Die Motivik und Stilistik der Nelly Sachs. Die Darstellung jüdischen Leidens und Sterbens im Gedichtzyklus "In den Wohnungen des Todes"


Hausarbeit, 2021

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Unbeschreibliche beschreiben, das Unsagbare sagen
2.1 Sensible Sprache
2.2 Der Diskurs: Was muss ein Gedicht nach Auschwitz leisten?

3. Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes
3.1 Auch der Greise
3.2 Ihr Zuschauenden

4. Schlussbetrachtung

5. Quellenverzeichnis

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Zeit nach 1945 bedeutete für viele Lyriker:innen eine Zeit des Widerspruchs und eine nie dagewesene Herausforderung: Die Darstellung der Shoah erscheint als schwierigste Aufgabe für Dichter:innen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, weshalb dieses Bestreben seit dem Aufkommen der sogenannten „Holocaustliteratur“ in der Forschung durchweg diskutiert wurde. Die Gründe dafür sollen im folgenden Kapitel erläutert werden. Hier soll auch zur Sprache kommen, welche Begrifflichkeiten in dieser Arbeit verwendet werden und warum. Die Nutzung sensibler Sprache und das Wissen über die Gründe für oder wider die Verwendung bestimmter Termini ist das erste, womit sich beschäftigt werden sollte, wenn ein so sensibles Thema untersucht werden soll. Im Folgenden soll ein kurzer Blick auf das sogenannte „Adorno-Diktum“ geworfen werden, welches seit der unmittelbaren Nachkriegszeit die Diskussion darüber, ob und wie Gedichte über die Verbrechen der Nationalsozialist:innen in der Shoah verfasst werden können, mit getragen hat.

Darauf aufbauend ist die Frage danach zu beantworten, wie die Dichterin Nelly Sachs mittels ihrer Lyrik versucht hat, der korrekten Darstellung der Shoah so gerecht wie möglich zu werden. Hier soll vor allem untersucht werden, welcher Motivik und Stilistik sie sich bediente, um ihre Gedichte noch eindrucksvoller und kräftiger zu gestalten. Zu diesem Zweck sollen zwei Gedichte analysiert werden, zu denen bislang keine Einzelinterpretationen in der Forschung vorliegen. Diese beiden Gedichte entstammen dem Gedichtband In den Wohnungen des Todes von 1947 und tragen die Titel Auch der Greise und Ihr Zuschauenden. Auch dem Gedichtband In den Wohnungen des Todes ist ein Kapitel gewidmet, welches diesen Gedicht-Raum näher spezifizieren soll.

Da diese beiden Gedichte sich nicht ausschließlich mit der Darstellung der Shoah befassen, sondern mittels der verwendeten Motivik auch aufzeigen, welche Vorstellungen vom Tod und von Gott Nelly Sachs‘ innewohnten, und wie es ihre größte Sehnsucht gewesen zu sein schien, die Opfer der Shoah in den Händen Gottes zu wissen, muss auch dieser Aspekt in der Arbeit beleuchtet werden. Aus diesem Grund trägt die Arbeit den Titel: Die Darstellung des jüdischen Leidens und Sterbens, da Nelly Sachs dies in ihren Gedichten stets miteinander verknüpfte und ihre Auffassungen davon über den Tod hinaus führten. All dies lässt sich anhand der beiden Gedichte untersuchen.

2. Das Unbeschreibliche beschreiben, das Unsagbare sagen

2.1 Sensible Sprache

Bevor zur Sprache kommen kann, wie die gerechte Darstellung der Shoah Lyriker:innen gelingen kann, müssen wenige grundsätzliche Begriffe erläutert werden, da auch eine sensible Sprache Teil daran trägt, wie das Unbeschreibliche beschrieben und das Unsagbare gesagt werden kann. In dieser Arbeit wird ausschließlich von der Shoah gesprochen, der Begriff Holocaust soll weitestgehend vermieden werden. Der Begriff Shoah lässt sich auf den biblischen Begriff für Katastrophe und Unheil zurückführen, der die Zerstörung Israels und Unterwerfung Babylons mit einbezieht. Somit beschreibt Shoah den Genozid an den Juden und Jüdinnen als Bestandteil der jüdischen Historie und wird deswegen von den meisten wissenschaftlichen Diskursteilnehmer:innen gebraucht. Der Begriff Holocaust knüpft hingegen speziell christliche Verbindungen und wird wegen seiner Urbedeutung als religiöser Opferkult und der damit einhergehenden (christlichen) Auffassung eines jüdischen Martyriums vermieden. (vgl. Kranz-Löber 2001, S. 11–12)

Eine andere Option zur Beschreibung des Genozids am jüdischen Volk fand Adorno bereits 1949: Die Bezeichnung (nach) Auschwitz bildet auch einen Teil des nächsten Kapitels ab und soll an dieser Stelle kurz erläutert werden. (Nach) Auschwitz kann demnach als einzige deutsche Bezeichnung gesehen werden, die bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges existierte. Die anderen zu der Zeit bereits bestehenden deutschen Begrifflichkeiten lassen sich allesamt auf die „Lingua(m) Tertii Imperii“ zurückführen, und sind demnach nicht nur aus dem Grund, dass sie allesamt Euphemismen darstellen (vgl. Johann 2018, 21, 24), unter keinen Umständen mehr zu gebrauchen. Adorno hingegen gelang es früh eine Bezeichnung zu etablieren, die keine beschönigende oder realitätsverzerrende Bedeutung suggeriert, sondern pars pro toto für das gesamte Leid steht, das Juden und Jüdinnen in der Zeit des Nationalsozialismus durchstehen mussten. (vgl. Johann 2018, S. 26–27) Doch auch die Wendung nach Auschwitz kann den heutigen Ansprüchen nach sensibler und korrekter Sprache nicht mehr gänzlich gerecht werden. Wo die Bezeichnung doch recht anschaulich scheint, gehen im Sprachusus Bedeutungen unbewusst verloren, da die konkretisierte Beschreibung nach Auschwitz die Vielschichtigkeit der industriellen Vernichtung begrenzt. (vgl. Johann 2018, S. 27–29) Kranz-Löber beschreibt allerdings auch, dass kein Begriff absolut frei von (negativen) Beiklängen oder Unklarheiten sei, denn selbst der Begriff Shoah wird nicht von allen Menschen jüdischen Glaubens angenommen. Zudem wird die Bezeichnung in der Bibel oftmals mit einer Bestrafung durch Gott oder einer von Gott gebrachten Katastrophe in Zusammenhang gebracht. (vgl. Kranz-Löber 2001, S. 12)

Nun stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, in Form von Lyrik die Ausmaße der Shoah darzustellen, wenn bereits die ungenauen Definitionen der Begrifflichkeiten das Gegenteil vermuten lassen. Wenn die sprachlichen Mittel nicht gegeben sind, den Schrecken prägnant und zugänglich zu fassen, wie kann es dann möglich sein, ihn in lyrischer und demnach ästhetischer Form darzustellen, ohne zu beschönigen und auszusparen?

2.2 Der Diskurs: Was muss ein Gedicht nach Auschwitz leisten?

Bereits 1949 und damit nach dem Erscheinen des später zu besprechenden Gedichtbandes von Nelly Sachs urteilte Theodor W. Adorno wie folgt über den literarischen Umgang der Shoah:

Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. (Adorno 1977, S. 30)

Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, dass Diktum Adornos in seinen Einzelheiten zu analysieren und kritisieren – das haben schon viele andere getan. Vielmehr muss die Diskussion aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: Es stellt sich hier doch eher die Frage, wie zielführend der Diskurs darüber ist, was ein Gedicht nach Auschwitz leisten muss, wie die Darstellung der Shoah sprachlich gelingen und vor allem misslingen kann. Dass sich Autor:innen hier einem Paradoxon ausgesetzt sahen, erscheint doch sehr logisch. Albert führt an, dass Schriftsteller:innen, die die Shoah in ihrer Kunst auszuklammern versuchten, sich den Vorwürfen der Ignoranz stellen mussten, diejenigen die versuchten, den Schrecken zu fassen, gelang es nicht, da sie das Leid in eine künstliche Form zu fassen versuchten und somit der Realität Abbruch taten. (vgl. Albert 2015, S. 41–42) Bahr stellt hierzu die Frage: „Wie weit ist Literatur fähig, die Ereignisse des Genozids mit den herkömmlichen Ausdrucksmitteln zu erfassen und darzustellen […]?“ (Bahr 1994, S. 5) Es geht schließlich in der sogenannten „Holocaust-Literatur“ und somit auch der Lyrik der Nelly Sachs darum, wie das Unsagbare gesagt und das Unbeschreibliche beschrieben werden kann. Dabei muss beachtet werden, dass das Verfassen von Gedichten über die Shoah bedacht angegangen werden muss, um die Gräueltaten nicht zu verfälschen und dem Leid der Opfer gerecht zu werden. Das Grauen der Shoah übertrifft die gewöhnliche Vorstellungskraft des Menschen, dieser sind also Grenzen gesetzt. Es ergibt sich also zwar eine „Grenze der Darstellung“, die passive Hinnahme dessen erscheine Bahr trotzdem nicht legitim, da dies eine Kapitulation vor der Geschichte und der Unmenschlichkeit des Bösen bedeute. Es ergäbe sich demzufolge ein Dilemma: Die Grenzen der Darstellung dürften nicht verkannt oder aber passiv hingenommen werden, könnten aber auch nicht ohne die Gefahr des Scheiterns überwunden werden. Bezogen auf Nelly Sachs würde sich somit ergeben, dass der Knotenpunkt ihres Schaffens und ihres Werkes ein Paradoxon zwischen der detailgetreuen und realistischen Darstellung der Shoah auf der einen und der Begrenztheit der sprachlichen und künstlerischen Mittel dies zu leisten auf der anderen Seite bildet. (vgl. Bahr 1994, S. 3–5)

Demnach ist festzuhalten: Es werden sich wohl kaum allgemeingültige Richtlinien oder Vorschriften dazu finden, wie die Autor:innenschaft der Nachkriegszeit den Schrecken der Shoah in der Lyrik festhalten durfte oder musste. Vielmehr geht es doch darum, den Betroffenen zuzuhören, sich ihrer Lyrik hinzugeben und dafür zu sorgen, dass die Erinnerung weiterlebt und sich der Schrecken niemals wiederholen wird.

Obgleich Nelly Sachs als die „große Dichterin jüdischen Schicksals“ (Holmqvist 1968, S. 43) bezeichnet wird, schreibt Fritsch-Vivié, dass es eben auch einer Nelly Sachs nicht gelänge, das Grauen des Nationalsozialismus mit Sprache auszudrücken. Dennoch habe sie Adorno bereits vor Erscheinen seines Diktums widersprochen, da sie mit ihren Gedichten dafür gesorgt habe, dass das Leid der Opfer der Shoah niemals verloren ginge. (vgl. Fritsch-Vivié 2010, S. 91–92)

3. Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes

Der Gedichtzyklus In den Wohnungen des Todes ist in vier Abschnitte untergegliedert. Im folgenden Kapitel soll der erste von ihnen, Dein Leib im Rauch durch die Luft, betrachtet werden, da sich dieser auf die Darstellung des jüdischen Leidens und Sterbens konzentriert. Der Abschnitt Dein Leib im Rauch durch die Luft enthält 13 Gedichte, von denen im Folgenden zwei hinsichtlich ihrer Motivik und Stilistik analysiert werden sollen. Ziel dieses Teils der Proseminararbeit ist es, ein Muster zu erkennen und Ähnlichkeiten aufzuzeigen, um so den Stil Nelly Sachs‘ in diesem Teil des Zyklus In den Wohnungen des Todes benennen zu können. Vor allem aber soll herausgearbeitet werden, wie Nelly Sachs den Holocaust lyrisch darstellt und ob anhand ihrer Darstellung eine Antwort auf die im zweiten Kapitel gestellte Frage „Wie sagt man das Unsagbare?“ gegeben werden kann.

Bahr beschreibt, dass Nelly Sachs mit dem Verfassen des Bandes In den Wohnungen des Todes unbekanntes, lyrisches Terrain beträte, da sie hier auf Metaphern weitestgehend verzichte oder sie nur ausgewählt gebrauche. Die Metaphern, die sie jedoch anwandte, bezögen sich allesamt auf den Tod, der das Zentrum des Gedichtzyklus bilde. Im ersten Gedicht des Abschnitts Dein Leib im Rauch durch die Luft, das den Namen O die Schornsteine trägt, finden sich keine Metaphern, um etwaige Missverständnisse direkt im Keim zu ersticken. (vgl. Bahr 1994, S. 6–7) Der Titel ist demnach wörtlich zu verstehen, da er sich direkt auf die Konzentrationslager und deren Verbrennungsöfen bezieht, denen eine allgegenwärtige Präsenz des Todes innewohnt. (vgl. Holmqvist 1968, S. 40) Es soll also klar ausgedrückt werden: Dieser Gedichtband befasst sich mit dem Tod, und zwar mit dem ausweichlichen, unnatürlich herbeigeführten und grausamen Tod und er soll so erfahrbar, echt und schmerzhaft dargestellt werden, wie die Sprache es nur zulassen kann.

Trotz aller Konkretisierung und Wirklichkeitstreue finden sich bei Nelly Sachs vor allem auch Elemente der Mystik, die entscheidend für ihre Stilistik sind und deswegen nicht unerwähnt bleiben dürfen. Holqvist beschreibt hier sogar, dass der Ausgangspunkt des Schaffens der Nelly Sachs sich aus folgendem Dilemma ergäbe: Die Inkompatibilität des mit dem Leben in Eintracht stehenden Todes der Mystik und dem falschen und unnatürlichen Tod der industriellen Vernichtung im Dritten Reich. (vgl. Holmqvist 1968, S. 41) Auch Beda Allemann gibt Hinweise auf diesen eigentlich sehr konkreten Gedicht-Raum, der die mystischen und kosmischen Vorstellungen von Nelly Sachs an die Wohnungen des Todes bindet. (vgl. Allemann 1968, S. 293)

3.1 Auch der Greise

Das Gedicht Auch der Greise bildet das fünfte Gedicht des Abschnitts Dein Leib im Rauch durch die Luft (vgl. Sachs 1947, S. 17)1. Im Folgenden soll dieses Gedicht hinsichtlich seiner formalen Auffälligkeiten, sowie inhaltlicher Aspekte und sprachlicher Mittel untersucht werden. Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass zu diesem Gedicht bisher keine Einzelinterpretation vorliegt, auf die sich berufen werden könnte. Demzufolge wird dieses Kapitel eine eigene Interpretation des Gedichtes darstellen, die mit der Forschungsliteratur hinsichtlich der Untersuchung Nelly Sachs‘ gängiger Motivik gestützt wird.

Auch der Greise bildet den Titel eines eigentlich unbenannten Gedichts. In der Forschung wird aus Gründen der Zweckmäßigkeit somit dieser erste Vers des Gedichts als Titel eingesetzt. Hierbei handelt es sich um den Teil eines Satzes, der sich in Enjambements über die ersten drei Verse zieht. Bevor der Inhalt dieses Satzes beleuchtet wird, sollen jedoch der formale Aufbau des Gedichts betrachtet werden.

[...]


1 Alle folgenden Zitate aus diesem Gedicht werden vermittels der entsprechenden Verszahl nachgewiesen.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Motivik und Stilistik der Nelly Sachs. Die Darstellung jüdischen Leidens und Sterbens im Gedichtzyklus "In den Wohnungen des Todes"
Hochschule
Universität Trier  (Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
19
Katalognummer
V1154011
ISBN (eBook)
9783346546319
ISBN (Buch)
9783346546326
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nelly Sachs, Nachkriegslyrik, Exillyrik, Shoah, Mystik, Wohnungen des Todes
Arbeit zitieren
Fiona Karl (Autor:in), 2021, Die Motivik und Stilistik der Nelly Sachs. Die Darstellung jüdischen Leidens und Sterbens im Gedichtzyklus "In den Wohnungen des Todes", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1154011

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