Der Einfluss der türkischen Politik auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen und die Rolle der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2019

54 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Forschungsinteresse und Vorgehen

1. Begriffsdefinitionen
1.1 Lebenssituation/Lebenswelt
1.2 Jugendliche
1.3 Migrationshintergrund

2. Entwicklung der türkischen Politik
Politik von Mustafa Kemal Atatürk
Instabilitätsphasen der Türkei
Die Militärputsche von 1960 bis 1997 und ihre Einflussnahme auf die türkische Politik
Politik von Recep Tayyip Erdogan
Chancen und Risiken der Politik Erdogans
Das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU

3. Empirische Analyse: Einfluss der türkischen Politik auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen
3.1 Forschungsfrage
3.2 Methodisches Vorgehen: Leitfadengestütztes ExpertInneninterview
3.3 Der Interviewleitfaden
3.4 Durchführung der Interviews
3.5 Vorgehensweise
3.6 Sample
3.7 Auswertungsmethode Inhaltsanalyse

4. Darstellung der Untersuchungsergebnisse

5. Interpretation und Diskussion der Ergebnisse

6. Die Rolle der Sozialen Arbeit
6.1 Welche Problemlagen haben sich für die Soziale Arbeit gebildet?
6.2 Auftrag der Sozialen Arbeit nach Staub-Bernasconi
6.3 Interventionsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit für die entstandenen Problemlagen der türkischen Jugendlichen
6.3.1 Empowerment
6.3.2 Öffentlichkeitsarbeit
6.3.3 Präventive Maßnahmen an Schulen

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Anmerkung der Redaktion: Die CD mit weiterführenden Anhängen ist leider nicht enthalten.

Forschungsinteresse und Vorgehen

Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem Einfluss der türkischen Politik und dessen Einfluss auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen. Zudem werde ich die Frage beantworten, welche Rolle die Soziale Arbeit in dieser Situation einnimmt.

Somit liegt die Aufgabe meiner Arbeit zum einen in der Beschäftigung mit dem politischen Einfluss und dessen Auswirkung auf die Rolle der Sozialen Arbeit.

Mein Forschungsinteresse ist dem Umstand zu verdanken, dass ich ebenfalls einen türkischen Migrationshintergrund habe. Ich selbst bin in Deutschland geboren und hier aufgewachsen. Meine Eltern sind in der Türkei geboren und dort aufgewachsen und mit der Anwerbung von GastarbeiterInnen nach Deutschland eingereist. Während meiner Rolle als Individuum innerhalb der deutschen Gesellschaft ist mir in den letzten Jahren aufgefallen, dass Politik aus dem Heimatland einen Einfluss auf die Lebenssituation im Land, in welchem man aufgewachsen ist, nehmen kann. In meinem Umfeld habe ich einen Einblick in die unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen, sei es durch Familienmitglieder oder Bekanntschaften, bekommen können. Aufgrund dessen habe ich mich dazu entschieden, mich in meiner Bachelorarbeit mit diesem Thema zu beschäftigen, um Erfahrungen und Meinungen mit einer betriebenen Forschung zu begründen.

Da ich mich bei der empirischen Forschung auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen beschränke, werde ich damit beginnen, zu Beginn wichtige Begrifflichkeiten zu definieren, sowie einen kleinen Überblick über die Einflussnahme der Politik geben.

Im darauffolgenden Kapitel wird die Entwicklung der türkischen Politik dargestellt. Hierbei habe ich meinen Fokus auf die Anfänge der türkischen Politik gelegt und im Anschluss darauf wird eine Verbindung zu der deutschen Politik hergestellt.

Das nächste Kapitel bezieht sich auf die empirische Analyse. Als Methode verwende ich das „Interview“. Anhand der empirischen Analyse will ich herausfinden, wie der Einfluss der türkischen Politik auf die jeweils zu befragende Person ist. So habe ich die Möglichkeit anhand einer Person, welche in dem zu forschenden Bereich ein „Experte“ ist, Informationen, Erfahrungen und Meinungen einzuholen. Mit diesen Informationen werde ich dann im Schlussteil meiner Bachelorarbeit eine Verbindung zu der Rolle der Sozialen Arbeit herstellen. Dabei werde ich auf die Frage eingehen, ob und welche neue(n) Problemlage(n) sich entwickelt haben und mit welchen Angeboten oder Methoden die Soziale Arbeit dem entgegenwirken kann.

1. Begriffsdefinitionen

1.1 Lebenssituation/Lebenswelt

Nimmt man den Alltag in den Blick, so kann man herausfinden, ob das Leben einer Person „gelingt“ oder nicht. Es stellt sich ebenfalls die Frage, ob die Verhältnisse, welche im alltäglichen Leben bestehen, gerecht sind. Dies ist ein Merkmal der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit.

Nach Thiersch bezieht sich der Begriff Lebenswelt auf die vorhandenen Sozialräume, in welcher sich eine Person befindet. Dazu zählen auch regionale, lokale und soziale Netze sowie herrschende Zusammengehörigkeit, Spannungen und Konflikte.

Darunter versteht man auch die Selbstverständlichkeit, Routine, Tradition und Interpretation, in denen Verhältnisse einer Person gesehen werden. Das heißt, dass sich aufgrund er Lebenswelt Handlungsmuster in Bezug auf Probleme und allgemeine Techniken entwickelt haben, um in der eigenen Lebenswelt bestehen zu können. Im Alltag von Personen gibt es „unausgesprochene“ Regeln, die einem die Lebenswelt in ihrer Komplexität vereinfachen, nicht weil sie erforscht sind, sondern weil diese vielmehr eine Selbstverständlichkeit mit sich einher bringen.Und solche Handlungsmuster, welche von Personen nicht hinterfragt sind, sind ebenfalls ein Merkmal für die Lebenswelt nach Thiersch (vgl. Thiersch 1986, s.25ff.).

Da Lebenswelten sehr individuell sind, ist es wichtig, dass sie respektiert werden. Es ist ein Teil der Gesellschaft, Rücksicht auf die verschiedenen Lebenswelten zu nehmen, da die Lebenswelten nicht nur auf das Individuum selbst bezogen sind, sondern auch mit äußerlichen Faktoren „verändert“ werden kann. Daraus resultieren folglich Konflikte, in denen sich die Soziale Arbeit arrangieren muss.

Auf die Theorie der Lebensweltorientierung nach Thiersch werde ich im späteren Verlauf der Arbeit einen Bezug nehmen. Diese wird ein fester Bestandteil meiner Forschung, da sich die Forschungsfrage auf die Lebenssituation, im engeren Sinne auf die Lebenswelt der Jugendlichen bezieht.

1.2 Jugendliche

Jugend als Begriff wird als entwicklungspsychologisches, biologisches und als soziokulturelle begründbare Lebensphase beschrieben (vgl. Ferchhoff 1999, s.67 f.).

Diese Lebensphase hat keinen bestimmbaren Anfang oder ein bestimmbares Ende, welches für alle Jugendlichen identisch sein kann. Die Länge in dieser Phase wird durch verschiedene Kriterien bestimmt. Als Beginn kennzeichnen könnte man aus dem entwicklungspsychologischen oder biologischen Blickwinkel betrachten, zum Beispiel dann, wenn die Pubertät beginnt (vgl. Friedl 2001, s.11 f.).

Ökonomisch betrachtet ist die Verselbstständigung ein Merkmal, welches herangezogen wird. Zu dieser Verselbstständigung zählt zum einen der Eintritt in das Erwerbsleben. Man hat dann ein Alter erreicht, in welchem man einen eigenen Haushalt führen und gegebenenfalls eine Familie gründen kann (vgl. Ferchhoff 1999, s.68).

Ich könnte mich in meiner Arbeit auf eine juristischen Definition stützen, in welcher eine genaue Altersangabe beinhaltet ist, jedoch verzichte ich darauf und fokussiere mich auf meiner Arbeit an Jugendlichen, die wie oben beschrieben schon in der Pubertät sind oder diese durchlaufen und ökonomisch betrachtet in das Erwerbsleben einsteigen können.

1.3 Migrationshintergrund

"Eine Person hat dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist." (Statistisches Bundesamt 2017).

Diese Definition umfasst zugewanderte, als auch nicht zugewanderte Ausländer, Eingebürgerte, (Spät-)Aussiedler und Personen, die als Nachkommen mit einer deutschen Staatsangehörigkeit geboren wurden (Statistisches Bundesamt 2017).

Auf welche Personengruppe ich mich fokussieren werde, werde ich bei der empirischen Forschung unter dem Punkt „Sample“ näher erläutern.

2. Entwicklung der türkischen Politik

Politik von Mustafa Kemal Atatürk

Aufgrund des gewonnenen türkischen Befreiungskrieges von Mustafa Kemal (ehrenhalber den Nachnamen und Titel Atatürk verliehen), wurde am 29. Oktober 1923 die Republik Türkei begründet. Mustafa Kemal war davon überzeugt, dass die Türkei einer raschen Säkularisierung und Modernisierung bedarf, da diese seiner Ansicht nach die optimale Verwandlung der türkischen Republik war. Im osmanischen Reich waren solche Strömungen schon vorhanden, welche sich an das westliche Ideal und deren Werte annäherten und sich für Säkularismus beriefen, jedoch wurden diese Strömungen nicht weitestgehend verfolgt und berufen (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.409). Dies hatte zur Folge, dass zwischen 1923-1938 unter der Präsidentschaft Atatürks und zwischen 1938-1950 unter seinem Amtsnachfolgers İsmet İnönü die ‚Verwestlichung‘ und die autoritäre Einparteienherrschaft eingeführt worden und ausgelegt worden ist (vgl. DALMIŞ 2014, s.7). Daraufhin entwickelte sich der Kemalismus in der Türkei als führende Staatsideologie. Die Grundprinzipien des Kemalismus sind zum einen der Republikanismus als Staatsform, der Nationalismus, Populismus, Revolutionismus, Etatismus und der Laizismus. Das bedeutet zusammengefasst, dass die türkischen BürgerInnen und die Politik daran bestrebt waren, einen Staat zu bilden, welcher das Ziel hatte, diesen Staat mit gemeinsamen Kräften ‚aufzubauen‘, eine fortlaufende Modernisierung einzuführen und die Trennung von Staat und Religion herbeizuführen (vgl. Republik Türkei, Art. 2). Der Laizismus in der Türkei sieht jedoch keine ganze Trennung von Staat und Religion vor. Es wurde dafür ein staatliches Präsidium für Religionsangelegenheiten, kurz DİB, eingeführt, damit der Staat mehr Kontrolle über religiöse Angelegenheiten erreichen konnte. Die Einführung des staatlichen Präsidiums für Religionsangelegenheiten hatte nach der Gründung am 3. März 1924 die Aufgabe, BürgerInnen mit Bezug auf die hanefitisch-sunnitische Lehre des Islams, aufzuklären. Dies führte in der Türkei zu einer staatlichen Kontrolle der Religionsausübung und ebenfalls zum Verbot von religiösen Parteien (vgl. Warning 2012f, s.185). Aufgrund dieser Kontrolle durch den Staat kam es zu Spannungen, da die BürgerInnen der Türkei, beziehungsweise große Gruppen, der muslimischen, unorthodoxen und Alevitischen, als auch nichtmuslimischer Gruppen, angehörten. Ein Gedanke der Kemalisten war es, dass sich Bürgerinnen, welche „[…] gut ausgebildet[…], im westlichen Sinn[e] erzogen […] früher oder später aus freien Stücken von der Religion [sich] abwenden oder sie in einer [anderen] aufgeklärte[ren] Form praktizieren würden.“ (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.415). Durch den propagierten Säkularismus der kemalistischen Partei CHP wurden Unruhen und Spannungen innerhalb der türkischen Gesellschaft hervorgerufen, da auch Schulen, Universitäten und staatliche Organisationen in diesen Säkularismus mit einbezogen worden sind. Dies führte dazu, dass die Religion in der Türkei einen noch größeren Stellenwert bekam und noch sichtbarer wurde durch die BürgerInnen (vgl. Uluc 2015, s.50). Demnach kann man sagen, dass ein Grundproblem der Entwicklung der türkischen Gesellschaft die aufgezwungene Modernisierungspolitik war, welche von der Elite der Türkei aufgezwungen worden ist.

Kommen wir nun zu einem weiteren Thema, welches bis heute eine hitzige Diskussion innerhalb, als auch außerhalb der türkischen Republik, auslöst. Es handelt sich um die kurdische Bevölkerung, die in der Türkei lebt. Diese wurden anhand der kemalistischen Auffassung als „Bergtürken“ diffamiert, die kurdische Sprache wurde verboten und die Entwicklung, Geschichte und Kultur wurde aus der Öffentlichkeit verbannt. Im Sinne der Identität galten alle Bewohner der Türkei als Türken (Jung 2012, s.111). Jedoch sahen sich die Kurden immer als ein eigenständiges Volk, welche dafür gekämpft haben, als auch immer noch dafür kämpfen müssen, um als ein eigenes selbstbestimmtes Volk anerkannt zu werden. Es gibt natürlich Gruppen, die integriert verstreut in der Türkei, meist im Osten und Südosten, leben (vgl. CIA 2015).

Obwohl die Einparteienherrschaft in der Türkei als wenig demokratisch anzusehen war, wurden Grundprinzipien wie freie, als auch geheime Wahlen, in einem gewissen Rahmen gewahrt. Frauen wurde 1930 das aktive, einige Jahre danach das passive Wahlrecht gewährt (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.414). Nachdem Mustafa Kemal Atatürk gestorben ist, betrat der Amtsnachfolger İnönü seine Präsidentschaft. Jedoch kamen schnell Unruhen auf, da er seine diktatorische Macht dafür nutzte, um die autoritäre Regierung zu erhalten. Die Folgen seiner Regierung waren die, dass Kritiker inhaftiert wurden, Zeitungen nicht mehr veröffentlicht werden durften und jüdische und christliche Bevölkerungen Zusatzsteuern zahlen mussten. Durch manipulierte Wahlen im Jahr 1946 gewann İnönü die Wahlen und erst im Jahr 1950 kam es durch freie Wahlen zu einem Mehrparteiensystem (vgl. Danforth 2015).

Die Wahlen im Jahre 1950 gewann die DP, welche von CHP-Politikern gegründet worden war. In diesem Jahr brach allmählig der strenge Laizismus und die Einparteienherrschaft und es wurden Konzessionen an religiöse Gruppen erteilt, sodass diese auf behördlicher und staatlicher Ebene eine Genehmigung zur Ausübung diverser Tätigkeiten hatten (vgl. Steinbach 2012, s.62). Die DP begann damit, kemalistische Regierungszüge, wie die ‚Religionsfeindlichkeit‘ als nichtig und nicht gegenwärtig zu erklären, sodass die Phase der Re-Islamisierung eintrat (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.464). Mit der Nichtigkeit des Einparteiensystems kam es in der Türkei dazu, dass aus politischer Ebene, linksorientierte, als auch rechtsorientierte Parteien und Traditionen entstanden. Die Politik der DP wurde in den folgenden Jahren autoritärer und mangelhafter, sodass viele Wählerstimmen verloren gingen. Aufgrund der steigenden Kritik an der Politik der DP veranlasste die Regierung Zeitungsverbote, Gefängnisstrafen ohne Gerichtsurteile und Pressezensuren. Diese prägenden Ereignisse der türkischen Politik führten so zum ersten Militärputsch in der Türkei (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.409).

Instabilitätsphasen der Türkei

Einschneidende Ereignisse der türkischen Politik waren die Putschversuche. Diese haben in der Entwicklung der türkischen Politik prägende Einflüsse hinterlassen. Der erste Putschversuch war im Jahre 1960 und die damit im Jahre 1961 beschlossene Verfassung haben zu der rechtsstaatlichen Entwicklung in der Türkei beigetragen. Aufgrund dieser Verfassung wurden in der Türkei Institutionen gegründet, wie zum einen der Nationale Sicherheitsrat (Millî Güvenlik Kurulu ), der Rat der Richter und Staatsanwälte (Hâkimler ve Savcılar Kurulu), das Verfassungsgericht (Türkiye Cumhuriyeti Anayasa Mahkemesi ) (vgl. Kreiser/Neumann 2006, ss.429) und ebenfalls ein Gremiun für die obersten Ränge der Marine und der Luftwaffe und eine Gendarmerie mit dem jeweiligen Generalstabschef als leitende Macht (vgl. Warning 2012, s.105). Zudem wurde ein Grundrechtsschutz mit der Einführung der Verfassung gewährt. Dieser Grundrechtsschutz hatte zur Aufgabe, dass die Justiz Unabhängig ist, dass Gewerkschaften Streiken durften, und ein Zweitkammerparlament eingeführt worden ist und dem Staatspräsidenten eine repräsentative Rolle zugesprochen wird (vgl. Rumpfs 2012, s.121).

Die Militärputsche von 1960 bis 1997 und ihre Einflussnahme auf die türkische Politik

Aufgrund des starken militären Einflusses waren die Parteien in der Türkei von Korruption, nicht existierender Kooperation und Klientelpolitik beherrscht. Obwohl Parteien vorhanden waren, konnten diese nicht politisch agieren, da der Militäreinfluss zu stark auf die Parteien eingewirkt und die politische Ordnung reguliert hatte (vgl. Jung 2012, s.94).

Die Partei DP wurde nach dem Putsch verboten und es folge die AP als nachfolgende Partei im Jahre 1961 mit Süleyman Demirel als Einflussreiche Person. Siebenmal schaffte Süleyman Demirel das Amt des Ministerpräsidenten zu erlangen und war 7 Jahre lang, von 1993-2000, der Staatspräsident der Türkei (vgl. Warning 2012, s.45). Im gleichen Jahr schaffte es İnönü, welcher im Jahr 1950 abgewählt worden ist, erneut die Position des Ministerpräsidenten zu bekommen. Während seiner Amtszeit unterzeichnete die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Türkei das Assoziierungsabkommen (Ankara-Abkommen). Dies sollte dazu beitragen, dass die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen gestärkt werden sollten. Jedoch war die türkische Wirtschaft durch permanente Instabilität gekennzeichnet, sei es auf politischer, als auch auf wirtschaftlicher Ebene (vgl. Kreiser/Neumann 2006, s.431).

In den 60er Jahren gewann wieder die islamisch-politische Bewegung mit Necmettin Erbakan. Begünstigt wurde dies aufgrund der damalig herrschenden Säkularisierung und der Verdrängung der Religion in der Öffentlichkeit (vgl. Grigoriadis 2007, s.22). Während seiner Amtszeit gründete er im Jahre 1967 die Bewegung der ‚Nationalen Sicht‘ (Milli-Görüş-Bewegung). Diese Bewegung Erbakans hatte den Fokus auf Antisemitismus, Anti-Verwestlichung und Antizionismus und war stark konservativ ausgerichtet (vgl. Cornell 2015, s.32). Der Gedanke dahinter war, dass die westliche Welt Anforderungen stellte, welche islamisch geprägte Länder nicht nachkommen könnten. Dies führte dazu, dass man sich vom westlichen Gesellschaftssystem distanzierte, da man die türkische Ordnung in Richtung des islamischen Gesetzes (şeriat) führen wollte (vgl. Steinbach 2012, s.62). Die erste islamistische Partei MNP, welche von Erbakan im Jahre 1970 gegründet worden ist, wurde im darauffolgenden Jahr verboten. Daraufhin gründete er die Nachfolgepartei MSP, mit welche er es schaffte, in verschiedenen Koalitionsregierungen der stellvertretende Ministerpräsident zu werden (vgl. Warning 2012, s.222).

Eine ebenfalls bedeutende Gruppe in der Türkei waren die Aleviten. Ihr Glaube hatte Ähnlichkeiten mit dem Shiiten- und Alevitentum. Aufgrund der Ereignisse zeichnete sich nach 1960 der Alevitentum mehr durch Säkularismus aus, da Aleviten in frühen Zeiten schon den Säkularismus Atatürks befürworteten (vgl. Seufert 2012, s.249).

Innerhalb der türkischen Gesellschaft wurden aufgrund der herrschenden Instabilität Unmut auf den Straßen ausgetragen und die verschiedenen extremistischen Gruppen fingen an, sich gegeneinander aufzuspielen und sich zu bekriegen. Es gelang dem damaligen Ministerpräsident Demirel nicht, die Lage zu entschärfen und aufgrund dessen wurde der Generalstabschef dazu aufgefordert, die Situation in den Griff zu bekommen (vgl. Steinbach 2012, s.62). Dieser Eingriff, beziehungsweise ‚Putsch‘, des Militärs im Jahre 1971 führte dazu, dass die Parteien sich noch mehr zersplitterten und die Partei CHP an Zustimmung gewann. Bülent Ecevit gewann mit dem besten Ergebnis im Jahre 1973 die Wahlen seit Einführung des Mehrparteiensystems und wandelte dementsprechend die CHP in eine sozialdemokratische und moderne Partei um (vgl. Steinbach 2010, s. 50). Jedoch hielt dies nicht lange an und währenddessen gewannen rechte Parteien an Zustimmung (vgl. DALMIŞ 2014, s. 7).

Insgesamt betrachtet stand die Türkei in den 1970er Jahren vor großen innenpolitischen Problemen. Die Wirtschaft war kurz davor zu kollabieren und es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den links- und rechtsorientierten Gruppierungen und dem Militär, wodurch viele Tote eine Folge waren. Aus Sicht des Militärs waren Gründe für diese Auseinandersetzungen die Politisierung und Polarisierung aller Bereiche innerhalb der türkischen Gesellschaft. Aufgrund dessen führte das Militär im Jahre 1980 nochmals einen Putsch durch, wobei die Ziele die Wiederherstellung von Ordnung und Ruhe, die Erstellung eines neuen politischen Systems und die Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung waren (vgl. Steinbach 2010, s. 53). Die Folge des Putschs war, dass eine Zehnprozenthürde eingeführt worden ist und im Jahre 1982 eine neue Verfassung verabschiedet wurde, welche mit einigen Teilen bis heute noch gültig ist (vgl. Cook 2014). Nach diesem Militärputsch entwickelte sich allmählich eine Zivilgesellschaft, in der sich Vereine gründeten, die sich daran Beteiligten, Frauenrechte, Ökologie, Erziehung, Kultur und weitere Bereiche zu organisieren. Im weiteren Verlauf wurde die erste Menschenrechtsorganisation im Jahre 1986 gegründet, diese wurde jedoch von der Politik als Staatsfeind angesehen. Trotzdem stieg die Mitgliederanzahl und es wurde zeitnah eine weitere Menschenrechtsorganisation gegründet, welche islamisch orientiert war. Beide Organisationen hatten die Gemeinsamkeit, sich gegen den kemalistischen Staat einzusetzen. Ein Problem solcher Organisationen war die Finanzierung aus dem Ausland. Es wurde Misstrauen aufgebaut und die Finanzierungen wurden als unwillkommen angesehen, da man der Meinung war, dass sich die EU in die inländischen Angelegenheiten einmischte (vgl. Jung 2012, s.115).

Eine weitere Folge des Putsches von 1980 ist die Radikalisierung eines Teiles der kurdischen Bevölkerung. Die PKK, gegründet von Abdullah Öcalan im Jahre 1978, sah sich als leninistische Organisation, die von der Türkei, EU und USA als Terrororganisation eingestuft wird. Diese Partei erklärte der Türkei den Krieg, da das Ziel die Errichtung eines autonomen Staates Kurdistans war und immer noch ist. Dieser Kampf wird im Südosten der Türkei geführt und führte zu hohen Staatsschulden, da teile des türkischen Volkseinkommens für den Kampf benutzt worden sind. Die Folge war die Inflation (vgl. Seufert 2012, s.243).

Politik von Recep Tayyip Erdogan

Recep Tayyip Erdoğan, geboren im Jahre 1954 im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa, war hoch angesehen in der Bewegung Erbakans. Innerhalb dieser Bewegung machte er sich viele ParteifreundInnen und gab seine Meinung kund, dass die Unruhen innerhalb der Gesellschaft nur mit einem geregelten Demokratieverständnis aufgelockert werden könnten und man dafür das Konzept eines Staates, dass nach der Scharia beruht, beseitigen musste (vgl. Steinbach 2012, s.32). Infolgedessen gründeten Recep Tayyip Erdogan und einige seiner ParteifreundInnen eine neue Partei namens AKP und gaben dieser Partei die Bezeichnung „Post-Islamistische-Partei“ ohne gegen den Säkularismus und Kapitalismus eine Aversion zu haben (vgl. Cornell 2015, s.32).

Nach diesen ganzen Unruhen fanden am 03. November 2002 Neuwahlen in der Türkei statt. Hier erzielte die AKP mit 34,3 % der Stimmen die absolute Mehrheit (vgl. Grigoriadis 2007, s.22). Die AKP definierte nach dem Wahlsieg das Ziel, mehr Demokratie innerhalb der Türkei herbeizuführen. Dies war ein demokratischer Umbruch und das Ausland hatte Hoffnung, dass das Verhältnis sich zwischen der Türkei und den jeweiligen Ländern verbessern würde und man in die Wirtschaft intensivieren könnte. Vor allem die USA und die EU waren davon überzeugt, im wirtschaftlichen Bereich Chancen zu entwickeln und mehr in die Türkei zu investieren. Jedoch geriet die Stimmung nach dem Anschlag vom 11. September ins Schwanken, da die ‚Islamophobie‘ zu steigen begann (vgl. Cook 2013).

Die Regierung war in den Anfängen bemüht, Wirtschaftsprogramme zu erstellen und einzuführen und Reformpakete zu verabschieden. Dadurch war die Regierung bestrebt, die Gesellschaft anhand der Kopenhagener Kriterien langfristig zu verändern (vgl. Steinbach 2012, s.64f.). Die AKP-Reformen betrafen zum einen den Menschen- und Minderheitenrechtsschutz und eine Stärkung der Meinungs-, Vereins-, sowie der Versammlungsfreiheit. Ebenfalls eingeführt wurde das Recht zur Individualklage und das Ombudsmann-System, welches die Diskriminierung der Frauen beendete. Infolgedessen wurde eine Straf- und Strafprozessrechtsform eingeführt. Dies hatte zur Folge, eine erleichterte Strafverfolgung herbeizuführen. Die Todesstrafe wurde im Zuge der Veränderungen ebenfalls abgeschafft (vgl. Steinbach 2012, s.106). Ein besonders sensibles Thema war vor allem die Veränderung, dass die zivile Kontrolle über das Militär gestärkt worden war. Aufgrund dessen wurden die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft und der Nationale Sicherheitsrat reformiert (vgl. Warning 2012, s.106). Somit löste sich aufgrund des wirtschaftlichen und politischen Programms der Staat immer mehr vom Militär (vgl. Jung 2012, s.111). Ein weiteres sensibles Thema war die Problematik aufgrund der kurdischen Bevölkerung. Die AKP war einer der ersten Parteien, die der kurdischen Bevölkerung kulturelle Freiheiten eingeräumt hatte. Im Jahre 2003 räumte die AKP eine Sendeerlaubnis für kurdisches Radio und Fernsehen ein (vgl. Dietert 2012, s.162).

Die AKP profitierte davon, dass viele Punkte vom Reformprogramm eingehalten und umgesetzt worden waren, damit man den Kopenhagener Kriterien gerecht werden konnte. Jedoch kam es in den Jahren 2005-2009 zu einer stetigen Polarisierung und Entmachtung des Militärs. Erdogans Wahlprogramm wurde zunehmend konfrontativer und Kritik an seiner Partei wurde nicht geduldet und ‚ermahnt‘. Aber mit den anfänglichen Erfolgen und der neuen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Offenheit gelang es der AKP neue Wählerschichten zu erreichen, sodass die AKP bei den Parlamentswahlen in 2007 47% erreichen konnten. Die Wählerschaft war zusammengesetzt aus Muslimen, Kurden, Türken und auch der städtischen Eliten (vgl. Cook 2013).

Ebenfalls im Jahre 2007 schaffte es die AKP, dass Kopftuchverbot umzuändern, welches in der Verfassung von 1982 festgehalten worden war. Diese Entscheidung und Änderung wurde aufgrund der CHP gerichtlich für annulliert erklärt, jedoch drohte keine Strafe bei Zuwiderhandlung (vgl. Ebenda 2012, s.37ff).

Ein Bruch entstand 2013, als Erdogan eine Verfassung durchsetzen wollte, welche beinhaltete, dass das Amt des Staatspräsidenten gestärkt wird, in welchem Erdogan nach Rücktritt als Ministerpräsident antreten konnte. Dies gefiel der Mehrheit der Gesellschaft jedoch nicht und dieser Entwurf wurde fallen gelassen. In Diesem Zeitraum wurde auch bemerkbar, dass die AKP sich von der Liberalisierung allmählich zu trennen begann und religiöse Vorschriften als Erklärungsgrundlage nahm, wie zum Beispiel bei der Einschränkung von Alkoholausschank, was bei vielen als Einschränkung in die individuelle Freiheit gesehen wurde (vgl. Aver 2013, s.2).

Eine weitere Neuerung war in den Minderheitenrechten im Jahr 2012. Die Neuerung bestand darin, dass die Möglichkeit bestand, kurdische Wahlfächer an weiterführenden Schulen anzubieten. Trotzdem stieg die Zahl von Inhaftierungen innerhalb der kurdischen Bevölkerung aufgrund von Terrorismusvorwürfen an (wegen ihrer Zugehörigkeit zur PKK). Nicht nur viele Personen der kurdischen Bevölkerung wurden inhaftiert, sondern auch MenschenrechtsaktivistInnen und Parlamentarier, darunter vor allem der kurdischen Bevölkerung angehörige (vgl. Kamp 2012, s.45f).

Aufgrund der Politik Erdogans kam es im Juni 2013 zu einem Massenprotest, bekannt unter dem Namen Geziprotest. Es mobilisierten sich mehrere Millionen Menschen, um gegen die Politik Erdogans zu protestieren. Während der Proteste kam es zu acht Toten. Auslöser für diese Proteste waren die Pläne der Regierung, den zentral gelegenen Taksim-Platz durch ein Hotelkomplex inklusive Einkaufszentrums zu ersetzen. Der Wendepunkt dieses Protestes war der, als die Demonstranten mit Tränengas und Wasserwerfen angefeuert wurden (vgl. Erdemir 2015).

Die türkische Politik ist geprägt durch wechselhafte gesellschaftliche Bruchlinien, die ständig gestiegen sind. Zu Beginn der kemalistischen Zeit hat sich die Elite versucht sich auf das Militär und die Justiz zu verlassen, um den Islam zu unterdrücken und den Säkularismus voranzutreiben. Dabei wurde der demokratische Sinn vernachlässigt, wodurch die AKP die Führung innerhalb der Türkei erlangte. Ebenso schaffte es die AKP, ein Beitrittskandidat der EU zu sein. Anfänglich trennte die AKP Politik und Religion, jedoch folgte ab dem Jahre 2005 eine zunehmende autoritäre Regierungsführung, welche Proteste und Unruhen in der Gesellschaft vorantrieb. AKP hat in den vergangenen Jahren das geschafft, was andere Parteien nicht geschafft haben. Es wurde ein Gefühl der Stabilität hergestellt, was durch Erdogans polarisierendes Auftreten verstärkt wird. Abgesehen vom wirtschaftlichen Wachstum ist die Gesellschaft jedoch gespaltener denn je und viele sind der Meinung, dass die Demokratie in der Türkei in Gefahr ist.

Chancen und Risiken der Politik Erdogans

Gemäß der Verfassung von 1982 ist die Türkei eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht (vgl. Jung 2012, s.94). Wie es mit der Verwirklichung dieser Verfassung aussieht, ist kritisch zu betrachten und wird in westlichen Publikationen anders dargestellt und wahrgenommen. Es war ein langer Weg, den die Türkei für diesen Demokratisierungsprozess benötigt hat. Anfänglich war vieles durch das Militär gesteuert worden und die Türkei wurde aufgrund dessen einige Male in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. Trotz weitestgehend freier und fairer Wahlen kann die Türkei dennoch nicht als Demokratie angesehen werden, da einige Hindernisse zu dieser Situation beigetragen haben. Zum einen die Zerrissenheit innerhalb der Parteipolitik, die Einflussnahme durch das Militär, der voranschreitende Islamismus sowie der kurdische Nationalismus (vgl. Cook 2014).

Seitdem die AKP die Türkei ab dem Jahre 2002 zu reagieren begann, schwankte die Bewertung dieser Epoche des Öfteren. Zum einen wurde gesagt, dass die Beständigkeit der Demokratie innerhalb der Türkei für den nahen Osten als Lobenswert anzusehen ist, zum anderen wurde kritisiert, dass der Autoritarismus Erdoğans ein Zeichen dafür sein kann, dass Modell des starken Führers nach Mustafa Kemal Atatürk fortsetzen zu wollen. Hervorzuheben ist die überragende Darstellung Erdoğans, dass er mit seiner Politik bis dahin nicht partizipierende Bevölkerungsmehrheiten mit eingebunden hat, welche mit der Staatsideologie Atatürks bis dahin nicht einverstanden gewesen waren (vgl. Ünay 2015).

Die ersten Jahre der AKP-Regierungszeit können als demokratiefördernd eingestuft werden. Anfangs distanzierte sich die AKP von islamischen Grundsätzen und setzte sich den Rahmen, die Türkei vollständig in die Demokratie zu führen, dabei auch die Religion im öffentlichen Leben mit Offenheit zu betrachten. Der freie Markt war ein ebenfalls wichtiger Bestandteil und der Westen wurde als ‚Wirtschaftspartner‘ angesehen (vgl. Corke 2014, s.6). Gleichzeitig radikalisierten sich traditionell-konservative und säkular-liberale und es folgten ständig andauernde Kulturkämpfe (vgl. Aydin 2013).

Dennoch gelang es der AKP, mehr Diskursvielfalt zu erlauben und gewisse Handlungsweisen zu hinterfragen, beziehungsweise hinterfragen zu lassen. Als Beispiel kann man die Debatte um die Verfassungsreform von 2010, als auch die Geziproteste nennen, welche als eine Stärkung der Zivilgesellschaft gesehen werden können (vgl. Kamp 2012, s.44f). Ein weiteres Beispiel zeigt sich in den Minderheitsrechten. Kurden haben durch die AKP Rechte zugesprochen bekommen und viele weitere Debatten wie die um das Kopftuch sowie die Debatte um den Völkermord an den Armeniern wurden diskutiert (vgl. Corke 2013, s.3). Im Rahmen einer gesellschaftlichen Öffnung gab es einige Veränderungen. So wurde im Jahre 2005 zum ersten Mal eine LGBT-Parade in der Türkei durchgeführt (vgl. Yel 2013, s.184). Man kann sagen, dass sich insgesamt die Menschenrechtssituation in der Türkei zum Positiven verändert hat, aber natürlich weiterhin der Bedarf an Verbesserung besteht.

Im Zuge der Demokratisierung stand an erster Stelle die Loslösung vom Militär. Das Militär in der Türkei verstand und versteht sich bis heute als ‚Schützer‘ der Ideologie Atatürks (vgl. Cagaptay 2010). AKP entmachtete weitestgehend das Militär und schaffte rechtlich-institutionelle Reformen. Ebenso bemerkenswert ist die Situation, dass nach den unruhigen Zeiten und den Wahlen vom 15 Juni keine Angst beziehungsweise Befürchtungen seitens der BürgerInnen gab, dass ein weiterer Putschversuch seitens des Militärs entstehen könnte. Dies veranschaulicht ganz gut den Punkt, dass die Bevölkerung aufgrund der Politik ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat (vgl. Martens 2015).

Auf der anderen Seite ist die türkische Politik zunehmend von repressiven Charakterzügen geprägt, welches sich durch die Polarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft bemerkbar macht. Das Volk hat sich gespalten, Gruppierungen haben sich gebildet und es ist insgeheim alles radikalisierter geworden. Zudem macht sich bemerkbar, dass immer weniger Kritik an der Politik Erdoğans geduldet wird, keine Zeit für Diskussionen besteht und Erdoğan seinen Fokus auf seine bestehende Anhängerschaft setzt, anstatt diese zu vergrößern (vgl. Jenkins 2015). Hierbei ist hinzuzufügen, dass Erdoğan die Medien, das Militär, Juden, linke ParteianhängerInnen, Aleviten und Kurden politisch angeht und diese zu unterdrücken versucht. Dabei sind Risse innerhalb der türkischen Gesellschaft entstanden und die Menschen haben angefangen, sich nach ihrer politischen Identität zu positionieren (vgl. Seufert 2015, s.7).

Auch zu kritisieren ist das Vorgehen der Polizei bei Protesten, zum Beispiel beim Gezipark. Dies hat nochmal verdeutlicht, dass eine fehlende Achtung vor den eingeführten Grundrechten vorhanden ist und die Regierung dies vielmehr unterstützt, als es zu unterbinden. Gleiches gilt für die Medien und JournalistInnen, welche nicht mehr das veröffentlichen dürfen, was sie wollen, da sie unter ständiger Kontrolle seitens der Politik stehen (vgl. Aktürk 2015).

Trotz dessen ist die Türkei keine Diktatur, als wie sie des Öfteren dargestellt wird. Die Türkei belegte im Demokratieindex des Economist im Jahr 2014 den 98. Platz von 167 (vgl. Ebenda, s.31). Die Tendenz ist jedoch besorgniserregend. Vielmehr herrscht in der Türkei eine Delegierungsdemokratie, eine Form zwischen repräsentativer Demokratie und Autoritarismus (vgl. TAŞ 2015, s.776ff).

Das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU

Zu den Anfängen der AKP im Jahre 2002 hatte man im Westen große Hoffnungen in Erdoğan und seine Politik, da anhand seines politischen Handelns die Vorherrschaft des Militärs gebrochen werden konnte und eine Demokratie eingeführt worden ist. Im Laufe der Jahre veränderte sich jedoch das politische Bild innerhalb der Türkei und der Anschein wuchs, dass die ideologischen Wurzeln überhand übernahmen.

Die geforderten Reformen der EU wurden zum Anfang hin umgesetzt und anhand dieser Partnerschaft nahm Erdoğan sich den Nutzen raus, mit Rückendeckung der EU das Militär in der Türkei zu bändigen und darauffolgend eine Islamisierung der Türkei herbeizuführen und Revision der von Atatürk erzielten Errungenschaften zu verwirklichen. Es wurde als notwendig betrachtet, das Volk mit ihren Freiheiten im Rahmen von moralischen Werten zu ‚erziehen‘ (vgl. Seufert 2014, s.3).

Eine weitere Erklärung des Scheiterns der Beziehung könnte sein, dass man anfänglich wirklich daran interessiert war, der EU beitreten zu können. Aufgrund der wachsenden Islamophobie und der fehlenden Anerkennung der schon umgesetzten Reformen habe man sich neu formatieren wollen. Die Türkei ist jedoch immer noch daran bemüht, bis zum Jahr 2023 einen EU Beitritt zu verwirklichen (vgl. Kazim 2015, s.102).

In dieser ganzen Debatte muss auch betrachtet werden, dass das westliche Demokratieverständnis nicht 1:1 kompatibel ist mit dem Demokratieverständnis der Türkei. Dabei stellt sich die Frage, ob eine allgemeine Veränderung der Verhältnisse gewünscht war oder vielmehr das vom Westen aufgezwungene Verständnis der Demokratie das Problem an der ganzen Debatte gewesen war.

Eine wichtige Frage scheint seitens der EU, als wie auch der Türkei von großer Bedeutung zu sein. Die Frage wäre, ob die Türkei die EU und umgekehrt ‚braucht‘. Aufgrund der schon genannten Islamophobie ist Seitens des türkischen Volks kaum das Interesse vorhanden, der EU beitreten zu wollen. Viele türkische BürgerInnen, die in Deutschland leben, sind in die Türkei zurückgekehrt, sei es aufgrund des steigenden Rassismus, als auch der ungleich Verteilten Chancen und Möglichkeiten, den die BürgerInnen mit türkischem Migrationshintergrund zugeschrieben bekommen. Unter den emigrierenden BürgerInnen mit türkischen Migrationshintergrund befinden sich viele qualifizierte Kräfte und diese qualifizierten Kräfte sehen ihre berufliche Laufbahn eher in der Türkei als wie in Deutschland. Sollte der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei weiterhin beibehalten werden, so könnte es sein, dass die Türkei kein Land sein wird, welches seine qualifizierten BürgerInnen emigrieren lässt, sondern vielmehr ein Land, welches qualifizierte BürgerInnen anwerben wird (vgl. Dogan 2010).

Es könnte sogar so weit kommen, dass Türkei und Deutschland sich gegenseitig bedingen. Wenn man das Durchschnittsalter in Europa, welches bei 45 Jahren liegt, mit dem Durchschnittsalter der Türkei, welches bei 27 Jahren liegt, vergleicht, so stellt sich heraus, dass die Türkei eine jüngere und dynamischere Bevölkerung hat, welches sich auf dem Markt besser ‚anbieten‘ lässt. Um den EU-Beitritt attraktiv zu gestalten, müsste man der türkischen Bevölkerung das Vertrauen geben, welches im Laufe der Jahre geschwunden ist (vgl. Demirbas 2011).

Ferner muss beobachtet werden, wie sich die türkische Gesellschaft und die Politik im Allgemeinen verhält und entwickelt. Es muss sich zeigen, wie die islamisch orientierten, als auch die konservativ-demokratisch orientierten Gruppierungen in Zukunft zusammengeführt werden, damit sie funktionieren können, ohne dass die Situation in Machtkämpfe ausartet (vgl. DeVries 2011).

Die derzeit herrschende Anti-Europäisierungstendenz muss in das Positive umgewandelt werden innerhalb der türkischen Gesellschaft und seitens der EU sollte verdeutlicht werden, dass man tatsächlich einen EU Beitritt der Türkei anstrebt. Denn des Öfteren ist es nicht klar definiert, ob die EU der Meinung ist, dass die Türkei zu Europa gehören soll oder nicht. Im Gegenzug ist es genauso wichtig, dass die Türkei es schafft, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, um überhaupt einen Beitritt ermöglicht zu bekommen. Ebenso sollte zum Ausdruck gebracht werden, wie die EU die Türkei bei diesem Vorhaben unterstützen kann. Allein der Tatbestand, dass die Türkei Freiheiten und Chancen genießt, zeigt eine langfristige Einwirkung einer Europäisierung. Daher ist es wichtig, die Türkei bei dem Prozess der Europäisierung zu unterstützen (vgl. Türköne 2008).

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Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss der türkischen Politik auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen und die Rolle der Sozialen Arbeit
Hochschule
Technische Hochschule Köln, ehem. Fachhochschule Köln
Note
2,0
Jahr
2019
Seiten
54
Katalognummer
V1154632
ISBN (eBook)
9783346550613
ISBN (Buch)
9783346550620
Sprache
Deutsch
Schlagworte
einfluss, politik, lebenssituation, deutschland, jugendlichen, rolle, sozialen, arbeit
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Der Einfluss der türkischen Politik auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen und die Rolle der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1154632

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