Von der mediengenerierten Werbeveranstaltung zum sporthistorischen Großereignis

Eine wahrnehmungsorientierte Analyse der Tour de France unter publikumsintegrativen Aspekten im Spiegel der Berichterstattung


Examensarbeit, 2006

87 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Relevanz
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Radsportliche Entwicklung
2.1 Berufsradsport
2.2 Entwicklung zum Etappenrennen
2.3 Tour de France
2.4 Weitere Landesrundfahrten

3 Werbeveranstaltung und sportliche Herausforderung
3.1 Die Tour unter sportlichen Aspekten
3.1.1 Athleten
3.1.2 Berichterstattung und Streckenführung
3.1.3 Doping
3.2 Die Tour unter ökonomischen Aspekten
3.2.1 Veranstalterprofil
3.2.2 Planungsverlauf und Vermarktung
3.2.3 Logistischer Hintergrund
3.3 Die Tour unter medialen Aspekten
3.3.1 Entwicklung
3.3.2 Medienpräsenz
3.3.3 Quotenentwicklung

4 Mediengenierte Wirklichkeit
4.1 Hochleistungssport und Medien
4.1.1 Darstellungsebenen
4.2 Publikumswirkung
4.2.1 Publikumsintegrative Momente
4.2.2 Medienrealität

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Monographien

Zeitschriftenartikel

Internetartikel

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Streckenkarte der Tour de France 1903

Abbildung 2: Maschinen und Menschen

Abbildung 3: Lohn der Qual

Abbildung 4: Pantani 1998, Etappenankunft Les Deux Alpes

Abbildung 5: Amaury-Verlag

Abbildung 6: Modellplan für die Zielankunft

Abbildung 7: Jan bringt's

Abbildung 8: Flotte Tour

Abbildung 9: Covadonga Verlag

Abbildung 10: Veranstalterseite

Abbildung 11: ARD-Tour

Abbildung 12: Eurosport

Abbildung 13: Radsport-News

Abbildung 14: Publikum bei einer Bergetappe

Abbildung 15: Publikumsintegrative Momente

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Übersicht der Jahrestrainingskennziffern: U23

Tabelle 2: Sportberichterstattung im deutschen Fernsehen 1997

Tabelle 3: Die Eurosport Top 10 Deutschland 1997

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Die Tour de France ist durch Imaginationsjournalismus begründet und am Leben erhalten worden, und es ist nie gelungen, sie zu kopieren, weil die Legende nicht zu kopieren ist.

(Blickensdörfer http://www.covadonga.de Aktualisiert am 06.06.2006)

Als Henri Desgrange 1903 die erste Tour de France initiierte, geschah dies unter dem Aspekt des Werbeeffektes, welcher eine mehrtägige Radrundfahrt für seine Sportzeitung versprach. Diesen Werbeeffekt benötigte „L’Auto", die Zeitung, für die Desgrange als Chefredakteur tätig war, um sich am umkämpften französischen Pressemarkt zu etablieren und sich gegen den direkten Mitbewerber „Le Vélo“ in der Lesergunst durchzusetzen.

Zahlreiche Mythen und Legenden trugen im Laufe der Geschichte zum Erfolg der Veranstaltung bei, ließen sich letztlich aber nur im Bewusstsein der Öffentlichkeit über das Transportmittel der medialen Berichterstattung verankern.

Die Tour de France lehrt, dass der Rang einer sportlichen Veranstaltung keineswegs ausschließlich von den Leistungen der Athleten abhängt. Sie muss vielmehr Stoff für große universell verständliche Geschichten bieten, und sie braucht Leute, die diese Geschichten erzählen [...] Der Sport garantierte den Wert des Berichts, und der Bericht vervielfachte den Wert des Sports (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 8).

Die Sporthistorie zeigt, dass Sport und Berichterstattung schon immer eng miteinander verknüpft waren. Woran sich bei der Tour de France die Berichterstattung orientierte, welche Schwerpunkte besondere Betonung fanden und wie objektiv die Medienpartner - auch in der heutigen Zeit - das Publikum informieren, bedarf der besonderen Analyse, die in der vorliegenden Arbeit vorgenommen wird.

Bei jedem sportlichen Wettkampf steht immer der Athlet im Focus der Präsentation und des Zuschauerinteresses. Das macht ihn besonders als Werbeträger für Medienpartner und Sponsoren interessant, birgt aber zugleich die Gefahr, dass der Wert einer sportlichen Leistung zur gewünschten Nebensache gemindert und der Sportler nur noch unter dem Aspekt des Vermarktungspotentials bewertet wird.

Für die Radprofis entwickelte sich die Tour im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur wichtigsten Bühne für die eigene Leistungsfähigkeit [...] Ansprechende Leis- tungen bei der Tour wurden von den Geldgebern und Sponsoren sorgfältiger registriert als andere Auftritte (Schröder & Dah]lkamp 2003, S. 10) .

Hier gilt es zu fragen, welche Entwicklung die mediale Berichterstattung zur Tour de France über den rein sportlichen Aspekt hinaus genommen hat und inwieweit Medien und Sponsoren für diese Entwicklung ggf. mitverantwortlich sind.

1.1 Problemstellung und Relevanz

Die Berichterstattung der Medien zur jährlich stattfindenden Tour de France hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen, was auf ein gesteigertes Zuschauerinteresse - in Deutschland spätestens seit dem Toursieg von Jan Ullrich 1997 - zurückzuführen ist.

Eigene Spartensender wie Eurosport oder das Deutsche Sport Fernsehen haben sich am Markt etabliert und bedienen die gestiegene Nachfrage des Publikums nach gezielter Sportberichterstattung. Eurosport beispielsweise erreichte seine höchsten Einschaltquoten gleich im ersten Jahr des Bestehens (Schäferköter & Starz 1999, S. 161) mit den Übertragungen von der Tour de France 1997. Entsprechend wurde das gesamte Programm strukturiert und Eurosport setzt seitdem auf gezielte Schwerpunktbildung (Schäferköter & Starz 1999, S. 160) zu einzelnen Sportarten. Diesem Konzept folgend wird das Programm im Jahresverlauf entsprechend gestaltet und von allen bedeutsamen Veranstaltungen einer Sportart berichtet. Für den Radsport heißt das, dass Eurosport nicht nur von der Tour berichtet, sondern auch die Radklassiker und weitere Rundfahrten wie „Giro d’Italia“ und „Vuelta á España“ im Programmangebot bereithält. Diese Form der Programmgestaltung führt zu einer starken Bindung des Zielpublikums, woraus eine entsprechend große Attraktivität des Senders für die Werbetreibende Wirtschaft resultiert.

Hat sich die Tour de France als Veranstaltung in ihrer Organisation und Auslegung dieser Form des Medienund Publikumsinteresses angepasst? Oder ist es vielmehr so, dass die Tour in ihrer Gestaltung und Vermarktung erst diese Form der Nachfrage geschaffen hat? Desgrange initiierte 1903 die Radetappenfahrt durch Frankreich als Marketinginstrument für seine Sportzeitung und erzielte damit den gewünschten Effekt einer Auflagensteigerung (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 38) von „L’Auto“. Über die Jahre erfuhr die Veranstaltung eine ständige Veränderung: Sowohl in der Streckenführung als in der Anpassung an die technischen Entwicklungen der Zeit. Was sich hingegen bis heute nicht geändert hat ist, dass die Amaury Sport Organisation "ASO" als Veranstalterin der Tour de France zum größten Medienkonzern Frankreichs, Amaury gehört, die sich gleichzeitig für die Berichterstattung von der Tour de France verantwortlich zeichnet. Wie ist es also um die unabhängige, objektive Berichterstattung bestellt? Und erwartet das Publikum überhaupt, objektiv informiert zu werden? Oder geht es dem Publikum vorrangig nur um „[...] die Möglichkeit einer harmlosen Heldenverehrung [...] die Chance, als Fan eigene Affekte wie Ärger, Begeisterung, Freude und Trauer auszuleben“ (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 12), wie aufgrund einiger Untersuchungen argumentiert wird?

Im Rahmen dieser Arbeit soll untersucht werden, ob die eigentliche Akzentuierung der Veranstaltung im sportlichen Bereich liegt oder zielgerichtet von ökonomischen Interessen abhängig ist und geleitet wird. Zudem wird untersucht, ob die mediale Darstellung der Tour de France dem Publikum eine objektive Berichterstattung anbietet und ob - und wenn, welchen Einfluss - Werbeträger und Sponsoren auf die Vermarktung der Veranstaltung nehmen. Dabei sollen insbesondere die Rückkopplungsprozesse auf den verschiedenen Wahrnehmungsebenen zwischen Veranstaltung, den Medien und dem Publikum aufgezeigt werden.

1.2 Aufbau der Arbeit

Nach dieser Einführung wird im zweiten Kapitel der Arbeit auf die historische Entwicklung des Radsports eingegangen. Hierzu wird die Entstehung des Berufradsports näher beleuchtet, eine Definition von Etappenrennen erfolgen und die Entwicklung der Landesrundfahrten dargestellt, bevor die Tour de France in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird.

Darauf aufbauend wird im dritten Kapitel die Fragestellung in den Vordergrund treten, ob es sich bei der Tour de France nur um eine Werbeveranstaltung oder um eine rein sportliche Herausforderung handelt. Hierzu werden verschiedene Aspekte der Tour de France unter sportlichen, ökonomischen und medialen Gesichtspunkten untersucht.

Im vierten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf der Frage nach der mediengenerierten Wirklichkeitserfahrung. Hier wird der Frage nach einer objektiven Berichterstattung der Tour de France nachgegangen und auf die enge Verknüpfung von Medien und Hochleistungssport Bezug genommen, bevor die verschiedenen medialen Verbreitungsformen gesondert vorgestellt werden. Im Abschluss dieses Kapitels wird die Tour de France noch einmal detailliert auf ihre Publikumswirkung hin untersucht.

Im fünften Kapitel erfolgt eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse, die in einem Fazit aufbereitet werden.

2 Radsportliche Entwicklung

Die Entwicklung des Radsports fiel in eine Zeit der industriellen Umwälzungen, in der technische Neuerungen und soziale Verschiebungen das Leben der Menschen nachhaltig veränderten. Im Spannungsfeld zwischen Fortschrittsglauben und zögerlichem Konservatismus ging ein Riss durch die Gesellschaft, der sich auch in der Akzeptanz des Fahrrades als Sportund Fortbewegungsmittel manifestierte. Sehr schnell hatten die ersten Radfahrer den Ruf der progressiven Erneuerer und zogen sich damit die ablehnende Haltung von Seiten der konservativen Bevölkerungsschichten zu (Rabenstein 1991, S. 10).

Als Michaux 1867 auf der Pariser Weltausstellung seine Weiterentwicklung des Laufrades von Freiherr von Drais präsentierte, hatte er damit der Entwicklung des Zweirades einen entscheidenden Impuls gegeben. Beim modernen Niederrad, wie es der Engländer John Kemp Starley 1884/1885 vorstellte, wurde das Hinterrad schon mit einer Ketten- übersetzung angetrieben und war in dieser Konstruktion durchaus mit den heutigen Rädern gleichzusetzen (Rabenstein 1991, S. 29). Entsprechend dem rasanten Voranschreiten der Entwicklung auf dem technischen Sektor trat das Rad seinen Siegeszug sowohl als Massenfortbewegungsmittel als auch als Sportgerät in der Gesellschaft an.

Die ersten Abenteuertouren im ausgehenden 19. Jahrhundert führten verwegene Pioniere des Radsports auf ihren Hochrädern um die ganze Welt und etablierten damit das Zweirad als uneingeschränkt einsetzbares Fortbewegungsmittel im Bewusstsein der Gesellschaft. Der Journalist Thomas Stevens umrundete den Erdball zwischen 1884 und 1886 auf einem dreißig Kilogramm schweren Hochrad und berichtete über seine Erlebnisse in einer eigenen Zeitungskolumne der Zeitung „Outing“ (Rabenstein 1991, S. 14). Ein erstes Beispiel für die enge Verzahnung von sportlicher Leistung und medialer Berichterstattung: Diese Reise wurde erst durch eine Pressefinanzierung möglich.

Kennzeichnend für das ausgehende 19. Jahrhundert war das mit dem technischen Fortschritt einhergehende gesellschaftliche Streben nach Rekorden. Alles schien erreichbar und die Grenzen lagen allein in der körperlichen Gebundenheit. Vor diesem Hintergrund der Industrialisierung und der damit verbundenen Bereitstellung von technischen Möglichkeiten rückte nun zunehmend die körperliche Leistungsfähigkeit in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Das Interesse an weltumspannenden A- benteuerfahrten aber erlahmte bald, wie Rabenstein (1991) beschreibt:

Der wesentliche Grund für die aufkommende Fragwürdigkeit der Weltreisen zu Rad liegt vor allem in der Abhängigkeit von der Presse. Diese finanziert überwiegend die Abenteuerreisen und kann ihren Lesern so spannende Berichte lie- fern. [...] Als der Reiz des Neuen vorüber ist, erlahmt das Interesse der Presse, solche Reisen zu sponsern. (Rabenstein 1991, S. 17).

An die Stelle der weltumspannenden Distanzfahrten ohne direkten Wettkampfcharakter trat nun der sportliche Vergleich Mann gegen Mann auf dem Rad. Zunächst als Sechs- Tage-Rennen auf der Bahn ausgetragen und ganz dem „Trend zu maximalen Dauerleistungen im Sport“ (Rabenstein 2003, S. 74) folgend, verlagerte sich der Radrennsport mit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend zurück auf die Straße. Nicht zuletzt der Ausbau des Verkehrsnetzes und die Entwicklung des Luftreifens 1888 durch den Iren John Boyd Dunlop leisteten diesem Trend Vorschub, denn erst mit dem „ungefährlicheren Niederrad mit Kettenantrieb am Hinterrad und mit Luftbereifung [...] verfügen die Radsportler über ein Straßenrad, das für Dauerbelastungen geeignet ist.“ (Rabenstein 2003, S. 75) .

2.1 Berufsradsport

Die ersten durchorganisierten Radrennen lassen sich bereits auf das Jahr 1869 datieren und wurden von lokalen Radclubs organisiert. Sie entsprangen oftmals einer Wette und führten über relativ kurze Distanzen, wobei der direkte körperliche Vergleich im Vordergrund des Interesses stand und Preise für den Sieger ausgelobt wurden. Rabenstein (2003) führt dazu aus:

Seit dem ersten Straßenrennen Paris-Rouen 1869 über 123 Kilometer gibt es immer wieder längere Fahrten, bei denen es um das Bewältigen der Strecke durch die Radfahrer und die Zuverlässigkeit des Fahrrads geht, aber auch um touristische Erlebnisse oder um Wettrennen, bei denen Preise ausgesetzt werden. (Rabenstein 2003, S. 75)

Zunächst fand das Kräftemessen auf dem Zweirad überwiegend auf den Radrennbahnen in Form von Sechs-Tage-Rennen statt. In den Jahren um 1880 gehörten die Bahnsprinter - die damals auch „Flieger“ genannt wurden - zu den beliebtesten Radsportlern. Für die Popularität der Bahnrennen waren verschiedene Faktoren ausschlaggebend, die sich mit den Vokabeln „Sauberkeit“, „Fairness“ und „Zuschauerfreundlichkeit“ kurz zusammenfassen lassen. Auf den Radrennbahnen erlebten die Zuschauer die für damalige Zeit enormen und rein durch Muskelkraft erzeugten Geschwindigkeiten der Radrennfahrer hautnah.

Zudem machen die Rennfahrer - im Gegensatz zu den dreckverkrusteten Stra- ßenfahrern - einen ‚sauberen’ Eindruck, weil auf nasser Rennbahn nicht gestar- tet wird. [...] so dass diese Spezialisten oft als ‚Aristokraten des Radsports’ bezeichnet werden. (Rabenstein 2003, S. 74)

Entsprechend erlebte der Straßenradsport erst mit der Etablierung der ersten Fernfahrten um 1890 eine Aufwertung im Bewusstsein der Öffentlichkeit. 1891 fand die erste Austragung der Fernfahrt Bordeaux-Paris über 577 Kilometer statt und gilt seither „als älteste internationale Distanzfahrt und erster Straßenklassiker“ (Rabenstein 1991, S.74). Zwar wurden schon ab 1869 Radrennveranstaltungen organisiert, allerdings ging in Deutschland und Frankreich die Ausbreitung der Rennen nach dem Krieg von 1871 nur schleppend voran, erfuhr aber um 1880 eine beschleunigte Entwicklung (Rabenstein 1991, S. 26). Nicht unerheblichen Anteil daran hatten die Zweiradindustrie und die Medien, wie Rabenstein (2003) erläutert:

Das Interesse und Sponsoring der rapide wachsenden Zweiradindustrie unterstützen die Organisatoren dieser Rennen tatkräftig. Aber auch die Tagesund Sportpresse nehmen starken Anteil an den neuartigen Sportereignissen. (Rabenstein 2003, S. 75)

Der ersten Veranstaltung folgten schon bald weitere, wobei sich Paris als Startort vieler Rennen etablierte. Im deutschsprachigen Raum wurde im gleichen Jahr das Rennen „Leipzig - Berlin - Leipzig - Dresden - Leipzig“ über 500 Kilometer ausgefahren, 1892 folgte „Magdeburg - Köln“. 1896 fand die erste Austragung von „Rund um Berlin“ statt. Für die aufkommende Fahrradindustrie in Deutschland waren diese Distanzfahrten ein enormer Werbeerfolg und führten zu einem kräftigen Aufschwung dieses Industriezweiges (Rabenstein 1991, S. 76).

Parallel zur Etablierung der Radrennveranstaltungen auf Bahn und Straße entstand die neue Berufsgattung der „Berufsradrennfahrer“. Um 1886 gab es in Deutschland geschätzte 326 „Herrenfahrer“, die den heutigen Amateurradrennfahrern gleichzusetzen sind (Gronen/Lemke 1987, S. 79 ). Sie trugen ihre Rennen auf den 24 Radrennbahnen Deutschlands aus. Zur gleichen Zeit gab es in Frankreich und England schon die ersten Berufsradfahrer, wie Gronen und Lemke (1987) zu berichten wissen:

England und Frankreich hatten um diese Zeit schon Berufsradrennfahrer und am 16. Mai 1886 erschienen die ersten ‚Profis’ anlässlich der Eröffnung der Radrennbahn am Schyrenplatz in München am Start. Der gebotene Sport der drei Professionals Dubois, Duncan und de Civry gefiel den Münchnern außerordentlich [...]. (Gronen & Lemke, 1987, S. 79)

Welche Auswirkungen das Auftreten der ersten „Professionals“ auf die deutschen Amateure hatte, lässt sich diesen Worten entnehmen:

[...] das Auftreten der ersten Berufsfahrer (blieb, Anm. d. Verf.) nicht ohne Eindruck bei den Amateuren [...]. Die offensichtlich leichte Art des Geldverdienens – es waren in München Barpreise in einer Gesamthöhe von 1000 Mark vergeben worden – ließ in manchem Herrenfahrer, den Gedanken aufkommen, aus dem Radrennsport in Zukunft ebenfalls Kapital zu schlagen.

(Gronen & Lemke 1987, S. 79)

Die Entwicklung zum Professionalismus hing eng mit der Entstehung der Radrennbahnen zusammen. Die Zuschauer mussten bei diesen Veranstaltungen Eintritt bezahlen, um an den außergewöhnlichen Leistungen der Radrennfahrer teilhaben zu können. Gleichzeitig wollten diese als Hauptakteure für ihren Einsatz entsprechend entlohnt werden und am finanziellen Gewinn der Veranstalter partizipieren (Rabenstein 1991, S. 88).

Die Verdienstmöglichkeiten von Berufsradrennfahrern waren für damalige Verhältnisse enorm. Um 1905 wurden bei den Bahnrennen Startgelder bis zu 3000 Mark ausgelobt, das Jahreseinkommen von Weltklassesprintern lag bei 100.000 Mark und war in dieser Höhe mit den Einkommen von Ministern vergleichbar. Entsprechend verzeichnete der Bund Deutscher Radfahrer schon 1899 eine Anzahl von 452 Berufsradfahrern in Deutschland (Rabenstein 1991, S. 88). Insbesondere die Zweiradindustrie und die Presse forcierten die weitere Entwicklung des Professionalismus im Radsport. Die Industrie hatte frühzeitig das immense Werbepotential von Radrennveranstaltungen erkannt und bediente sich der außergewöhnlichen Leistungen der Radrennfahrer, die diese bei den verschiedensten Anlässen demonstrierten.

Die aufsehenerregenden Leistungen der Rennfahrer bei den extremen Radsportdiziplinen – Distanzfahrten, Etappenrennen, Steherrennen, und Sechstagerennen – werden jedenfalls großzügig honoriert.

(Rabenstein1991, S. 90)

Die Presse ihrerseits berichtete umfassend und emotional verklärt von den „unglaublichen Leistungen der Radsportler“ (Rabenstein 1991, S. 89) und initiierte in ihrer euphorischen, zum Teil aber auch kritischen Berichterstattung eine ungeheure Popularisierung des Radsports. Gleichzeitig ergab sich aus dieser fortschreitenden Kommerzialisierung der Sportart ein Prestigeverlust für den ausübenden Athleten, der für seine Leistungen nun Geld annahm. Im Gegensatz zum Amateursport, der nur den finanziell unabhängigen Bevölkerungsschichten vorbehalten war und deshalb „einen vornehmen Charakter“ (Rabenstein, 1991, S. 90) voraussetzte, galt der berufsmäßig ausgeübte Radsport als unfein und stellte somit einen sozialen Abstieg dar. Die Chronik des Chemnitzer „R.C. Diamant“ beschrieb diese Entwicklung bereits 1890 wie folgt:

[...](Der DRB, Anm. des Verf.) stempelte jeden Fahrer, der Geld annahm, zum Berufsfahrer, was damals gleichbedeutend war mit einer Degradation in eine untergeordnete Gesellschaftsklasse. (Rabenstein 1991, S. 91)

2.2 Entwicklung zum Etappenrennen

Im Radrennsport gab es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts drei Kernbereiche: Die Bahndisziplinen der Sechs-Tagesowie der Steherrennen und den der Radklassiker in Form von eintägigen Distanzfahrten auf der Straße.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhren die Radrennen auf der Straße immer größere Aufmerksamkeit im Bewusstsein des Publikums und setzen sich mehr und mehr in direkter Konkurrenz zu den Bahnveranstaltungen durch. Der Trend zu maximalen Dauerleistungen, wie sie bei den gut besuchten Sechs-Tage-Rennen von den Fahrern erbracht wurden, suchte nun seine Entsprechung auf der Straße und das führte zwangsläufig zur Entstehung von mehrtägigen Radrennen, die im Folgenden als Etappenrennen bezeichnet werden. Rabenstein definiert diese Form der Rennveranstaltung folgendermaßen:

Der Begriff Etappe stammt aus dem Militärischen und bezeichnet einen speziell eingerichteten Ort, der als Ruhepunkt für marschierende Truppen und als Versorgungsplatz dient. Etappenrennen bedeutet demnach, ein Rennen mit festgelegten Streckenabschnitten und reglementierten Pausen an vorher bestimmten Etappen durchzuführen. (Rabenstein 1991, S. 79)

Die Entwicklung hin zu Etappenrennen begann schon mit den mehrtägigen „Abenteuerfahrten“ der ersten Radpioniere. Die neunziger Jahre des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren „ von einem touristischen, aber auch rekordorientierten Rundfahrtfieber“ (Rabenstein 1991, S. 79) geprägt, in der denen Franzose Théophile Joyeux 1895 zu einer ersten Frankreichrundfahrt aufbrach. Er bewältigte die Distanz von viertausend Kilometer in neunzehn Tagen und wurde dabei von Journalisten begleitet, die seine Strapazen in Zeitungsartikeln anschaulich einem erwartungsvollen Publikum schilderten. Zu den mitreisenden Journalisten gehörte auch Henri Desgrange, dem besonderer Anteil an der Durchführung dieser Radrundfahrt zukam. Immer wieder überredete Desgrange den erschöpften Joyeux zum Weiterfahren und motivierte ihn damit zum Durchhalten (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 16). Die Idee einer Etappenrennveranstaltung war begründet, zumal diese Form in den Medien gut zu vermarkten war:

So konnte man tageoder gar wochenlang die Leser von Sportnachrichten in Spannung halten, umfangreiche Vorund Nachberichterstattung in die Medien bringen. (Rabenstein 2003, S. 80)

Allerdings gab es auf der organisatorischen Seite noch einige Probleme, die um 1900 sowohl logistischer als auch infrastruktureller Natur waren, letztlich den Erfolg dieser Rennform aber nicht verhinderten.

Die Idee aber setzt sich durch, Rennen zu veranstalten, die durch die Einteilung in Tagesetappen charakterisiert sind und über mehrere Tage, wenn nicht gar Wochen den Teilnehmern außergewöhnliche und strapaziöse Leistungen abverlangen, den Zuschauenden und der interessierten Öffentlichkeit jedoch täglich aufs neue Spannung und Sensationen bieten. (Rabenstein 1991, S.81)

Im Jahr 1903 wird die erste offizielle Tour de France ausgetragen, der schon bald Etappenrennen in ganz Europa folgten. So finden ab 1908 in Belgien, 1909 in den Niederlanden und Italien und 1911 in Deutschland und Katalonien mehrtägige Landesrundfahrten statt. Dabei wurde nicht nur der Renncharakter kopiert, sondern im Speziellen auch die nationale Bedeutung als Prestigeveranstaltung hervorgehoben.

2.3 Tour de France

TOUR DE FRANCE – Die größte Radsportprüfung der ganzen Welt – Ein Rennen von einem Monat – PARIS – LYON – TOULOUSE – BORDEAUX – NAN- TES – PARIS – 20 000 Francs Preisgeld – Start 1. Juni – Ankunft 5. Juli Parc des Princes. (Angermann 2004, S.21)

Mit diesen Worten warb Henri Desgrange 1903 als verantwortlicher Chefredakteur der Zeitung „L’Auto-Velo“ um Teilnehmer für eine erste organisierte Frankreichrundfahrt mit Renncharakter.

Desgrange benötigte dringend einen Marketingerfolg, um die Auflage der erst 1900 gegründeten „L’Auto“ zu steigern. Seine Geldgeber wollten Erfolge sehen und zugleich musste sich Desgrange mit seinem Blatt gegen die direkte Konkurrenz von „Le Vélo“ durchsetzen. Dieses Blatt war als Sportzeitung schon etabliert und hatte mit Pierre Giffard einen erfahrenen Chefredakteur an der Spitze. (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 16).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Streckenkarte der Tour de France 1903 (Gronen & Lemke 1987, S. 196)

Nur zögerlich trafen die Meldungen von Freiwilligen ein und Desgrange musste mit „nationalistischen und patriotischen Appellen“ (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 17) die Berufsradfahrer zur Teilnahme bewegen. Der Verweis auf den finanziellen Aspekt einer Teilnahme sollte die Fahrer animieren:

‚Die Hoteliers bieten Ihnen Sonderpreise an und die Zuschüsse der Organisation sind großzügig. Und vergesst nicht, dass jeder, der etwas leistet für seine zehn Francs Startgeld hohe Preise gewinnen kann. Zauderer, gebt eure Meldung ab!’ (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 17)

Bestandteil einer verbesserten Ausschreibung war auch die Reduzierung der ursprünglichen Renndauer auf drei Wochen und sechs Etappen und die Halbierung der Teilnahmegebühr auf zehn Franc (Angermann 2004, S. 22). Zum Start am 1. Juli 1903 fanden sich schließlich sechzig Athleten aus fünf Ländern ein und Desgrange konnte davon

ausgehen, dass die Veranstaltung nicht nur ein publizistischer Erfolg werden würde, sondern auch eine Veranstaltung auf hohem sportlichem Niveau repräsentierte.

Die Idee, eine Etappenrundfahrt durch Frankreich zu organisieren und zu veranstalten, gründete sich auf den Erfahrungen, die Desgrange bei der Begleitung von Théophile Joyeux im Jahr 1895 gesammelt hatte (Rabenstein 1991, S. 79). Zudem hatte die Sportberichterstattung von den Abenteuertouren der Radpioniere eine lange und erfolgreiche Tradition auf dem Pressemarkt. Insofern war es fast nahe liegend, eine organisierte Frankreichrundfahrt als Marketing-instrument für eine neue Sportzeitung zu nutzen. Allerdings brachte die Durchführung eines solchen Mammutprojektes zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielerlei Probleme mit sich, wie sich schon bei der ersten Austragung herausstellte und Rabenstein (2003) anschaulich illustriert:

Auf jeden Fall gab es um 1900 noch erhebliche Probleme, die Fahrergruppen zu begleiten und damit einen reellen Rennverlauf zu garantieren, weil mangelnde Zuverlässigkeit von Automobilen und die Beschaffenheit der Straßen dies nicht unbedingt zuließen. (Rabenstein 2003, S. 80)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Maschinen und Menschen (Ollivier 2005, S. 7)

Entsprechend schwierig war es, die Einhaltung des Reglements unterwegs sicherzustellen:

Wegen fehlender Kontrolle der Fahrer während des Rennens können Fahrer manipulieren, indem sie sich durch Automobile ziehen lassen oder gar Teilstrecken mit der Eisenbahn zurücklegen […]. (Rabenstein 1991, S.80)

Vor diesem Hintergrund bleibt der sportliche Wert der ersten Austragungen dahingestellt. Festzuhalten ist, dass bei der ersten Tour de France insgesamt 2428 Kilometer zurückgelegt wurden, die sich auf gerade einmal sechs Etappen verteilten. Von den sechzig gestarteten Sportlern erreichten einundzwanzig wieder Paris. Darunter auch der Deutsche Joseph Fischer aus München, der 15. im Gesamtklassement wurde. Der Sieger Maurice Garin benötigte rund dreiundneunzig Stunden, was einer täglichen Fahrtzeit von fünfzehn Stunden entsprach. Für seine Bemühungen erhielt er 6075 Francs und gehörte mit diesem Verdienst zu den bestbezahlten Sportlern seiner Zeit (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 18) . Desgrange seinerseits registrierte für den Monat Juli, dass die Auflage von „L’Auto“ deutlich gestiegen war und dieser Monat den bisher größten Umsatz mit sich brachte (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 22).

Recht bald erkannten die Vertreter der Fahrradindustrie das Werbepotenzial, dass die Veranstaltung für ihre Produkte bereithielt und sponserten die ersten Werksmannschaften, die sich aus Berufsradfahrern zusammensetzten. Um die Jahrhundertwende verlagerte sich der Einsatz des Fahrrades in der Gesellschaft vom reinen Sportgerät hin zum Massenfortbewegungsmittel, das gerade den „gesellschaftlichen Unterschichten mehr Mobilität in Beruf und Freizeit brachte.“ (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 20). Vor diesem Hintergrund bot die Tour de France für die boomende Fahrradindustrie eine willkommene Werbeplattform, auf der sich die Effizienz des Rades anschaulich demonstrieren ließ.

In Abschnitt 2.1 wurde bereits auf den Übergang vom reinen Amateursport hin zum Berufsradsport eingegangen. Die Entwicklung bei der Tour de France zeigte nun in ganzer Deutlichkeit, wie energisch die Professionalisierung der Sportler und mit ihnen die gesamten Sportart voranschritt:

Die Interessenlage der Radsportler war selbstredend nicht von irgendwelchen Material-vorlieben gekennzeichnet, sondern sie fuhren für den Hersteller, der ihnen das bessere Honorar zusicherte. [...] wies der Radsport einen hohen Professionalisierungsgrad auf; Radfahrer fühlten sich in erster Linie der Berufsgruppe Radprofi zugehörig. (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 20)

Die zweite Austragung der Tour im Jahr 1904 war von einer Reihe von Skandalen geprägt. Insbesondere die Probleme bei der Überwachung des sportlichen Reglements ließen die Ergebnisse zur sportlichen Farce verkommen. Desgrange überlegte kurzeitig, die Veranstaltung einzustellen, folgte dann aber seinem unternehmerischen Kalkül und reagierte stattdessen mit einer Verschärfung des Reglements und dessen Überwachung (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 21). Die Tour de France wurde auf ein solides Fundament gestellt und erfuhr in ihrer weiteren Entwicklung eine ständige Anpassung und Modernisierung.

1905 wurde die Streckenführung geändert und der erste Bergpass, der Ballon d’Alsace mit in das Profil der Rundfahrt aufgenommen. Die Fahrer verfügten zu diesem Zeitpunkt noch über keine Kettenschaltung, was den Aufstieg auf den Berg zu einer Quälerei geraten ließ. Die enormen Anstrengungen der Fahrer wurden detailreich in den Zeitungsartikeln beschrieben und fanden ein fasziniertes Publikum. In den späteren Jahren wurden die Berge der Pyrenäen und der französischen Alpen in das jährlich wechselnde Streckenprofil der Tour integriert und boten den Schauplatz für epische Etappen, die in zahlreichen Legenden rund um die Veranstaltung Eingang fanden und zur Auflagensteigerung von „L’Auto“ beitrugen:

[…] die Auflage von ‚L’Auto’ hatte sich – dank der Gebirgsfahrten und der attraktiven Dramaturgie der Rundfahrt – während der vergangenen zwei Jahre auf über 300.000 Exemplare verdoppelt. (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 38)

Dem Erfolg der Frankreichrundfahrt folgten in anderen europäischen Ländern bald weitere Etappenrundfahrten, die im Abschnitt 2.4 genauer vorgestellt werden. Diese Entwicklung verdeutlichte, welche Erfolgsgeschichte eine nationale Rundfahrt für die Veranstalter bereithielt.

Die Anfangsjahre der Tour de France werden im heutigen Rückblick als die „heroische Epoche“ (Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_De_France - Aktualisiert am 02.05.2006) bezeichnet, da die Tagesdistanzen meist mehr als 400 Kilometer betrugen. Unter publikumsintegrativen Gesichtspunkten wurde die Etappenlänge stetig verringert, bei sukzessiver Erhöhung der Anzahl von Tagesetappen. War in den Anfangsjahren der Tour de France nach jeder Etappe ein Ruhetag angesetzt, so wurde auch diese Anzahl verringert. Heute beinhaltet die Austragung der Tour de France noch zwei Ruhetage, die zumeist nach schweren Bergetappen angesetzt werden. Seit den 1950er Jahren hat sich die Tour de France in ihrer Streckenführung nur noch geringfügig verändert.

Die Gesamtlänge der Tour der France variierte im Laufe ihrer der Entwicklung. Wurden in den ersten Jahren - bis in die 1930er Jahre - noch Distanzen um 5000 Kilometer gefahren, so beträgt die heutige Streckenlänge im Mittel um 3000 Kilometer. Parallel zur Verkürzung der Gesamtdistanz stieg das gefahrene Stundenmittel kontinuierlich von 25 km/h bei den ersten Austragungen auf zuletzt 41,65 gefahrene Kilometer in der Stunde bei der Tour de France 2005 an.

(Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_De_France - Aktualisiert am 02.05.2006)

Die ersten Ausgaben der Tour de France erzielten bereits eine hohe Publikumsresonanz, allerdings sah sich Desgrange frühzeitig mit drei offensichtlich unvereinbaren Interessen konfrontiert:

Die Hersteller hatten kommerzielle Interessen, das Publikum urteilte nach nationalen Kriterien und die Tour-Manager um Desgrange vertraten die amateurhafte Auffassung des ehrlichen, harten, von außersportlichen Aspekten unberührten Wettbewerbs. (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 68)

Dass die amateurhafte Vorstellung der Realität zuwiderlaufen musste, zeigte sich schon daran, welchen Einfluss die Fahrradindustrie mittlerweile auf die Veranstaltung zu nehmen versuchte. Fast sämtliche Fahrerteams der Tour wurden gesponsert, gleichzeitig schalteten die Fahrradproduzenten ihre Anzeigen in „L’Auto“. Entsprechend versuchte die Industrie Druck auf Desgrange auszuüben und „Streckenverlauf und Reglement im Interesse des eigenen Marketings zu beeinflussen“ (Schröder & Dahlkamp 2003, S. 68). Desgrange reagierte mit der Einführung einer Werbekolonne, die erstmals 1930 dem Fahrerfeld vorausgeschickt wurde:

Vor dem Fahrerfeld bewegte sich erstmals die bis heute übliche Werbekolonne […] die den Zuschauern Reklame aus allen erdenklichen Wirtschaftsbranchen präsentierten. [...] Mit dieser revolutionären Idee, die überdies beim Publikum gut ankam, erschloss Desgrange neue Finanzquellen und machte sich gleichzeitig von den Mächtigen der Fahrradindustrie unabhängig.

(Schröder & Dahlkamp 2003, S. 68)

Gleichzeitig mit der Einführung der Werbekolonne wurden in den Dreißiger Jahren die Firmenteams aufgelöst und stattdessen Nationalteams zur Tour 1930 eingeladen. Das entsprach durchaus dem nationalistischen Zeitgeist. Eine Besonderheit dieser Jahre war, dass Amateure als Touristikfahrer an der Tour teilnehmen konnten. Allerdings kehrte die Organisation 1961 zur ursprünglichen Regelung zurück und das Fahrerfeld setzt sich seitdem - mit einer kurzen Unterbrechung 1967 und 1968 - wieder aus professionellen Firmenteams zusammen. (Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_De_France – Aktualisiert am 02.05.2006).

Das Reglement der Tour bildet die Grundlage für das Gesamtklassement und sieht verschiedenfarbige Trikots zur Identifizierung des jeweils Führenden vor. Dabei trägt der Gesamtführende das Gelbe Trikot, der beste Sprinter wird durch das Grüne Trikot gekennzeichnet und der beste Bergfahrer erhält das Bergtrikot, welches in weiß mit roten Punkten gestaltet ist. Zu jedem Trikot gibt es einen Werbepartner, der das jeweilige Trikot sponsert. Das erste Gelbe Trikot führte 1919 Henri Desgrange ein, um den Spitzenreiter der Rundfahrt für das Publikum besser identifizierbar zu machen. Der Fahrer mit der geringsten Gesamtfahrzeit trägt das Gelbe Trikot, das Grüne und das Bergtrikot werden anhand eines Punktesystems ermittelt. Ferner gibt es ein Weißes Trikot für den besten Nachwuchsfahrer und eine Rote Rückennummer, die der angriffsfreudigste Fahrer tragen darf.

Zudem umfasst das Reglement der Tour Bestimmungen zur Zeitnahme, zur Verpflegungsannahme auf den einzelnen Etappen und zur technischen und ärztlichen Hilfe. Außerdem legt das Reglement den Umgang mit Verstößen gegen selbiges fest (Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_De_France - Aktualisiert am 02.05.2006).

Das Erscheinungsbild der Landesrundfahrt veränderte sich so im Lauf der Jahre, woran der jeweilige Tourdirektor einen großen Anteil hatte. In den Anfangsjahren übernahm diese Aufgabe Henri Desgrange. Er gab der Tour ein Gesicht und entwickelte sie stetig weiter. Für seine Amtszeit steht die Einführung der Werbekolonne und des Gelben Trikots. Allerdings steht er auch für eine Zeit der technischen Verweigerung, da er sich bis zum Schluss vehement gegen eine Einführung der Kettenschaltung ausgesprochen hatte. Auf Desgrange folgte 1936 Jacques Goddet, der erst in Vertretung und ab 1940 eigenständig die Tourgeschicke in die Hand nahm. Auch Goddet war als Journalist bei „L’Auto“ sozialisiert worden und leitete die Organisation der Tour bis 1986. Nach der Einstellung von „L’Auto“ im Zweiten Weltkrieg gründete Goddet nach Kriegsende auf dem Fundament der „L’Auto“ die Sportzeitung „L’Equipe“. Die „L’Equipe“ gehört mittlerweile zur Amaury Gruppe, dem Konzern, der noch immer die Durchführung der Tour de France organisiert. Nach einer kurzen Phase des Übergangs übernahm 1989 Jean Marie Leblanc die Organisation der Tour „unter dessen Direktion die Vermarktung der Tour de France einen neuen Grad der Professionalisierung erreicht hat.“ (Grossekathöfer 28/2001, S. 148). Gleichzeitig ging die Organisation der Veranstaltung an die Amaury Sport Organisation (ASO) über, die im Abschnitt 3.2.1 gesondert vorgestellt wird. Im Jahr 2006 wird Christian Prudhomme die Organisation der Tour leiten.

In gleichem Maße wie sich die Tourdirektoren für das äußere Erscheinungsbild der Veranstaltung verantwortlich zeichneten, gaben die teilnehmenden Fahrer der Tour de France erst ein Gesicht.

Ihre Leiden und Erfolgsgeschichten waren die Grundlage für unzählige Anekdoten und Legenden, die der Sportberichterstattung erst das nötige Material lieferte.

Meldungen vom Rennen müssen die Posten liefern, die in regelmäßigen Abständen an der Strecke stehen. Per Telegramm halten sie die Redaktion auf dem Laufenden [...] Aus diesem Material strickt Desgrange an seinem Schreibtisch in der Pariser Redaktion epische Reportagen über den ‚heldenhaften Kampf verwegener Männer auf den Straßen Frankreichs’. (Siemes 24/2003, S. 2)

Um die Spannung zu steigern, werden die Akteure stilisiert und das Geschehen um einen künstlichen Spannungsbogen angereichert, wie folgender Kommentar aus der Online Ausgabe der Zeitung "Die Zeit" belegt:

Die Protagonisten werden mit poetischen Beinamen belegt, der Adler von Toledo, Frederico Bahamontes fährt gegen Monsieur Chrono Jacques Anquetil [...] Jedes Jahr wird ein neuer Held, ein neues Duell erfunden.

(Siemes 24/2003, S. 3)

Welche besondere Bedeutung der Außendarstellung der Athleten zukommt, wird im Abschnitt 4.2.2 im Bezug auf die Publikumswirkung gesondert aufgegriffen werden.

Gab es im ersten Jahr der Austragung insgesamt 20.000 Francs an Preisgeldern zu gewinnen, so wurden bei der Tour-Auflage 2004 drei Millionen Euro an Preisgeld ausgeschüttet, davon allein 400.000 Euro für den Gesamtsieger. Die ASO aber setzt allein rund 30 Millionen Euro mit der Vermarktung der Tour pro Jahr um (Grossekathöfer 28/2001, S.147). Insofern sind die Fahrer nur relativ geringfügig am Gesamtumsatz beteiligt. Der hohe Stellenwert der Tour bei den Athleten liegt vielmehr in dem enormen Selbstvermarktungspotential, welches die Tour für die Teilnehmer bereithält. Eine gute Platzierung der Fahrer oder des Teams reicht aus, um für die nächste Saison einen potentiellen Sponsor und Arbeitgeber zu finden. Marcel Wüst (2001), ehemaliger Weltklassesprinter und mehrmaliger Tour de France Teilnehmer, kommentiert den Stellenwert der Tour im Vergleich zu anderen Landesrundfahrten mit folgenden Worten:

Es gibt ein Gesetz in der Branche: Nur die Tour zählt sonst gar nichts. 1997 habe ich bei der Spanien Rundfahrt drei Etappen gewonnen. Der Kölner Presse war das fünf Zeilen wert – in der Rubrik ‚Am Rande notiert’. In Spanien dagegen haben mich die Journalisten zur gleichen Zeit als ‚König der Vuelta’ bejubelt. (Grossekathöfer 3/2001, S.190)

2.4 Weitere Landesrundfahrten

Um die Entwicklung weiterer Landesrundfahrten nachvollziehen zu können, muss zunächst ein genauerer Blick auf den historischen Rahmen dieser Entstehungsepoche geworfen werden.

Die Tour de France entstand in einer Zeit, die stark durch einen aufkommenden Nationalpatriotismus gekennzeichnet war. Hierzu Rabenstein (2003):

[…] erzeugte die Idee des Henri Desgrange, das erste Etappenrennen überhaupt “Tour de France” zu nennen, eine nationalpatriotische Euphorie seiner Landsleute, die dem Rennen zugute kam […]. Die Ausführung der Idee des Etappenrennens wurde also in dieser historischen Epoche der Nationalstaaten durch die patriotischen Empfindungen ihrer Bürger selbst erfördert.

(Rabenstein 2003, S.83)

Angesichts dieser nationalistischen Begeisterung in weiten Teilen der Gesellschaft, die auch und gerade im Sport eine Entsprechung fand, erscheint die eigenständige Entwicklung von Landesrundfahrten in weiteren europäischen Ländern zwangsläufig. Hierbei wurde nicht nur die Renndisziplin „Etappenrennen“ nachgeahmt, sondern zugleich die Idee eines internationalen Sportereignisses als nationale Prestigeveranstaltung aufgegriffen (Rabenstein 2003, S. 79).

Zunächst entstanden weitere Etappenrundfahrten in Form von regionalen Veranstaltungen, so die erste Sizilienrundfahrt 1907. Dieser folgte im Jahr darauf die „Tour de Belgique“ und im Jahr 1909 die erste Italienrundfahrt der „Giro d’Italia“. In Spanien fanden verschiedene regionale Rundfahrten statt, so u.a. die „Katalonienrundfahrt“ 1913, die „Baskenlandund Andalusien-Rundfahrt“ 1923 sowie die „Asturien-Rundfahrt“ 1924, bevor 1935 mit der „Vuelta á España“ auch Spanien eine internationale Landesrundfahrt initiierte. Relativ spät folgte 1930 eine erste Deutschlandrundfahrt. Zwar gab es schon ab 1911 Bemühungen, eine solche Veranstaltung auf den Weg zu bringen, allerdings fehlte es in Deutschland an einer gut ausgebauten Infrastruktur mit potentiellen Werbepartnern und Medienkooperationen, wie sie in Frankreich und Italien die Rundfahrt zum Erfolg führte (Gronen/Lemke 1987, S. 313). Insofern ist die deutsche Landesrundfahrtgeschichte durch eine fehlende Kontinuität gekennzeichnet, was sich anhand der häufigen zeitlichen Unterbrechungen zeigt. Erst seit dem Ende der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts findet eine Deutschlandrundfahrt mit internationaler Beteiligung in regelmäßiger Folge statt (siehe http://www.deutschland-tour.de/archiv/geschichte/ - Aktualisiert am 05.05.2006).

[...]

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Von der mediengenerierten Werbeveranstaltung zum sporthistorischen Großereignis
Untertitel
Eine wahrnehmungsorientierte Analyse der Tour de France unter publikumsintegrativen Aspekten im Spiegel der Berichterstattung
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Sportwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
87
Katalognummer
V115343
ISBN (eBook)
9783640163434
ISBN (Buch)
9783640164707
Dateigröße
2408 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist ein ausgezeichnetes Beispiel für anwendungsbezogene Forschung. Der Autor verfügt über hervorragende Kenntnisse in der Sache, die Fragestellung wird tiefgründig bearbeitet. Die Arbeit vermittelt einen umfassenden historischen Überblick, das Zusammenspiel von Berichterstattung und sportlicher Leistung wird sehr gut herausgearbeitet.
Schlagworte
Werbeveranstaltung, Großereignis
Arbeit zitieren
Andreas Lemke (Autor:in), 2006, Von der mediengenerierten Werbeveranstaltung zum sporthistorischen Großereignis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115343

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Von der mediengenerierten Werbeveranstaltung zum sporthistorischen Großereignis



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden