Leseprobe
I. Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Syntax und Einteilung der Kommunikationsverben
2.1 Syntaktische Untersuchung der eingesetzten Verben
2.2 Syntaktische Untersuchung der Sprecherinnen
2.3 Syntaktische Untersuchung der Adressatinnen
3. Kommunikationsverben und ihre Rolle in der Argumentation
3.1 DasArgumentationsschema nachToulmin
3.2 Untersuchung der Kommunikationsverbsätze in der Argumentation mithilfe des Toulmin-Schemas
3.2.1 Sätze mit Kommunikationsverb ohne Argumentcharakter 10
3.2.2 Die eigene Autorität als Argument 10
3.2.3 Die Autorität anderer als Argument 12
3.2.4 Dank als Verpflichtung als Argument
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
6.1 Analyse der Syntax der Kommunikationsverben in der Rede Angela Merkels
6.1.1 Daten zu den Kommunikationsverben
6.1.2 Daten zu den Sprecherinnen
6.1.3 Daten zu den Adressatinnen
6.1.4 Daten zum Thema/Gesprächsgegenstand
6.1.5 Daten zu weiteren Ergänzungen/Angaben
6.2 Analyse der Argumente in Sätzen mit Kommunikationsverben
6.3 Einzelanalysedaten
6.3.1 Syntaktische Einzelanalyse der Sätze mit Kommunikationsverben
6.3.2 Einzelanalyse der Argumentation der Sätze mit Kommunikationsverben
6.4 Fernsehansprache Angela Merkels vom 18.03.2020
II. Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
III. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 - Argumentationsschema nach Toulmin
Abbildung 2 - Toulmin-Argumentationsschema übertragen auf ein normatives Autoritätsargument nach Kienpointner
IV. Tabellenverzeichnis
Tabelle l -Kommunikationsverben, ihre Häufigkeit und Klassifikation nach Harras u. a. (2004) in Angela Merkels Fernsehansprache
Tabelle 2 - Verwendung der verschiedenen Kommunikationsverben in finiter und infiniter Form
Tabelle 3 - Sprecherinnen von Kommunikationsverben
Tabelle 4 - Syntaktische Realisierung der Sprecherinnen von Kommunikationsverben
Tabelle 5 - Syntaktische Realisierung verschiedener Adressatinnen der Kommunikationsverben
Tabelle 6 - Vorkommen der verschiedenen Kommunikationsverbparadigmen bei verschiedenen Adressatinnen
Tabelle 7 - Vorkommen der verschiedenen Kommunikationsverbparadigmen bei verschiedenen Sprecherinnen und deren Adressatinnen
Tabelle 8 - Realisierung des Themas bzw. des Gesprächsgegenstandes von Kommunikationsverben bei verschiedenen Kommunikationsverbparadigmen
Tabelle 9 - Realisierung weiterer Ergänzungen/Angaben zu Kommunikationsverben verschiedener Paradigmen
Tabelle 10 - Verschiedene Argumenttypen von Sätzen mit Kommunikationsverb
1. Einleitung
In einer Fernsehansprache hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März 2020 angesichts der SARS-CoV2-Pandemie und der von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen an die deutsche Bevölkerung gewandt. Darin äußerte sie den Anspruch, das Handeln der Regierung „möglichst gut [zu] begründen und [zu] kommunizieren" (Merkel 2020: 1) und appellierte an die Bevölkerung, die Situation ernst zu nehmen (vgl. ebd.). Die Rede wurde stark rezipiert, das Video erzielte auf dem YouTube-Kanal der Bundesregierung über 71.000 Views und wurde in sechs Sprachen sowie Gebärden übersetzt (YouTube-Kanal der Bundesregierung 2020, Stand 02.07.2021). Auch verschiedene Zeitungen hoben die Rede hervor. In der „Zeit Online" sprach Ferdinand Otto von einem „Novum" für Merkel (vgl. Otto in „Zeit Online" vom 18.03.20), in der Online-Ausgabe von „Der Westen" wurde der gesamte Redetext veröffentlicht und als „historisch" (anonym in „Der Westen" vom 18.03.20) und „beispiellos" (ebd.) bezeichnet.
In der Rede kommen immer wieder Wendungen vor, die mit Kommunikationsverben eingeleitet werden, so etwa folgende Satzanfänge: „Deswegen lassen Sie mich sagen: [...]" (Merkel 2020: 1) „Ich möchte Ihnen erklären, [...]" (ebd.: 5) oder „Deswegen bitte ich Sie: [...]" (ebd.). Dies ist insofern auffällig, da verba dicendi in der syntaktischen Einheit der Redeeinführung dazu dienten, die direkte oder indirekte Rede zu markieren (vgl. Michel 1966: 221). In der Rede scheinen diese jedoch auch eine andere Rolle zu spielen, schließlich ist in der Fernsehansprache von vornherein klar, dass es sich nicht um einen narrativen Text handelt und es die Bundeskanzlerin ist, die spricht.
In der vorliegenden Arbeit soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Kommunikationsverben und ihre Syntax in Angela Merkels Argumentation spielen. Dazu soll in einem ersten Schritt untersucht werden, welche Kommunikationsverben in der Rede eingesetzt werden, welche Leerstellen im Sinne der Valenzgrammatik geöffnet und durch welche verschiedenen Elemente sie geschlossen werden. In einem zweiten Schritt sollen diese Sätze in der Rede mithilfe des Toulmin-Modells analysiert werden. Dabei soll geklärt werden, inwiefern sie selbst einen Argumentcharakter aufweisen und welche argumentative und rhetorische Funktion die Konstruktionen erfüllen.
2. Syntax und Einteilung der Kommunikationsverben
Um die syntaktischen Anforderungen, die ein Kommunikationsverb1 an einen Satz stellt, zu beschreiben, bezieht sich Winkler (1988) auf die Valenzgrammatik. Diese gehe davon aus, dass Verben Leerstellen für Satzglieder eröffneten, die durch Ergänzungen gefüllt werden könnten (vgl. Pittner und Berman 2015: 43). Verben legten sowohl die Zahl (man spreche demnach von 1-, 2-, 3- oder 4-wertigen Verben) als auch die Art dieser fest (vgl. ebd.: 43 f.). Ergänzungen könnten dabei obligatorisch oder fakultativ sein und seien im Gegensatz zu fakultativen Angaben verbspezifisch (vgl. ebd.: 49). Ein sicheres Unterscheidungsmerkmal von Angaben und Ergänzungen gebe es nicht (vgl. ebd: 48 f.).
Unter verba dicendi (deutsch: Worte der Rede/des Sprechens) versteht Winkler Verben, die in der Regel dreistellig sind (vgl. Winkler 1988: 217). Dabei verwiesen sie durch zwei Objektkomponenten auf den Adressaten einer Äußerung, auf die durch das Verb referiert werde und auf diese Äußerung selbst (vgl. ebd.). Das dritte Argument sei ein externes in Form einer Nominalphrase (NP) im Nominativ, die den Sprecher der Äußerung bezeichne (vgl. ebd.). Die Realisierung der einzelnen Objekte erfolge unterschiedlich, in Form von Nominalphrasen, Präpositionalphrasen, eingebetteter Sätze oder als Infinitivkonstruktionen (vgl. ebd.: S. 218). Der Adressat werde dabei v. a. durch ein Dativobjekt oder, verbabhängig, durch ein Akkusativobjekt angegeben (vgl. ebd.: 219). Bei einigen verba dicendi sei die Realisierung des Adressaten auch durch ein Präpositionalobjekt möglich (vgl. ebd.). Der Verweis auf die Äußerung könne entweder den Inhalt des Gespräches oder auch nur den Gegenstand desselben wiedergeben; Winkler vergibt ersterem die Theta-Rolle „THEMA" und zweiterem die Theta-Rolle des „SUJETS" (vgl. ebd.: 220 f.). Der Gegenstand werde meist durch ein Präpositionalobjekt wiedergegeben oderauch durch einen Nebensatz (vgl. ebd.). Auch der Inhalt bzw. die Themenangabe könne „in Form von zusammenfassenden Nominalphrasen erfolgen oder aber ausführlicher mit Hilfe von Nebensätzen bzw. Infinitivkonstruktionen" (ebd.: 221). Winkler hebt hervor, dass es sich bei der Themenangabe oft um Nominalphrasen, insbesondere Akkusativobjekte, handle, die auch bei Objekteliminierungen meist stehenblieben (vgl. ebd.). Dies sei ein Hinweis darauf, dass „die Bezugnahme auf die sprachliche Äußerung die wahrscheinlich wichtigste Funktion von verba dicendi ist" (ebd.).
Eine umfassende Übersicht über die Kommunikationsverben sowie eine Charakterisierung und Einteilung nach verschiedenen Kriterien gibt das zweiteilige Handbuch deutscher Kommunikationsverben von Harras u. a. (2004). Kommunikationsverben werden hier im Vergleich zur Arbeit von Winkler (1988) stärker auf ihre Rolle in Sprechakten hin untersucht und die valenzgrammatische Einteilung von Winkler (1998) erweitert und ergänzt. So unterscheiden Harras u. a. vier Situationsrollen: Sprecher (S), Hörerschaft (H), Äußerungsprodukt mit Propositionalem Gehalt (Sa(P)) und die kommunikative Einstellung des Sprechers (E(S)) (vgl. Harras u. a. 2004: 9). Im Modell treten zudem verschiedene Situationstypen auf, derVerwendungs- und der Bezugssituationstyp (VS/BS) (vgl. ebd.).
Die semantische Einteilung der Kommunikationsverben wird von vor allem mithilfe der Sprechakttheorie vorgenommen (vgl. ebd.: 11). Diese beschreibt, wie durch bestimmte sprachliche Äußerungen „performativ" (Austin 1975: 6) Handlungen vollzogen würden (vgl. ebd.: 6 ff.). Harras u. a. (2004) orientieren sich bei ihrer Einordnung der Kommunikationsverben in sog. Paradigmen und Unterparadigmen an der Klassifikation von Sprechakten nach Vanderveken (1990). Demnach bilden in ihrer Darstellung Repräsentative, Direktive, Kommissive, Expressive und Deklarative die Paradigmen der Sprechaktverben (vgl. Harras u. a. 2004:16). Mit Repräsentativen werde auf Situationen Bezug genommen, in denen ein Sprecher einen Wahrheitsanspruch erhebe bzw. dem Hörer etwas zur Kenntnis gebe (vgl. ebd.: 35). Direktive seien Verben, mit denen der Sprecher zum Ausdruck bringe, dass der Hörer etwas tun bzw. unterlassen solle oder zum Ausdruck bringe, dass er nicht wolle, dass der Hörer etwas unterlasse (vgl. ebd.: 111). Zudem gehörten Verben zu den Direktiven, mit denen auf Situationen Bezug genommen werde, in denen durch den Sprecher Fragen gestellt würden (vgl. ebd.). Kommissive bezögen sich auf Situationen, in denen ein Sprecher zum Ausdruck bringen wolle, dass er etwas tun wolle (vgl. ebd.: 227). Expressive dienten dagegen Sprechern dazu, Bezug auf eine Situation zu nehmen in der eine Einschätzung oder Bewertung bzw. Freude, Ärger oder Leid ausgedrückt werde (vgl. ebd.: 265). Deklarative seien schließlich Verben, mit denen auf institutionell geregelte Akte Bezug genommen werde (vgl. ebd.: 341). Darüber hinaus werden weitere Paradigmen aufgeführt, die nicht zu den Sprechaktverben im eigentlichen Sinne gehörten, etwa die allgemeinen verba dicendi, mit denen sich auf Situationen bezogen werde, in denen jemand etwas sprachlich äußere (vgl. ebd.: 25) und Verben, die dem Bezug auf kommunikationseröffnende Akte dienten (vgl. ebd.: 502). Andere Paradigmen (vgl. ebd.: 9) kommen nicht in der vorliegenden Rede vor, auf sie wird daher an dieser Stelle nicht näher eingegangen.
Für die Untersuchung der Rede Angela Merkels wurden alle Verben mit dem Handbuch deutscher Kommunikationsverben von Harras u. a. (2004) abgeglichen; für die Untersuchung wurden nur die dort aufgeführten Verben herangezogen. In der vorliegenden Arbeit soll der Fokus auf der Syntax liegen, daher wurde in der Analyse mit dem weniger komplexen, syntaktischen Modell von Winkler (1998) gearbeitet. Alle Sätze, in denen Kommunikationsverben gefunden wurden, wurden daraufhin untersucht, wie jeweils 1. das Kommunikationsverb, 2. die Sprecherinnen, 3. die Adressatinnen und 4. das Thema/der Gesprächsgegenstand sowie 5. weitere Ergänzungen oder Angaben syntaktisch realisiert werden und in welchem Zusammenhang sie mit den Kommunikationsverben verschiedener Paradigmen stehen. Auf die Darstellung der Untersuchungen zu Thema/Gesprächsgegen- stand sowie weitere Ergänzungen und Angaben (vgl. im Anhang Tabelle 8, 9) wird in dieser Arbeit zugunsten einer breiteren Darstellung von Kommunikationsverben, Sprecherinnen und Adressatinnen verzichtet, die für die Analyse der Argumentation (vgl. Kapitel 0) relevanter sind.
2.1 Syntaktische Untersuchung der eingesetzten Verben
Alle Kommunikationsverben (finite und infinite Formen), die in Merkels Rede vorkommen und Prädikat ihres Matrixsatzes sind (insgesamt 22 Stück), sind im Infinitiv in Tabelle 1 im Anhang (Kapitel 6.1.1) aufgeführt. Sie wurden nach ihrem ersten Auftreten sortiert. Insgesamt kommen zwölf verschiedene Kommunikationsverben vor, von denen „sagen" (fünfmal) und „danken" bzw. „Dank aussprechen" (viermal) am häufigsten vorkommen.
In Tabelle 2 sind die Verben nach Paradigma sortiert. Am häufigsten kommen allgemeine verba dicendi sowie Repräsentative und Expressive mit 22,73 % vor, etwas weniger häufig Direktive (18,18 %). Die Expressive dienen in der Rede vor allen Dingen dazu, bestimmten Personengruppen Dank auszusprechen, etwa Arbeitnehmenden im Gesundheitswesen (vgl. Merkel 2020: 2) und in Supermärkten (vgl. ebd.: 4) sowie den Zuhörenden am Ende der Rede (vgl. ebd.: 6). Repräsentative („erläutern", „erklären", „vermitteln", ebd.: 1) werden vor allem am Anfang genutzt. Die Rede weist zudem durch die Kommunikationsverben einen stark appellativen Charakter auf. Zum einen wird mit den Direktiven ,,appelliere[n]" (ebd.: 5) „bitte[n]" (ebd.) die Bevölkerung zweimal direkt zu etwas aufgefordert. Zum anderen haben auch andere Äußerungen, die von allgemeinen verba dicendi eingeführt werden, einen appellativen Charakter, obwohl es sich nicht im eigentlichen Sinne um Direktive handelt. Dies wird z. B. in folgender Äußerung deutlich, in der sich Angela Merkel mit dem allgemeinen verbum dicendi „sagen" an Supermarktbesucher*innen richtet und eine Forderung anschließt:
„Jedem, der in den Supermärkten unterwegs ist, möchte ich sagen: Vorratshaltung ist sinnvoll, wares im Übrigen immer schon. Aber mit Maß; Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidarisch." (ebd.: 3)
Eine syntaktische Auffälligkeit ist, dass viele der Kommunikationsverben (9 von 22, vgl. Tabelle 2) im Infinitiv auftreten. Dabei handelt es sich um Konstruktionen mit Modalverben in finiter Form, wie etwa „Deswegen lassen Sie mich sagen [...]" (ebd.: 1) oder „Ich möchte Ihnen erklären [...]" (ebd.). In einigen Fällen ist diese Konstruktion nötig, damit sich der Satz mit Kommunikationsverb nicht künstlich anhört, wie oft nach dem allgemeinen verbum dicendi „sagen"; eine Konstruktion mit „Ich sage: [...]" klänge an vielen Stellen ungewohnt. Auf die Konsequenzen für die Rhetorik wird Kapitel 3 weiter eingegangen.
2.2 Syntaktische Untersuchung der Sprecherinnen
Für die Untersuchung der in der Rede auftretenden Sprecherinnen von Kommunikationsverben wurden diese zunächst für jeden Satz identifiziert (vgl. Tabelle 3). Im Anschluss wurde analysiert, welche syntaktischen Rolle die jeweiligen Sprecherinnen im Satz einnehmen (vgl. Tabelle 4).
Am häufigsten tritt Angela Merkel (in Form der Personalpronomen „ich" und „mich") selbst als Sprecherin auf (68,2 %). Es fällt auf, dass alle Sätze, in denen das Kommunikationsverb im Infinitiv gemeinsam mit einem Modalverb steht, Angela Merkel als Sprecherin aufwei- sen (vgl. Tabelle 4). Insgesamt dreimal (13,6 %) äußert sich Angela Merkel im Namen der gesamten Bundesregierung, zweimal gibt sie die Äußerungen von Expertinnen wieder, wobei diese nur in einem Fall direkt Sprecherinnen eines Kommunikationsverbs sind. Aufgrund von Passivkonstruktionen gibt es zudem an drei Stellen keine Sprecherinnen des Kommunikationsverbs (vgl. Tabelle 3). In Abweichung zu Winklers Modell zu den verba dicendi, sind die Sprecherinnen nicht immer als NP im Nominativ realisiert (vgl. Winkler 1988: 217). In drei Fällen, in denen Angela Merkel selbst Sprecherin eines Kommunikationsverbs ist, tritt sie als Akkusativobjekt auf; das Kommunikationsverb steht dort im Infinitiv und mit dem Modalverb „lassen" (vgl. Tabelle4). Im Satz „Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst." (Merkel 2020: 1) sind die Zuhörenden („Sie") das Subjekt, allerdings wird es deutlich, dass der Satz nach dem Doppelpunkt von Merkel selbst stammt, die als Akkusativobjekt auftritt („mich").
2.3 Syntaktische Untersuchung der Adressat*innen
In allen Sätzen mit Kommunikationsverb wurden die Adressat*innen identifiziert und die jeweilige syntaktische Funktion bestimmt (vgl. Tabelle 5). In 7 Sätzen wird kein Adressat des Kommunikationsverbs angegeben. Die Adressat*innen werden dabei meist als Dativobjekt (neunmal, 40,9 %), aber auch als Präpositional- (fünfmal, 22,7%) oder Akkusativobjekt (einmal, 4,5 %) realisiert. Am häufigsten wird sich an alle Zuhörenden bzw. alle Bürgerinnen gerichtet (neunmal, 40,9 %) gefolgt von Arbeitnehmenden im Gesundheitswesen und in weiteren wichtigen Berufen (je zweimal, 9 %). Im Satz „Ich weiß, wie schwer das ist, was da von uns verlangt wird." (Merkel 2020: 4) richtet sich das Kommunikationsverb nicht nur an alle Zuhörenden, sondern explizit auch an Merkel selbst, während es keine Sprecherinnen gibt, da das Verb im Passiv steht.
Zusätzlich wurde untersucht, welche Sprecherinnen sich an welche Adressatinnen wenden und welche Kommunikationsverbparadigmen dabei verwendet werden. Eine Übersicht darüber, auf welche Weise die verschiedenen Adressatinnen von den unterschiedlichen Sprecherinnen mithilfe von Kommunikationsverben angesprochen werden, findet sich in Tabelle 7. Angela Merkel richtet sich als Sprecherin vor allem an alle Zuhörenden bzw. Bürgerinnen (neunmal), dabei verwendet sie insbesondere allgemeine verba dicendi, Reprä sentative und zweimal auch Direktive. Zudem spricht sie in drei Fällen wichtige Berufsgruppen an, denen sie dankt, für diesen Sprechakt verwendet sie Expressive als Kommunikationsverben. Tritt die Bundesregierung in der Sprecherrolle auf (dreimal), so gibt es keine Angabe zu den Adressat*innen. Auch im Satz, in dem eine Position von Expertinnen wiedergegeben wird, werden keine Adressatinnen angegeben (vgl. Merkel 2020: 4).
Es ist zu beobachten, dass sich Direktive vor allem an alle Zuhörenden/Bürgerinnen richten (vgl. Tabelle 6) und zumeist von Angela Merkel ausgesprochen werden (vgl. Tabelle 7). Expressive dienen Angela Merkel meist dazu, ihren Dank auszudrücken und richten sich vor allem an besondere Gruppen von Arbeitnehmenden (vgl. Tabelle 7).
3. Kommunikationsverben und ihre Rolle in derArgumentation
In der Argumentationstheorie werden nach dem Modell von Wenzel (1980) drei Perspektiven auf die Argumentation unterschieden. Diese hätten vor allem eine Funktion in der Heuristik und dienten der analytischen Abgrenzung (Hannken-Illjes 2018: 28). Wenzel unterscheidet dabei zwischen Argumentation im Sinne eines Prozesses (rhetorische Perspektive), im Sinne einer Prozedur (dialektische Perspektive) und im Sinne eines Produktes (logische Perspektive) (vgl. Wenzel 1980: 124). Anhand der Beschreibung der ersten Perspektive wird deutlich, warum diese, bezogen auf die Rede Angela Merkels, von besonderer Bedeutung ist:
„We speak of argument in the process sense whenever we apply the name argument or arguing to the phenomena of one or more social actors addressing symbolic appeals to others in an effort to win adherence. "
Die Sprechenden träten in solchen Situationen in der „real world of social-political action" (Wenzel 1980: 124) auf und hätten das Ziel, die Überzeugung und das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen (vgl. ebd.). Die Argumentation als solche sei nach der rhetorischen Perspektive ein „process of persuasion" (ebd.) und das Ziel der Untersuchung der Rede müsse sein, den Prozess dieser Überzeugung zu verstehen (vgl. ebd.). Nicht nur trifft auf die Rede Angela Merkels die beschriebene Situation zu, (zweifellos befindet sie sich als Regierungschefin in einer Fernsehansprache in einer sehr spezifischen sozialen und politischen Position), die Kanzlerin formuliert überdies das Ziel der Persuasion auch selbst, und zwar mithilfe von Kommunikationsverben. Am Anfang ihrer Rede verweist sie darauf, warum sie sich an die Zuhörenden „wende" (Merkel 2020: 1), sie wolle die Entscheidungen der Bundesregierung erläutern und begründen (vgl. ebd.). Durch die Kommunikationsverben, gerade die Kommunikationseröffnung durch „wenden", wird hier Bezug auf den zu erwartenden Inhalt der Rede genommen; sie dienen in diesem Sinne der„Bezugnahme auf die sprachliche Äußerung" (Winkler 1988: 221). Deutlich wird zu Beginn der Rede zudem das Ziel der Persuasion und einer Verhaltensänderung bei den Bürgerinnen: „Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als IHRE Aufgabe begreifen." (Merkel 2020: 1).
Ziel der folgenden Analyse muss es angesichts dieser Rahmenbedingungen sein, vor allem die rhetorische Perspektive zu beleuchten. Die zentrale Frage soll dabei sein, welche Funktion Sätze mit Kommunikationsverb in der Rede haben und inwiefern sie einen Argumentcharakter aufweisen, der der Persuasion dient. Für diesen Zweck wurde zur Untersuchung der Sätze das Toulmin-Argumentationsschema gewählt, das eine rhetorische Perspektive einnehme und sich in den vergangenen Jahrzehnten als das zentrale Argumentmodell etabliert habe (vgl. Hannken-Illjes 2018: 28).
3.1 Das Argumentationsschema nach Toulmin
In „Der Gebrauch von Argumenten" geht Stephen Toulmin der Frage nach, auf welche Weise der Geltungsanspruch einer Aussage in einer Argumentation begründet werden könne und aus welchen Bestandteilen eine solche bestehe (vgl. Toulmin 1996: 88 ff.). Dazu stellt er ein Argumentationsschema (vgl. Abbildung 1 im Anhang) mit den Bestandteilen Daten (D), Konklusion (K), Schlussregel (SR), Modaloperatoren (O), Ausnahmebedingungen (AB) und die Stützung (S) auf (vgl. ebd.).
Unter der Konklusion versteht er dabei die Behauptung, die in der Argumentation unterstützt werden solle (vgl. ebd.: 89). Dafür würden Daten als Begründung angegeben, wobei eine Schlussregel als Brücke dazu diene, die Verbindung zwischen Daten und Konklusionen anzuzeigen und den Schritt von jenen zu diesen zu legitimieren (vgl. ebd.). Schlussregeln seien dabei in verschiedenem Maße zwingend; um dies anzudeuten sei es möglich Modaloperatoren wie „vermutlich" oder „notwendigerweise" zur Konklusion zu stellen, um graduelle Unterschiede zu markieren (vgl. ebd.: 93 f.). Um die Gültigkeit einer Schlussregel anzugeben, würden Stützen verwendet (vgl. ebd.), die „Gründe dafür [sind], eine Schlussregel als allgemein annehmbar zu betrachten" (ebd.: 97). Stützen für eine Schlussregel kämen aus den verschiedensten Bereichen, etwa der Ethik, Mathematik oder Psychologie und seien veränderlich sowie bereichsabhängig (vgl. ebd.: 94 f.). Ausnahmebedingungen dienten dazu, Fälle anzugeben, in denen der Schluss von D auf K mithilfe der Schlussregel nicht zulässig sei (vgl. ebd.: 92).
3.2 Untersuchung der Kommunikationsverbsätze in der Argumentation mithilfe des Toulmin-Schemas
In der Syntaxanalyse (Kapitel 2) konnte gezeigt werden, worin sich durch die Nutzung von Kommunikationsverben auch rhetorische Vorteile ergeben könnten. Zwar gibt es in vielen Sätzen der Rede Merkels keine Alternative zur Nutzung eines solchen; wenn etwa jemandem gedankt oder sich auf die Aussage von Expertinnen bezogen wird. Aber auch in Sätzen, in denen Angela Merkel es selbst ist, die sich äußert, werden immer wieder Inquit- Formeln verwendet. Betrachtet man einen solchen Satz, so wird durch die Valenzgrammatik deutlich, worin ein entscheidender Unterschied zu einer Formulierung ohne liegt: „Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten." (Merkel 2020: S. 2, Z. 148 ff.). Durch die Nennung des Kommunikationsverbs tritt Angela Merkel persönlich hervor und betont, dass sie es ist, die eine Sprechhandlung vollzieht. Sie macht zudem deutlich, um welchen Sprechakt genau es sich handelt und an wen sie sich damit wendet. Diese explizite Benennung von Sprechakt, Sprecherin und Adressat*innen wäre ohne das Kommunikationsverb ausgeblieben; darin liegt der eigentliche Mehrwert der Formulierung mit Kommunikationsverben.
Mithilfe des Toulmin-Modells wurden diese Eigenschaften der Kommunikationsverbsätze weiter untersucht. Vor allem die Stütze musste in den Argumenten häufig rekonstruiert werden, da sie häufig implizit angegeben werde (vgl. Toulmin 1996: 97). Dies tritt in einer Rede besonders häufig auf, da es in dieser nicht zu Anfechtungen einer Schlussregel kommen kann, die die Offenlegung einer Stütze erforderlich machen würde.
[...]
[I] In der vorliegenden Arbeit wird nach von Harras u. a. (2004) der Überbegriff „Kommunikationsverben" verwendet. Soll auf die Rolle in einem Sprechakt verwiesen werden, wird auch der Terminus „Sprechaktverben" genutzt. Bei abweichenden Bezeichnungen in verschiedenen Quellen (z. B. „verba dicendi"), wird die Bezeichnung der Autorinnen beibehalten.
- Arbeit zitieren
- Tobias Esser (Autor:in), 2021, Argumentative und syntaktische Rolle von Kommunikationsverben in einer Fernsehansprache Angela Merkels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1153981
Kostenlos Autor werden
Kommentare