: „Improvisieren lernt man durch Improvisieren.“ (Schlimp & Losert, 2019, S. 26)

Eine zunächst ernüchternde Erkenntnis. Das Improvisieren an sich lässt sich also weder gesondert üben, noch lehren. Dennoch basiert es wie oben beschrieben auf gewissen improvisatorischen Kompetenzen, die sich sehr wohl verbessern und üben lassen. Aller­dings handelt es sich auch hier in der Praxis weniger um Fähigkeitsbereiche, die sich einzeln gezielt trainieren lassen, sondern um ein eng verflochtenes Netz aus Kenntnis­sen und Fertigkeiten, die alle aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind.

Erst auf Grundlage dieser möglichst gut ausgeprägten improvisatorischen Kompetenzen beginnt durch Ausprobieren und Spielen mit denselben der eigentliche Lernprozess der Improvisation. (Schlimp & Losert, 2019, S. 26) Eine Grafik von Jeff Pressing (vgl. Abb. 1)gibt eine gute Übersicht über die wichtigsten Aspekte, die auf improvisatorisches Ver­halten wirken und ihre enge Vernetzung miteinander.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Hauptfaktoren, die die Produktion improvisierten musikalischen Verhaltens beeinflussen (Pressing, 1984, S. 352)

Die Fähigkeiten, die Improvisieren ermöglichen, müssen des Weiteren zu großen Teilen unterbewusst gespeichert und automatisiert abrufbereit sein. Gerade klassisch geprägte Musiker und Musikerinnen stellt das vor eine Herausforderung, erfordert dieses proze­durale Lernen doch eine grundsätzlich andere Herangehensweise an das Musiklernen, als sie es von klein auf gewohnt sind. Viel kritisiert ist das System, Lernenden deklarati­ves Wissen ohne dessen ausreichende Verknüpfung mit Erfahrung und Handeln, dem prozeduralen Wissen, zu vermitteln, auf dem auch unser Schulsystem in großen Teilen fußt. Parallelen lassen sich auch beim Musiklernen finden: Im Instrumentalunterricht ler­nen Kinder, Noten zu lesen, um sich auf Grundlage dessen Musikstücke erarbeiten zu können. Natürlich ist dieser Prozess schon alleine aus Motivationsgründen mit prakti­schen Übungen am Instrument verknüpft, sodass die Notenschrift kein abstraktes Kon­strukt bleibt und am Instrument angewendet werden kann. Mit der Zeit aber bleibt die Reihenfolge ,von der Theorie zur Praxis': Lesen, um zu spielen.

Als logische Konsequenz daraus liegt fast auf der Hand, dass Studierenden oft der Zu­gang zur Improvisation zu fehlen scheint und sie aus ihrer eigenen Perspektive keinen geeigneten Ansatz beim Üben finden können.

3.2 Instrumentaltechnische Fertigkeiten

Die Grundlage der .Freiheit' einer Improvisation beruht sicher zu großen Teilen auf in­strumentaltechnischen Fertigkeiten. Das Bestehen der Aufnahmeprüfung an einer Mu­sikhochschule setzt bereits recht hohe instrumentale Fähigkeiten voraus. Diese müssen allerdings nicht nur erlernt und trainiert, sondern durch regelmäßiges und gezieltes Üben in Fleisch und Blut übergehen, um „eine größtmögliche anatomische Freiheit beim Im­provisieren zu gewährleisten“ (Roidinger, 2018, S. 48), einen Automatismus gewisser­maßen. Czerny bezeichnet diese sensomotorische Grundlage als Virtuosität, „also die größte Geübtheit der Finger in allen Schwierigkeiten, in allen Tonarten, so wie in allem, was zu einem schönen, gemüthlichen und graziösem Vortrag gehört. Denn vergebens giebt die Einbildungskraft die besten Ideen, wenn die Finger sie nicht mit aller künstleri- sehen Leichtigkeit und Sicherheit auszuführen im Stande sind.“ (Czerny, ca. 1829, S. 4)

Die Trennung zwischen rein motorischen Fähigkeiten, also dem ,in den Fingern haben' von Kadenzen, Akkorden, Sequenzen etc. (dem sensomotorischen Gedächtnis) und mu­siktheoretischer Fähigkeiten wird in der Literatur mal mehr, mal weniger scharf vollzo­gen. Im Grunde ist dies beim Improvisieren auch gar nicht möglich: Einen großen Unter­schied zwischen Komposition und Improvisation stellt die Gleichzeitigkeit von Erfindung und Ausführung dar. Während ein Komponist theoretisch ohne instrumentaltechnische Erfahrungen rein auf Basis der Musiktheorie komponieren könnte, kommt ein Improvisa­tor unmöglich ohne technische Expertise auf seinem Instrument zurecht. Gleichzeitig liegen motorischen Fähigkeiten zwangsläufig musiktheoretische Strukturen zugrunde - zumindest, wenn man vom Improvisieren innerhalb eines Idioms wie der Orgelimprovi­sation ausgeht.

3.3 Musiktheoretisches Wissen

Weitestgehend einig ist man sich dagegen, dass musiktheoretisches Wissen zum Im­provisieren eben nicht theoretisch fundiert vorliegen muss. Improvisation innerhalb eines Idioms erfordert naturgemäß musiktheoretisches Grundwissen, das der Spielende kor­rekt anzuwenden wissen muss. In den meisten Improvisationsschulen und -kompendien wird genau dieses Handwerk zu vermitteln versucht. Der zu Unterrichtende soll musika­lisches und musiktheoretisches .Baumaterial' verinnerlichen und den freien Umgang da­mit lernen. Hierbei steht natürlich die Harmonik, also Akkordaufbau sowie alle Arten von Kadenzen und Sequenzen, im Vordergrund. Später gehen die Lehrwerke meist auf Kont­rapunkt, improvisatorische Formen (Intonationen, Choralbearbeitungen, Triospiel, Parti­ten usw.) sowie stilistische Idiomatik ein.

Diese theoretischen Leitfäden sind einerseits gerade für nicht-intuitiv oder unsicher Im­provisierende eine gute Möglichkeit, entlang der sie sich bewegen können. Andererseits sind sie meist eben nur auf musiktheoretische Kenntnisse ausgerichtet und vernachläs­sigen dabei andere, ebenso wichtige Aspekte improvisatorischer Kompetenzen - ganz abgesehen von der Entwicklung einer Spiel- und Experimentierfreude. Zusätzlich basie­ren sie auf dem Prinzip „von der Technik zur Kreativität“ (Andreas, 1996, S. 599) - eine fragwürdige Methode, Improvisation zu lehren und lernen, wie später noch beschrieben wird (vgl. 6.2.4). Insgesamt birgt die Verschriftlichung improvisatorischer Prinzipien von Natur aus die Gefahr, in ein Dilemma zwischen Vermittlung von Grundlagen und (zu) trockener Regelvermittlung zu geraten und lässt sich wohl auch nicht gänzlich ausräu­men.

Auch wenn Notenschrift zur Analyse zweifelsohne hilfreich ist und Fachvokabular die Kommunikation zwischen Musikern und Musikerinnen erheblich vereinfacht, wird viel­fach ausdrücklich betont, dass die Herangehensweise bei der Entwicklung improvisato­rischer Kompetenzen praktisch orientiert sein muss. (vgl. Schlimp & Losert, 2019, S. 31; auch Roidinger, 2018, S. 50) Auch (oder gerade?) Musiker, die wenig oder keinen theo­retischen Bezug zu Noten und musiktheoretischen Bezeichnungen haben, können sehr gute Improvisatoren sein, indem sie sich musikalische Handlungsmuster praktisch an­eignen und diese verinnerlichen. Letztendlich führt genau diese praktische Anwendung zu einem flexibel anwendbaren Pool oder Vokabular musikalischer Materialien und Mo­delle, auf den der Improvisierende automatisiert zugreifen können muss. (ebd., S. 50ff.)

Wie im Kapitel 4.2 noch ausführlicher dargestellt wird, lassen sich bei der Verarbeitung und dem Lernen von Muttersprache und Musik viele Parallelen finden. So kann man auch musiktheoretisches Wissen und sprachliche Grammatik recht gut vergleichen. Un­sere Muttersprache erlernen wir nicht durch Lernen, sondern durch sprachlichen Input, aufgrund dessen wir unsere eigenen Regeln bilden, um unsere Muttersprache im Ju­gendalter grammatikalisch nahezu fehlerfrei sprechen zu können. Diese Regeln wissen wir nicht und können sie zum großen Teil auch nicht erklären, wir können sie aber. (Spitzer, 2014, S. 279) Zum Beispiel: Das Partizip II der Verben, die mit "-ieren" enden, wird im Deutschen ohne "ge" gebildet. Es heißt also: Wir haben gestern gelernt, wir ha­ben aber nicht gestudiert, sondern studiert. Kaum ein Deutschsprachiger wird diese Re­gel erklären können - dennoch kann er das Partizip II in aller Regel richtig bilden. Ebenso selbstverständlich, wie wir grammatikalisch richtige Sätze bilden können, ohne darüber nachzudenken oder gar die Regeln zu wissen, müssen Improvisierende mit musiktheo­retischem Wissen umgehen können. In unserem prozeduralen Gedächtnis muss also z. B. verankert sein, dass im Zielklang einer Trugschlusswendung die Terz verdoppelt wird. Dass dem so ist, weil sich sonst Quintparallelen und damit ein satztechnischer Fehler ergeben würden, ist für den Vorgang des Improvisierens erst mal völlig unerheb­lich. Unterricht und Üben von Orgelimprovisation sollte also immer musiktheoretisches Wissen mit praxisbezogenen Übungen und am besten auch mit kreativem Spiel verbin­den, sodass harmonische Wendungen, Kadenzen und Stile irgendwann wie eine Art Muttersprache verwendet werden können.

3.4 Repertoirekenntnisse

Anders als man annehmen könnte, geht es hier nicht um eine Art Werksliste, die ein Improvisierender einem Konzertveranstalter vorlegen könnte. Repertoirekenntnisse sind essenziell für die Ideenfindung beim Improvisierenden. Folglich muss die Kenntnis der Literatur viel tiefer gehen als das einmalige Hören eines Stückes, ja selbst als das feh­lerfreie Spielen-Können desselben. Es geht um ein grundlegend strukturelles Verständ­nis und einen stilistischen Erfahrungsschatz. Die Literatur muss gedanklich analysiert werden, die verwendeten Materialien, die Form, Strukturen und Satztypen müssen er­fasst und verstanden werden. Dies kann sowohl über eine Analyse des Notentexts als auch über Hören oder eben Spielen von Literatur geschehen. Die grundsätzliche Ausei­nandersetzung mit Repertoire, also möglichst vielen verschiedenen musikalischen Idio­men und Stilen, führt letztlich zu einem Verständnis über formale und gestalterische Prin­zipien, das wiederum als Grundlage improvisatorischer Ideen dient. (Mäder, Meyer, & Unternährer, 2019, S. 59f.) In der Orgelimprovisation kommt den Repertoirekenntnissen eine besondere Bedeutung zu, da meist stilgebunden und somit nach Literaturvorbildern musiziert wird. Dies betrifft zum einen die grobe Form, aber auch die Harmonik, Motivik und die Charakteristika des darzustellenden Stils.

Schlimp und Losert (2019, S. 33) merken an, dass auch hier die praktische Auseinan­dersetzung mit musikalischem Vokabular die entscheidenden Automatisierungspro­zesse in Gang setzt.

3.5 Kreativität

Improvisation ist zwar in Teilen eine reproduktive, aber durch ihre Definition von gleich­zeitigem Erfinden und Ausführen auch eine generative Tätigkeit, also kreatives Schaffen. (Figueroa-Dreher, 2016, S. 82) Kreativität scheint grundsätzlich bei allen Menschen etwa gleich ausgeprägt angelegt zu sein. Dennoch werden manche Menschen als kreativer empfunden als andere. Was sich demnach unterscheidet, ist die Quantität der kreativen Handlungen. Kreativität ist also keine Begabung und kann in einem gewissen Maß be­einflusst und trainiert werden. (Schlimp & Losert, 2019, S. 33f.) Der kreative Schaffens­prozess wird in der Kreativitätsforschung gemeinhin in vier Phasen unterteilt: Präpara­tion (Vorbereitung und Definition des Problems aufgrund von vorhandenem Wissen), Inkubation (Lösungsansatz wird unterbewusst gebildet), Illumination (Erkenntnissprung, „Geistesblitz“, der auf den vorherigen Phasen basiert) sowie Verifikation (Überprüfung, Verfeinerung und Ausführung der Idee). (ebd.) Es ist allerdings umstritten, ob sich diese Phasen auch auf den Prozess der Improvisation übertragen lassen, da sich dieser grund­legend vom dargestellten kreativen Prozess unterscheidet. So ist nicht geklärt, ob sich Improvisieren als Problemlöseprozess begreifen lässt oder ob aufgrund der sehr be­grenzten zeitlichen Möglichkeiten beim Improvisieren überhaupt alle beschriebenen Phasen stattfinden. (Figueroa-Dreher, 2016, S. 24)

In jedem Fall steht beim kreativen Prozess eine Abhängigkeit von Gewesenem und Wer­dendem im Mittelpunkt. Ideen werden entwickelt, blitzschnell beurteilt (Passt die Idee zum gerade Gespielten? Passt sie in die gewählte Form und den harmonischen Kontext? Ist sie interessant?) und dann entweder verworfen oder umgesetzt. Je schärfer und ge­nauer die interne Klangvorstellung (vgl. Kapitel 3.6) sowie die Wahrnehmungsfähigkeit (vgl. Kapitel 3.7) ausgeprägt sind, desto besser und ausgearbeiteter gelingt die Improvi­sation. (Knappe, 2006, S. 71) Speziell bei der stilgebundenen Orgelimprovisation ist Kre­ativität auch ein assoziativer Prozess: Die Improvisation folgt den Regeln einer gewissen Form und einem festgelegten Idiom, sodass sich die Klangvorstellung in einem musika­lisch-semantischen Kontext bewegt. Je mehr Assoziationen zu diesem Kontext, zum Beispiel aus Repertoire oder durch geübte motorische Muster, dem Spieler zu Verfügung stehen und je müheloser er diese anzuwenden vermag, desto kreativere Lösungsan­sätze findet er zum Fortführen seiner Improvisation.

In einem sehr frühen Artikel zum Thema Kreativität bemerkt J. P. Guilford dazu: „No creative person can get along without previous experiences or facts; he never creates in a vacuum or with a vacuum.“ (Guilford, 1967, S. 448) Um Kreatives zu erschaffen bedarf es demnach zweierlei: Einerseits einen Erfahrungsschatz oder vielmehr musikalische .Rohstoffe', andererseits einen Raum oder Bezug, zu dem es erschaffen wird. Figueroa- Dreher beschreibt diese beiden Dimensionen als Kreativität und Wiederholung, die sich gegenseitig bedingen und beide in Reinform beim Improvisieren nicht vorkommen. Wie­derholendes Handeln bezieht sich auf den oben genannten Erfahrungsschatz - also im Fall der Orgelimprovisation das Idiom des angestrebten Stils, seine harmonischen Grundstrukturen, Formen und sonstige Eigenheiten -, Kreativität bezieht sich darauf, aus eben diesen Regeln auszubrechen oder sie sogar bewusst zu brechen, um Neues zu erschaffen. (Figueroa-Dreher, 2016, S. 25)

Kreativität und Schöpfungskraft ,auf Knopfdruck' zu entwickeln, ist schwer. Den wenigs­ten Menschen ist es gegeben, unter Druck kreativ zu werden. Wie oft sitzen Studierende und Musizierende am Instrument mit dem Vorhaben, in den nächsten zwei Stunden der Übung mal .richtig viel für Improvisation zu schaffen'. Und dann? Keine Inspiration, keine schöpferische Kraft stellt sich ein. Kreativität bedarf eines offenen Raums und vor allem eines offenen Geistes, einem .kreativen Mindset'. Die Mindset-Forschung versucht, em­pirisch zu belegen, was jeder Mensch von sich selber kennt: Unterschiedliche Arbeits­bedingungen, -plätze, verschiedene Tageszeiten oder verschiedene Mitarbeiter bringen unterschiedlich gute und kreative Ergebnisse hervor. Manche Anregung kann Kreativität beflügeln, aber eine ist es bestimmt nicht: Sei jetzt kreativ! Auch die Musik-Kinesiologie - eine ebenso kritisierte wie verehrte Disziplin - definiert neben einigen anderen auch folgende äußere Umstände, die den kreativen Prozess fördern sollen: Ruhe und Leere im Spieler (Entspannung) sowie das Spüren eines Freiheitsgefühls vor Spielbeginn. (Sonnenschmidt & Knauss, 1996, S. 47ff.)

Unabhängig von ihrer wissenschaftlich fundierten Grundlage halte ich diese beiden Punkte für äußerst praxisrelevant, da mittlerweile in verschiedenen Forschungsdiszipli­nen als bewiesen gilt, dass es einer freien mentalen und emotionalen Grundhaltung be­darf, um kreativ tätig werden zu können. Forschungsergebnisse aus dem unternehmeri­schen Kontext lassen sich sicher nur bedingt auf musikalische Prozesse übertragen. Dennoch sind einige Erkenntnisse durchaus interessant für den Üb- und Lehrbetrieb - zumal es eine bemerkenswerte Anzahl von Studien gibt, die musikalische Improvisati­onsmuster als Schlüssel zu Innovation in Unternehmen8 betrachten:

- Ein unterstützendes Arbeitsumfeld wird als unerlässlich betrachtet. Feedback zu kreativen Leistungen haben Einfluss auf die weitere kreative Leistungsfähigkeit - ob positiv oder negativ hängt entscheidend von der Art des Feedbacks ab.
- Der soziale Kontext, in dem sich Arbeitende bewegen, muss es ermöglichen, sich mit anderen auszutauschen und gemeinsam (abteilungsübergreifend) Ideen zu entwickeln.
- Die Abwechslung, sog. Rhythmisierung von kognitiver und emotionaler Arbeit fördert die Kreativität. (Pförtsch & Sponholz, 2019, S. 273f.)

Für das Üben und Unterrichten von Orgelimprovisation ergeben sich daraus folgende Rückschlüsse: Unterricht sollte immer als unterstützend wahrgenommen werden, nicht auf zwanghafte Leistungssteigerung oder durch eine Prüfungsordnung festgelegte Ziele ausgerichtet, sondern mittels positiven Feedbacks die individuelle Kreativität des Studie­renden fördern. Kreativer Austausch mit anderen Studierenden kann und sollte als In­spiration Bestandteil des Lernens und Übens sein. Die Rhythmisierung von Aufgaben beim Üben trägt entscheidend zum Lernerfolg und zur Einstellung eines kreativen Mindsets bei.

Insgesamt kann Folgendes festgehalten werden: Es geht nicht darum, ob Musizierende kreativ sind, sondern ob sie es vermögen, ihre Kreativität freizusetzen. Dabei spielen musikalische Vorerfahrungen bzw. die Ausprägung aller technisch-improvisatorischen Kompetenzen sowie die Lern- bzw. Übungsumgebung und die emotionale Verfassung die entscheidende Rolle.

3.6 Gehör und Höraufmerksamkeit

Ein .musikalisches' Gehör ist eine Grundvoraussetzung für jeden Musizierenden. Der Begriff musikalisches Gehör bezeichnet einerseits eine allgemeine Sensibilität für Klänge und andererseits die Fähigkeit, Musik hörend zu erfassen, zu verstehen und zu analysieren. (Schlimp & Losert, 2019, S. 29f.) Ohne Gehörtes reflektieren, analysieren und gliedern zu können wäre Musizieren mit eigener Handlungskontrolle nicht möglich. Musikalisches Hören ist insbesondere beim Improvisieren von zentraler Bedeutung. Beim Improvisieren müssen in jedem Moment Entscheidungen getroffen werden: Wie geht meine Improvisation weiter? Welches Baumaterial nehme ich? Wohin moduliere ich? Wie komme ich zum Schluss? All diese Entscheidungen werden auf der Grundlage des Gehörten getroffen. Hierbei existieren verschiedene Dimensionen des musikali­schen Gehörs: Beim umfassenden Hören konzentriert sich der Improvisierende auf die Gesamtheit der klanglichen Ereignisse. Beim fokussierten Hören hingegen richtet der Spielende seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt seiner Improvisation - zum Beispiel Artikulation, Harmonik, Registrierung oder Ähnliches. Diese Aufmerksam­keit führt unweigerlich zum analytischen Hören, bei dem bestimmte Ereignisse bewusst erfasst und somit auch gemerkt werden. (Mäder, Meyer, & Unternährer, 2019, S. 37f.)

Diese Darstellung deckt sich mit den Erkenntnissen des Neurowissenschaftlers und Mu­sikers Eckart Altenmüller: „Der Prozeß des Musikhörens ist also ein strukturierender, Bedeutung generierender Vorgang, als dessen Resultat erfahrungsabhängig komplexe auditive Muster als Musik wahrgenommen werden.“ (Altenmüller, 2006, S. 4) Diese au­ditiven Muster werden im Langzeitgedächtnis als eine Art imaginäre Musikbibliothek ab­gespeichert und können so auch vor dem .inneren Ohr' erklingen. Eine insbesondere für stilgebundene Improvisationen interessante Erkenntnis stellt die zügige Anpassung des Gehirns an akustische Bedingungen dar: Demnach führen bereits wenige Stunden in­tensiven Trainings, also zum Beispiel dem Hören frühbarocker Musik, zu einer Vergrö­ßerung der neuronalen Antworten in den spezifischen Hörregionen. Vereinfacht ausge­drückt: Je länger und intensiver wir uns hörend mit einem bestimmten Aspekt von Musik beschäftigen, desto ausgeprägter werden dessen neuronale Repräsentationen im Ge­hirn und gleichzeitig unser Potenzial, ein improvisatorisches .Problem' oder besser ge­sagt eine Aufgabenstellung lösen zu können. Spannend ist auch, dass eine theoretische Wissensbasis die neuronale .Musikbibliothek' deutlich erweitert, (ebd., S. 4f.) Hier wird aufs Neue deutlich, wie sehr die unterschiedlichen improvisatorischen Kompetenzen mit­einander vernetzt und voneinander abhängig sind, wie auch in Abbildung 2 veranschaulicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Vereinfachtes Modell der Beziehung zwischen Komplexität auditorischer Information und Aus­dehnung der beteiligten neuronalen Netzwerke (Altenmüller, 2006, S. 4)

„Improvisation ist gleichsam angewandte Gehörbildung.“, schreiben Mäder et al. in ihrem Kompendium (2019, S. 105). In diesem Zusammenhang führen die Autoren auch den Begriff der Höraufmerksamkeit, dem „verbesserten Erkennen des Materials, der forma­len Tendenzen [...]“ (ebd.) an, das englischsprachige Autoren auch als deep listening bezeichnen. Das Training von vertieftem Hören oder der Höraufmerksamkeit bewirkt ganzheitliche Verbesserungen der Improvisation, zum Beispiel in den Bereichen Stilsi­cherheit, Reaktionstempo, Klangvorstellungen, hilft aber auch dabei, improvisatorische Blockaden zu lösen oder eine größere improvisatorische Beweglichkeit aufzubauen. In der Literatur wird in diesem Kontext auch immer auf die Bedeutung der Unterrichtsfächer Gehörbildung und Höranalyse hingewiesen. Hierzu ist anzumerken, dass klassischer Gehörbildungsunterricht auf das Erkennen musikalischer Strukturen ausgelegt ist, nicht aber auf das Wiedergeben derselben, das für das improvisatorische Gehör relevant wäre.

Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt des musikalischen Gehörs beim Improvisieren ist das ,Voraushören‘, also eine Klangvorstellung dessen zu haben, was als Nächstes gespielt werden soll. Ohne dieses Vorausdenken und -hören wäre jeder Ton der Impro­visation reiner Zufall. Dies ist nicht nur beim Improvisieren, sondern auch beim Literatur­spiel eine Kernfähigkeit: „Musikalisches »Sprechen« einer Musik setzt voraus, dass sie innerlich vorgestellt, »audiiert« wird.“, schreibt der Berliner Musikpädagoge Prof. Dr. Ul­rich Mahlert. (Mahlert, 2014)9

3.7 Reaktionsvermögen und Interaktion

Diesem Abschnitt sei vorangestellt, dass sich Publikationen über Improvisation und die für sie notwendige Kompetenzen nahezu ausschließlich mit Improvisation in der Gruppe, wie sie beispielsweise im Jazz üblich ist, beschäftigen. Dementsprechend kommt der Interaktion zwischen den Musizierenden eine zentrale Bedeutung zu, die bei einer Solo­improvisation natürlich fehlt - gleichwohl interagiert der Improvisierende gewissermaßen mit sich selbst.

Aus einigen Interviews und Gesprächen mit Jazzmusikern wird deutlich, dass die Solo­improvisation oft als eine weniger kunstvolle Form der Improvisation betrachtet wird, da überraschende Impulse und somit die Notwendigkeit der Reaktion auf Mitspielende ent­fallen. (Wilson, 2014, S. 143) Meiner Meinung nach liegen hier Vor- und Nachteile - sofern man im Zusammenhang mit einer so freien Kunstform wie der Improvisation über­haupt von ihnen sprechen will - sehr eng beieinander: Zwar ist bei der Soloimprovisation Reaktion auf andere Musizierende nicht vonnöten, allerdings ist gerade diese Interaktion doch oft Motor für Kreativität und Ideen, die der Soloimprovisator nur ,aus sich selbst' schöpfen kann.

Der Prozess der Interaktion mit sich selbst, also Handlungskontrolle und Auswertung des Gespielten, kann in Kombination mit oben bereits erwähntem Voraushören im Grunde als das Herzstück der (Solo-)Improvisation betrachtet werden. Aufgrund dieser Handlungskontrolle der Selbstwahrnehmung generiert der Improvisierende sein weiteres Spiel. (Pressing, 1984, S. 353) Die durch das Gehör, durch den sensomotorischen oder auch den emotionalen Kanal wahrgenommenen Informationen werden verarbeitet, inter­pretiert und mit der inneren Klangvorstellung abgeglichen. Bei Kohut & Fadle (Musizieren. Theorie des Lehrens und Lernens, 1999, S. 41) wird die Auswertung bei gleichzeitig aktivem Spiel als „Aktionsrückmeldung“ bezeichnet. Diese geschieht inner­halb von Sekundenbruchteilen und kann daher nur sehr eingeschränkt gesteuert oder reflektiert werden.

Zusätzlich zu dieser Aktionsrückmeldung findet natürlich auch nach dem Spiel eine Aus­wertung statt, die sogar weit wichtiger ist: die „Abschlussrückmeldung“ (Kohut & Fadle, 1999, S. 47f.) Für erfolgreiches Üben ist diese Art der Rückmeldung von besonderer Bedeutung: Findet keine Auswertung statt, kann auch keine Verbesserung erzielt wer­den. Nimmt der Improvisierende zwar wahr, dass sein Spiel musikalisch unzufrieden­stellend ist, kann aber bei der anschließenden Auswertung die Ursache für eben diese Unzulänglichkeit nicht erkennen, ist kein Fortschritt möglich. Eine Hilflosigkeit stellt sich ein, die schnell zu Frustration beim Üben führen kann.

[...]


1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit an einigen Stellen das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei aus­drücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

2 JRP = Jazz-Rock-Pop

3

4 Idiom ist ein in der Improvisationsforschung weit verbreiteter, aus der Sprachwissenschaft ent­lehnter Begriff, der die (traditionell) gewachsenen Eigenheiten einer Sprache, Ausdrucksweise oder eben eines Musikstils beschreibt.

5 E-Book, Abs. Abstufungen des Unvorhergesehenen und ihre didaktische Analyse

6.Nicht gebunden1 bedeutet in diesem Zusammenhang, dass an der vollständigen Durchführung eines Cantus firmus oder einer Melodie nicht mehr zwingend festgehalten wird. Dennoch kann ein Choral oder ein Thema zugrunde liegen.

7 Pressing (1984): „It is possible to view the course of the improvisation as a succession of creative impulses mapped onto music and adapted to the acoustical surroundings. [...] Given this, the factors that affect the transformation of impulses into sound are legion and include the extent of knowledge of composition and theory, instrumental technique, the ability to link theory and prac­tice quickly (achieved through practice), the speed and scope of the player's imagination, me­mory, attention, depth and span, attention strategies used, the nature of the instrument used, beliefs about what is possible, set, setting, state of consciousness and goals. [...JA simple description of the process might run as follows: ideas are generated and realized into sound via technique.“ (eigene Übersetzung)

8 Vgl. beispielsweise (Stark, Vossebrecher, Dell, & Schmidhuber, 2017) oder (Müller, 2008)

9 E-Book, Abs. Die partielle Analogie des Lernens von Musik und Sprechenlernen

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Übungsstrategien zur Improvisation an der Orgel
Untertitel
Welche Strategien eignen sich zum Erlernen der Orgelimprovisation für Kirchenmusikstudierende?
Hochschule
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
Note
1,1
Autor
Jahr
2021
Seiten
77
Katalognummer
V1152592
ISBN (eBook)
9783346542809
ISBN (Buch)
9783346542816
Sprache
Deutsch
Schlagworte
übungsstrategien, improvisation, orgel, welche, strategien, erlernen, orgelimprovisation, kirchenmusikstudierende
Arbeit zitieren
Musikpädagogin, Kirchenmusikerin Emelie Walther (Autor:in), 2021, Übungsstrategien zur Improvisation an der Orgel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1152592

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