Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 1
1. Soziale Arbeit als kritische Wissenschaft 2
1.1 Grundzüge einer kritischen Sozialen Arbeit 2
1.2 Das Mittel der Reflexivität als Kernelement einer kritischen Perspektive 3
1.3 Anwendungsbeispiel für den Grundsatz der Reflexivität 4
2. Die Produktion sozialen Ausschlusses durch „Be-Hinderung“ 5
2.1 „Behindert“ und „Be-Hindert“: Eine begriffliche Differenzierung 5
2.2 Die Reproduktion ausschließender Narrative in der Arbeit mit „Be-Hinderten“ 7
2.3 Der Inklusionsgedanke als Repräsentation einer kritischen Perspektive 7
Resümee 9
Literaturverzeichnis
Sonstige Quellen
Einleitung
Die folgende Ausarbeitung setzt sich mit der Theorie einer „Kritischen Sozialen Arbeit“ auseinander. Eine wissenschaftliche Theorie gezielt als kritisch zu deklarieren mag auf den ersten Blick mitunter irritierend erscheinen: Ist das kritische Hinterfragen etwaiger Sachverhalte denn nicht das selbstverständliche Fundament allen wissenschaftlichen Handelns? Ist Wissenschaft nicht also per se kritisch? Wieso werden dennoch ganze Bücher mit den „Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit“ (Anhorn et al., 2012) gefüllt?
Bei genauerer Beschäftigung mit der Thematik wird schnell klar, dass es einenmaßgeblichen Unterschied macht, auf welche Art und Weise Akteure aus Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit ihre Erkenntnisse, Handlungsweisen und sogar die Findung ihrer Fragestellungen selbst hinterfragen. Soll heißen: Man kann die herrschendeOrdnung und gesellschaftliche Normen als selbstverständliche, unumstößlicheManifestationen dem eigenen Gedankenspielraum zugrunde legen, innerhalb des dadurch vorgegebenen Rahmens die eigene Vorgehensweise reflektieren und dies als(selbst-)kritische Haltung bezeichnen. Hierbei werden dann v.a. Fragen nach mehrEffizienz, Optimierbarkeit von Handlungsabläufen und Zielerreichungen in der Arbeit mit Adressat*innen1 Sozialer Arbeit aufgeworfen. Die als Urväter der Kritischen Theoriegeltenden Akteure Adorno oder Horkheimer hätten ein solches Vorgehen jedoch mutmaßlich mit Argwohn betrachtet, entspricht es doch keineswegs den Grundzügen ihrer Philosophie, die sie als sog. „Frankfurter Schule“ (Thommen, o. J.) berühmt gemacht hat.
In dieser Ausarbeitung soll aufgezeigt werden, inwiefern eine kritische Soziale Arbeit– um als kritisch gemäß der gleichnamigen Theorie zu gelten – bestrebt ist,Ordnungswissen anzuzweifeln, sich der Bearbeitung von Devianz zu widersetzen und daher in Konsequenz ihre eigene Lehre und praktische Anwendung, sowie ihre Reflexion und Kritik selbst fortwährend kritisch zu hinterfragen, wobei sie auch vor derHinterfragung der Kriterien, die der Reflexion und Kritik zugrunde liegen,nicht Halt macht (vgl. Arbeitskreise Kritische Soziale Arbeit, o. J.). Dies soll am Beispiel davon beleuchtet werden, auf welche Weise Soziale Arbeit Menschen mit Beeinträchtigung in den Blick nimmt. Ziel ist ein Erkenntnisgewinn darüber, inwieweit Soziale Arbeit in der Betrachtung dieser Menschen noch immer ausschließende Narrative duldet und selbst reproduziert.
1. Soziale Arbeit als kritische Wissenschaft
Im Folgenden wird zunächst ausgeführt, welches die Kriterien einer kritischen Theorie Sozialer Arbeit sind und wo sich in diesem Zusammenhang das Element der Reflexivität in ihr verorten lässt. Dabei wird ausschließlich auf die kritische Wissenschaft Sozialer Arbeit eingegangen werden, nicht auf ihre angewandte Praxis. Die Basis dieserAbgrenzung bildet die Definition einer kritischen Wissenschaft als „Untersuchung derPraxis und (…) Analyse ihrer Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten (…) (im Rahmen derer, d. Verf.) nicht die Wissenschaft […] auf eine soziale Praxis angewendet [wird], sondern die Praxis […] wissenschaftlich untersucht und reflektiert [wird]“ (Steinert 1998, S. 24).
1.1 Grundzüge einer kritischen Sozialen Arbeit
Bei der Skizzierung der wesentlichen Merkmale einer kritischen Perspektive SozialerArbeit seien Anhorn zufolge vornehmlich drei Säulen zu benennen, aus denensich jeder weitere Selbstanspruch dieser Disziplin ableiten lässt: eine befreiungs-theoretische Orientierung, eine konflikttheoretische Orientierung und eine gesellschaftstheoretische Orientierung (vgl. Anhorn, 2020). Eine kritische Wissenschaft Sozialer Arbeitverfolge somit das Ziel, Befreiungswissen zu erlangen, also emanzipatorisches Wissen, das die herrschende Ordnung in Frage stellt (vgl. ebd.).
Im Rahmen ihrer konflikttheoretischen Orientierung deute eine kritische Soziale Arbeit soziale Problemlagen (im Sinne von Ordnungsproblemen) zu pluralistischen Interessenskonflikten um (vgl. Anhorn, 2020). Das heißt, sie sieht von der Normierung sowohl von Gruppen als auch von Individuen ab und deutet deren vermeintlich problematischen Normbrüche als individuelle, schwierige Situationen, die durch gesellschaftliche Verhältnisse hervorgerufen und verstärkt werden (vgl. ebd.). Eine kritische wissenschaftliche Perspektive sei demnach eine, die Macht- und Herrschaftsverhältnissen grundsätzlich problematisiert, also gesellschaftlich erzeugte Verhältnisse von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausschließung beleuchtet und ungerechtfertigte Beschränkungen der Selbstbestimmung – sowohl kollektiver als auch individueller Art – sowie Disziplinierungs- und Normalisierungsmechanismen offenlegt (vgl. Anhorn et al., 2012, S. 7).
Eine kritische Wissenschaft Sozialer Arbeit hege des Weiteren stets den Anspruch ein Bild von Gesellschaft als Ganzes zu entwickeln, also Gesellschaftstheorie zu betreiben (vgl. Anhorn, 2020). In diesem Zusammenhang begreife sie sich auch als selbst in die Gesellschaft eingebundenes Element, das in Wechselwirkung zu deren Prozessen und Mechanismen stehe (vgl. Dubiel 1978, S. 73 f.). Demnach sei sich die praktizierteWissenschaft, trotz und aufgrund ihres kritischen Selbstverständnisses, durchaus darüber bewusst, dass sie permanent selbst Gesellschaft produziert und reproduziert (vgl. Dubiel 1978, S. 73 f.). Insbesondere aus diesem Selbstverständnis als „arbeitsteiliges Moment in der Produktion und Reproduktion von Gesellschaft“ (ebd., S. 73 f.) leitet eine Kritische Wissenschaft Sozialer Arbeit den Grundsatz der Notwendigkeit einer ständigen Reflexion als Bestandteil ihres Wirkens ab.
Der Notwendigkeit einer normativen Begründung verweigere sich eine kritische Theorie Sozialer Arbeit hingegen gezielt. Allerdings heiße das nicht, dass ein „nicht-normatives Verständnis“ agitiert werden solle, sondern lediglich, dass für unnötig befunden werde, Rechtfertigungen für das Streben nach Normativen wie die der Befreiung oderSouveränität mitzuliefern. (vgl. Anhorn et al., 2012, S.18).
Zum Selbstverständnis einer kritischen Wissenschaft zähle dabei, dass Kritik, um ihreDaseinsberechtigung zu finden, keineswegs von konstruktivem Charaktersein müsse (vgl. Anhorn, 2020). Der Nutzen von Kritik bemisst sich gemäß dieserGrundannahme nicht an ihren handlungswissenschaftlichen Anwendungs-möglichkeiten ( vgl. Anhorn et al., 2012, S.18). Der Anspruch an Kritik, dass diese stets anwendbare Lösungen mitliefern müsse, diene lediglich dem Erhalt desStatus Quo und sei somit als „Versuch[ ] der Delegitimierung und Neutralisierung vonKritik“ (ebd., S. 8) zu verstehen. Stattdessen sehe eine Kritische Soziale Arbeit ihreAufgabe darin, Kritik als gezieltes Störmoment in einer konventionellen Praxis zuplatzieren (vgl. Anhorn et al., 2012, S. 7). Gemäß Horkheimer verstehe eine kritische Wissenschaft Sozialer Arbeit sich selbst als Disziplin, die nicht in erster Linie denAnspruch hegt, eine angewandte Praxis der Sozialen Arbeit hinsichtlich Kriteriender Produktivität, Effizienz und Effektivität optimieren zu wollen. (vgl. Horkheimer 1937, S. 180 f.).
1.2 Das Mittel der Reflexivität als Kernelement einer kritischen Perspektive
Wie im vorherigen Abschnitt bereits dargelegt, ist die kritische Wissenschaft SozialerArbeit stets von dem Interesse geleitet, Befreiungswissen zu produzieren, indem sie Herrschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Konsens analysiert, benennt und zu überwinden bereit ist. Dies kann laut Anhorn nur dann wirklich gelingen, wenn sie auch ihre eigenen Denkmuster und darauf basierende Vorgehensweisen selbstkritisch hinterfragt und ihren Blick dafür öffnet, in welchen Strukturen sie interagiert.
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1 Im Rahmen dieser Ausarbeitung wird das Gender-Sternchen als Mittel der geschlechtergerechten Schreibweise verwendet, um neben dem männlichen und weiblichen auch weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitätentypografisch sichtbar zu machen und einzubeziehen.