Multiple Sklerose. Eine Krankheit mit tausend Gesichtern


Facharbeit (Schule), 2021

42 Seiten, Note: 15 Punkte

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Epidemiologie der Multiplen Sklerose
2.1. Prävalenz
2.2. Manifestationsalter

3. Pathogenese der Multiplen Sklerose
3.1. Pathophysiologisches Modell
3.2. Histopathologische Subtypen

4. Ätiologie der Multiplen Sklerose
4.1. Genetische Faktoren
4.2. Umweltfaktoren

5. Klinik der Multiplen Sklerose
5.1. Symptome
5.2. Verlaufsformen
5.3. Diagnostik der MS
5.4. Prognose

6. Fazit

7. Anhang
7.1. Glossar
7.2. Literaturverzeichnis
7.3. Interview mit Frau PD Dr
7.4. Danksagung

1. Einleitung

Mit bis zu 2,5 Millionen Betroffenen weltweit und schätzungsweise ca. 240.000 Betroffenen in Deutschland (s. Limmroth 2018) ist die Multiple Sklerose die häufigste chronisch-entzündliche Krankheit des zentralen Nervensystems bei jungen Erwachsenen, die zu anhaltenden neurologischen Einschränkungen führt. Bis heute bestehen noch viele offene Fragen und trotz umfassender Forschung ist noch kein Durchbruch im Verständnis der Ursachen oder in der Therapie der MS gelungen, der MS vollständig zu heilen vermag (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12).

Diese Facharbeit widmet sich unter der Leitfrage: „Wie entsteht und manifestiert sich die Multiple Sklerose?“ der Multiplen Sklerose mit den Schwerpunkten auf der Ätiologie, der Pathogenese und der Klinik, um zu einem besseren Verständnis der Krankheit im Allgemeinen sowie zu einem besseren Verständnis für die Herausforderungen der Forschung im Speziellen beizutragen.

Multiple Sklerose, auch früher Enzephalitis disseminata genannt, tritt meist mit sogenannten „Schüben“ klinisch in Erscheinung und beginnt dann mit leicht verlaufenden Initialsymptomen, welche im Verlauf der Krankheit bei der der Remission größtenteils, jedoch nicht immer eine Besserung erfahren (s. Hoffmann et al. 2009, S. 15). Dennoch können auch zu Beginn der Erkrankung schwere Schübe mit einer schlechten Remission auftreten. Unabhängig von der Schwere der jeweiligen Verlaufsform bleibt im Verlauf der Erkrankung eine wachsende klinische Einschränkung bzw. Behinderung zurück.

Das Thema MS spielt für mich auch eine persönliche Rolle, da in meiner engeren Verwandtschaft MS-Fälle aufgetreten sind und meinen Blick auf die Krankheit und ein Leben mit der Krankheit stetig prägen.

Da MS in Deutschland keine meldepflichtige Krankheit darstellt wird vermutet, dass die Dunkelzahl der MS-Erkrankten weitaus höher ist als die offiziell veröffentlichte Zahl von ca. 120.000 Betroffene (s. Limmroth 2018). Dabei stehen besonders Ländern mit einer schlechten medizinischen Versorgung bzw. mit einer schlecht ausgebauten medizinischen Infrastruktur nur geringe Kapazitäten zur Erfassung einer MS zur Verfügung (s. Grellner 2019, S. 15). Die Ausbreitung von MS wird im folgenden Kapitel 2. thematisiert.

2. Epidemiologie der Multiplen Sklerose

2.1. Prävalenz

Die Prävalenz der Multiplen Sklerose zeigt große geografische Unterschiede auf (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12), so liegt Deutschland mit 289 MS-Erkrankten pro 100.000 Einwohnern in einem Gebiet der hohen Prävalenz. Zudem auffällig ist die Staffelung der Prävalenzen in Anbetracht der Entfernung zum Äquator. So liegen Europa, Nordamerika und südliche Teile Australiens in einem Gebiet mit hoher Prävalenz. Näher am Äquator und somit in Gebieten mit mittlerer Prävalenz liegen Nordafrika bzw. Südafrika, südliche Teile der USA und der mittlere Osten. Währenddessen liegen Japan, China, Zentralafrika und Südamerika in Gebieten, in denen MS mit weniger als fünf Fällen pro 100.000 Einwohner in der Bevölkerung vorkommt (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12).

Diese Beobachtung der Variabilität in der Prävalenz von MS bezüglich der geografischen Position hat zu zwei Hypothesen geführt. Zum einen könnte MS einem genetischen Verteilungsmuster folgen, welches bisher noch nicht entdeckt wurde (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12). Auch ist es möglich, dass die Wahrscheinlichkeit einer MS-Erkrankung durch bisher noch nicht vollständig erforschte Umwelteinflüsse bestimmt wird (s. Grellner 2019, S. 15). Die Prävalenz von MS in Relation zum Alter wird im folgenden Kapitel 2.2. erläutert.

2.2. Manifestationsalter

Das Lebensalter, in dem die meisten Menschen an MS erkranken liegt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr mit einer Spitze um das 30. Lebensjahr herum. Dennoch ist es möglich, dass bis in die 8. Lebensdekade eine Erstmanifestation der MS auftritt (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12). Dabei ist zu beachten, dass Frauen, im Vergleich zu Männern, ein zwei bis dreifach erhöhtes Risiko aufweisen an MS zu erkranken (s. Gerdes 2018, S. 3). Der Anteil der MS-Patienten im Jugendalter (11-18 Jahre) stellt je nach verwendeter Quelle bis zu 10% der kompletten an MS erkrankten Population dar. Dagegen ist eine Erstmanifestation im Kleinkindalter eher unwahrscheinlich (s. Aktas et al. 2018). Sofern es zu einem Krankheitsausbruch kommt, ist der Krankheitsverlauf von MS von der Erstmanifestation bis zum Tod des Erkrankten über mehrere Dekaden gestreckt (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12). Dabei sind 2/3 der durch MS herbeigeführten Tode durch Komplikationen verursacht, welche meist durch Infektionen im Bereich des Urogenitaltraktes und des Respirationstraktes auftreten (s. Hoffmann et al. 2009, S. 12). Im Mittel liegt die Überlebenszeit mit einer MS-Erkrankung bei ca. 30 Jahren nach der Erstmanifestation (s. Bronnum-Hansen et al. 2004, S. 846). Durch verbesserte symptomatische Behandlungsmöglichkeiten verlängert sich die Überlebenszeit mit einer MS-Erkrankung und die Mortalität ist in medizinisch gut ausgestatteten Staaten rückläufig (s. Bronnum-Hansen et al. 2004, S. 846).

3. Pathogenese der Multiplen Sklerose

Nach der allgemeinen Auffassung über die Pathogenese der MS bewirkt ein bisher unbekanntes Agens bei besonders suszeptiblen Personen eine T-Zell-vermittelte Immunreaktion (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Diese Immunreaktion löst eine Kaskade an Entzündungen und neurodegenerativen Veränderungen aus, welche im folgenden Kapitel 3.1. benannt werden.

3.1. Pathophysiologisches Modell

Das pathologische Hauptmerkmal einer MS-Erkrankung sind demyelinisierte Plaques mit einer disseminierten Verteilung über das gesamte ZNS (s. Grellner 2019, S. 6f.). Im Folgenden wird die Entstehung dieser Plaques erläutert.

Die Multiple Sklerose stellt keine rein demyelinisierende Erkrankung des ZNS dar. So kommt es zu einer Korrelation zwischen Entzündungsreaktionen und akuten axonalen Schädigungen, welche nicht durch Plaques bedingt sind und schon in frühen Krankheitsphasen auftreten können (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Die Demyelinisierung führt zur Unterbrechung der saltatorischen Erregungsleitung wodurch Verlangsamungen der Nervenleitgeschwindigkeit auftreten, dennoch sind es die axonalen Schädigungen, die eine dauerhafte Leistungsunterbrechung nach sich ziehen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Beteiligt an der Pathogenese der MS sind sowohl das angeborene Immunsystem als auch das erworbene Immunsystem mit den CD4+ und CD8+ T-Zellen, welche eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Multiplen Sklerose spielen (s. Weber o. D., S. 3).

Zu Krankheitsbeginn einer MS kommt es zur Aktivierung autoreaktiver T-Zellen in der Peripherie des Körpers. Die Ursache für diese Aktivierung ist unklar, jedoch wird davon ausgegangen, dass eine Antigenpräsentation durch Makrophagen und eine Kreuzreaktivität mit viralen oder bakteriellen Proteinen zur Aktivierung führen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Auf Grundlage dieser Aktivierung kommt es zu einer Transmigration aktivierter T-Lymphozyten über die Blut-Hirn-Schranke (s. Weber o. D., S. 2), mithilfe sogenannter Adhäsionsmoleküle, wie z. B. Intracellular Adhesion Molecule-1 (ICAM-1), seinem Liganden das Very Late Antigen-4 (VLA-4) und dem Intracellular Adhesion Molecule-3 (I- CAM-3) (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Nach der erfolgten Transmigration über die Blut-Hirn-Schranke bedarf es einer weiteren Aktivierung der T-Lymphozyten im Hirnparenchym und Liquorraum durch antigenpräsentierende Zellen wie Makrophagen, dendritische Zellen und Astrozyten bevor Entzündungsmediatoren produziert werden können (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Zur Aktivierung der T-Lymphozyten führt ein trimolekularer Komplex bestehend aus MHC-Molekül, Antigen und T-Zell-Rezeptor. Die möglichen Antigene, also die möglichen Ziele für die Immunantwort, sind das basische Myelinprotein (MBP), das Myelin-Oligodendrozyten-Gly- koprotein (MOG), das Proteolipidprotein (PLP), das Myelin-assoziierte Glykoprotein (MAG), das S-100 Protein, sowie das aB-Crystallin (heat shock-protein) und die Cyclic Nucleotide Phosphodiesterease (CNPase) (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13f.). Zudem zeigen neuere Studien, dass neben den Myelin-Proteinen auch astrozytische- und neuronale Strukturen als Zielantigene für die Immunantwort fungieren können (s. Grellner 2019, S. 6). Besonders betroffen von der Immunantwort ist die Myelinschicht, da dort die meisten der Antigene vorkommen, die von den Antikörpern angegriffen werden.

Im nächsten Entwicklungsschritt einer MS kommt es zur klonalen Proliferation von T- Zellen, die eine erneute Entzündungskaskade auslöst. Daran beteiligt sind Lymphozyten, Makrophagen, sowie weitere Antikörper und Zytokine (s. Weber o. D., S. 3).

Nach der Vermehrung von T-Killerzellen (CD8+) und T-Helferzellen (CD4+) durch die klonale Proliferation kommt es zur Schädigung des Nervengewebes des ZNS. Diese Schä­digung ist in verschiedene Einzelschädigungen unterteilbar. Zu Beginn produzieren CD4­positive T-Helferzellen proinflammatorische Zytokine, wie Interleukin-2 (IL-2), Interfe- ron-y (IFN-y) und Tumornekrosefaktor-a (TNF-a) (s. Hoffmann et al. 2009, S. 14). TNF- a bewirkt daraufhin die Apoptose von Oligodendrozyten. Gleichzeitig wirken Makrophagen durch Phagozytose, aber auch durch die Freisetzung toxischer Substanzen stark neurodestruktiv, während CD8-positive T-Lymphozyten den direkten Untergang von Neuronen und Oligodendrozyten herbeiführen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 14). Des Weiteren kommt es zur Antikörper-vermittelten zellulären Zytotoxizität, sowie einer Antikörper-Komple- ment-vermittelten Demyelinisierung der Myelinscheide. Dies könnte durch nicht-immunologische Faktoren wie Stickstoff (NO), Glutamat und Sauerstoffradikale, welche an der Zerstörung der Oligodendrozyten beteiligt sind, verstärkt werden (s. Smith et al. 1999).

Nachdem der Großteil der vorliegenden Antigene zerstört wurde, kommt es zu einer Astrozytenproliferation, welche von einer Sklerose und der Aktivierung antiinflammatorischer Mechanismen, wie der Sekretion von IL-4, IL-10 oder Transforming growth factor-^ (TGF-ß) begleitet wird (s. Hoffmann et al. 2009, S. 14). Dieser Schritt, welcher die Entzündung beenden und das beschädigte Gewebe beschützen soll, ist klinisch in einer Besserung der Symptome wahrnehmbar und zählt zur Remission.

3.2. Histopathologische Subtypen

Formal stellt die Multiple Sklerose eine Autoimmunerkrankung dar, dennoch zeigen aktuelle Studien, dass es sich bei der MS um unterschiedliche Entitäten handelt, welche in diesem Kapitel ausführlich thematisiert werden. Diese Feststellung resultiert auf den Ergebnissen großer Heterogenitäten bei der Liquorzytologie, sowie bei der Histopathologie der MS-Plaques verschiedener Patienten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 707).

Es ist zu beobachten, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Homogenität der MS- Plaques innerhalb eines Organismus vorliegt. Jedoch weisen Plaques in verschiedenen Or- ganismen zur gleichen Zeit eine Heterogenität auf. Dies stellt eine grundlegende und zugleich wichtige Information für die Therapie der MS dar, da innerhalb eines Körper eines Homogenität herrscht, aber verschiedene Patienten zur gleichen Zeit (Alter, bisherige Erkrankungsdauer) eine Heterogenität der Plaques aufweisen (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712).

Grundlegend festzuhalten ist jedoch, dass unabhängig vom Muster bzw. der Art des Plaques die Hauptschädigungspunkte die Oligodendrozyten und das Myelin sind und im weiteren Verlauf auch bleiben (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 707).

Es zeigen sich vier verschiedene Muster (I-IV), die sich jeweils in der Oligodendrozytenpathologie, dem Phänotyp, der Immunreaktion und dem Ausmaß an der Demyelinisierung und der Remyelinisierung unterscheiden (s. Hoffmann et al. 2009, S. 14).

Muster I und II- Läsionen weisen viele Gemeinsamkeiten auf, wie beispielsweise eine durch T-Lymphozyten und Makrophagen-vermittelte Inflammation. Dennoch unterscheidet sich Muster II durch eine Ablagerung von Immunglobulinen (Ig) und Komplement C9neo Antigenen auf zerstörten Myelinscheiden und Oligodendrozyten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 710ff.). Bei beiden Mustern ist jedoch eine Antikörper-Reaktivität festzuhalten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Dies deutet auf eine Beschädigung der Blut-Hirn-Schranke hin, welche bei Muster II-Läsionen stärker ausfällt, da dort die Antikörper-Reaktivität stärker niederschlägt als bei Muster I-Läsionen (s. Weber o. D., S. 3). Weiterhin grundlegend für beide Muster ist die Lokalisation nahe kleiner Venen oder Venolen mit scharf abgegrenzten Rändern der Plaques und perivenösen Erweiterungen. Zudem ist der gleichzeitige Verlust aller Myelinproteine innerhalb der Läsion charakteristisch, während ein variabler Verlust von Oligodendrozyten an den Grenzen der aktiven Läsionen möglich ist (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Dieser Verlust an Oligodendrozyten an den Grenzen der aktiven Plaques führt zu einer erhöhten Anzahl an Oligodendrozyten im Zentrum inaktiver Plaques und somit langfristig zur Entstehung von Markschattenherden.

Folgend auf die Muster I und II kommt das Muster III, welches genau wie die ersten beiden Muster proinflammatorische Infiltrate, größtenteils bestehend aus T-Lymphozyten, Makrophagen und aktivierten Mikroglia, aufweist. Jedoch sind beim Muster III keine Anzeichen von Immunglobulinen oder Proteinen des Komplementsystems zu finden (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Auch die Lokalisation der Plaques ist nun nicht mehr auf kleine Venen oder Venolen beschränkt und die Läsionsgrenzen sind schlecht definiert. Zusätzlich ist auf eine Studie zu verweisen, bei welcher 8 von 22 Untersuchungen einen bevorzugten Verlust an Myelin-assoziiertem Protein (MAG) herausstellten, wohingegen andere Myelinproteine keine Verlust- bzw. Abbauerscheinungen aufwiesen (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Es wird davon ausgegangen, dass die Änderung der Immunreaktivität am spezifischen Verlust von MAG verantwortlich ist. Weitere Untersuchungen zeigten zudem, dass 14-37% der unter MAG-Verlust leidenden Oligodendrozyten Anzeichen von Apoptose zeigten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Auch ein variabler Verlust von Oligodendrozyten am Rand der Läsion, sowie über den Rand der Läsion hinaus und ein komplett von Oligodendrozyten befreites Zentrum sind charakteristisch für Muster III-Plaques. Durch die komplette Entleerung des Plaque-Zentrums von Oligodendrozyten kommt es im weiteren Krankheitsverlauf nicht zur Bildung von Markschattenherden (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712).

Als letztes folgt Muster IV, welches bisher kaum erforscht werden konnte, da es nur vereinzelt auftritt (s. Hoffmann et al. 2009, S. 14). Genau wie auch bei den bisherigen Mustern zeigt Muster IV proinflammatorische Infiltrate bestehend aus überwiegend T-Lymphozyten und Makrophagen. Ähnlichkeit besteht zu den fehlenden Immunglobulinen von Muster III, da auch bei Muster IV keine Immunglobuline und C9neo Antigene nachgewiesen werden konnten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Die Demyelinisierung ist zurückzuführen auf ein Absterben der Oligodendrozyten am Rand der Läsion in der weißen Substanz. Besagtes Absterben der Oligodendrozyten wurde mithilfe der DNA-Fragmentation nachgewiesen, wobei jedoch keine morphologischen Hinweise auf die Apoptose als Grund für den Tod der Oligodendrozyten nachgewiesen werden konnten (s. Lucchinetti et al. 2000, S. 712). Nachdem die Abläufe innerhalb des Körpers geklärt wurden, widmet sich das folgende Kapitel 4. den Ursachen für die Entstehung der Multiplen Sklerose.

4. Ätiologie der Multiplen Sklerose

Wie bereits in der Einleitung erwähnt worden ist, ist die Multiple Sklerose noch nicht vollständig erforscht, so sind bisher nur wenige Anhaltspunkte zur Ätiologie der MS bekannt. Es wird bisher davon ausgegangen, die MS sei das Produkt einer multifaktoriellen Genese, also mehrerer Auslöser, die die Entwicklung der MS herbeiführen und unterhalten (s. Grellner 2019, S. 6). Bisher werden diese Auslöser in die genetischen Faktoren, welche folgend in Kapitel 4.1. besprochen werden, und die Umwelteinflüsse aufgeteilt.

4.1. Genetische Faktoren

Studien, die die Ausbreitung der MS unabhängig des geografischen Standortes untersuchten, kamen zu dem Schluss, dass besonders die weiße nordeuropäisch-stämmige Bevölkerung signifikant öfter von MS betroffen ist als andere ethnische Gruppen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Bisher untersucht wurde zudem die Vererbbarkeit der MS mit dem Ergebnis, dass die Multiple Sklerose keinem mendelschen Erbgang folgt und folglich keine typische Erbkrankheit darstellt (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Dennoch kommt es zu einer polygenetischen Vererbung, wofür auch eine familiäre Häufung der MS-Erkrankung, die bei etwa 20% der MS-Patienten auftritt, spricht (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Dabei ist das Risiko für eine MS-Erkrankung bei einem MS-Fall in der Familie vom Verwandtschaftsgrad abhängig. Zu differenzieren ist der Verwandtschaftsgrad 1. Grades, welcher das Risiko um ca. 2-4% erhöht, von entfernten Verwandten, welche das individuelle Risiko um ca. <1% steigern (s. Reich et al. 2018, S. 172).

Bei Untersuchungen konnte der Parent-of-Origin-Effekt ausgeschlossen werden, somit ist das individuelle Erkrankungsrisiko des Kindes unabhängig davon, ob Vater oder Mutter an MS erkrankt sind (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Auch untersucht wurde die Konkordanzrate bei monozygoten und dizygoten Zwillingen. Die Untersuchungen zeigten, dass die Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen lediglich ca. 25% betrug, bei dizygoten Zwillingen ca. 3,5% (s. Gerdes 2018, S. 3). Diese Ergebnisse zeigen, dass der genetische Hintergrund eine Rolle spielt, aber nicht die ausschließliche Ursache ist. Die geringe Konkordanzrate bei monozygoten Zwillingen begründet den Verdacht zusätzlicher Umweltfaktoren, die im nächsten Kapitel ausgiebig beleuchtet werden.

In großen GWAS (genome-wide association studies) wurden bisher über 200 genetische Suszeptibilitätsfaktoren mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften identifiziert. Unter diesen Suszeptibilitätsfaktoren konnte besonders das Histokompatibilitätsantigen HLA- DRB1*1501 nachgewiesen werden, welches das persönliche Erkrankungsrisiko um den Faktor 3-5 steigert (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). HLA-DRB1*1501 dient als sog. Marker, ist lokalisiert auf Chromosom 6 und ist nach aktuellem Forschungsstand der stärkste genetische Risikofaktor (s. Gerdes 2018, S. 3). Dabei kann das HLA-Klasse-II-Molekül, welches sich beispielsweise auf Makrophagen befindet, Antigene binden und sie den sog. CD4+ T-Lymphozyten präsentieren, welche im Folgenden eine Immunantwort einleiten. Dies stützt die Hypothese einer Autoimmunpathogenese (s. Gerdes 2018, S. 3).

Auch anzuführen sind zahlreiche auf eine Beteiligung mitochondrialer DNA deutender Belege (s. Gerdes 2018, S. 3). Bei Untersuchungen der Auswirkung mitochondrialer DNA auf den Verlauf einer MS wurden besonders Assoziationen zwischen MS und LHON (Leber's hereditary optic neuropathy) untersucht. Dennoch konnte nach der Untersuchung eine wesentliche Rolle mitochondrialer DNA in der MS-Pathogenese ausgeschlossen werden (s. Gerdes 2018, S. 12).

4.2. Umweltfaktoren

Umweltfaktoren stellen durch mögl. Einflussnahmen bzw. mögl. Umstellungen des Lebens des MS-Erkrankten ein attraktives Ziel für therapeutische und diagnostische und evtl. sogar präventive Interventionen dar (s. Gerdes 2018, S. 4).

Gegen einen rein genetischen Einfluss bei der MS-Pathogenese sprechen die Ergebnisse aus der Untersuchung monozygoter Zwillinge, welche lediglich eine Konkordanzrate von ca. 26%, trotz geringer genetischer Unterschiede, aufweisen. Auch die Änderung der Prä­valenz und Inzidenz bei der zweiten Generation von Migranten lässt auf eine nicht-genetische Einflussnahme schließen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Bei Untersuchungen des Erkrankungsrisikos von Immigranten wurden verschiedene Beobachtungen erbracht. Zum einen ist das Erkrankungsrisiko der Immigranten gleich dem Erkrankungsrisiko des Herkunftslandes, sofern das Erkrankungsrisiko unabhängig vom Alter der Immigranten untersucht wurde (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Wird das Erkrankungsrisiko der Immigranten abhängig des Alters untersucht ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Es stellt sich heraus, dass das individuelle Erkrankungsrisiko des Migranten abhängig vom Alter ist, in dem immigriert wurde (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Immigranten, welche im Erwachsenenalter immigrieren, behalten das Erkrankungsrisiko des Herkunftslandes bei. Immigranten, die vor dem 15. Lebensjahr in ein neues Land immigrieren nehmen das Erkrankungsrisiko des neues Landes an (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Somit begründet sich die kritische Zeit der Risikoentwicklung einer MS-Erkrankung auf die Zeit vor der Pubertät und ist zudem abhängig von der geografischen Position (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Auch begründet sich auf dieser Tatsache, dass das Erkrankungsrisiko bereits lange vor der Erstmanifestation, welche ca. ab dem 20. Lebensjahr auftritt, festgelegt ist.

Einen weiteren möglichen Ansatz für die Untersuchung für das MS-Erkrankungsrisiko stellen Infektionen im Kindesalter dar (s Gerdes 2018, S. 3f.). So gab es verschiedene Untersuchungen, die z. B. erhöhte Masern-Antikörper-Titer in Serum und Liquor von MS-Patienten ergeben haben, jedoch waren diese Erkenntnisse nicht reproduzierbar und wurden somit verworfen (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13). Ähnliche Widersprüche gab es zudem bei Untersuchungen der Assoziation zwischen MS und Röteln, MS und Mumps sowie MS und Varizellen. Auch Studien zum Herpesvirus-6 und dem Bakterium Chlamydia pneumoniae stuften diese als nicht relevante Faktoren ein (s. Hoffmann et al. 2009, S. 13).

Als bisher wahrscheinlichster Einfluss gilt eine postpubertäre Infektion mit dem Eppstein- Bar-Virus (EBV), da im Gegensatz zu Kontrollpersonen eine erhöhte Antikörper Seroprä­valenz bei MS-Erkrankten nachgewiesen werden konnte, welche auf eine vorhergegangene Erkrankung mit EBV zurückzuführen ist (s. Gerdes 2018, S. 3).

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Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Multiple Sklerose. Eine Krankheit mit tausend Gesichtern
Note
15 Punkte
Jahr
2021
Seiten
42
Katalognummer
V1156415
ISBN (eBook)
9783346551108
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Facharbeit wurde mit 15/15 Punkten (Note: 1+) bewertet und bietet sowohl Detailwissen über die Pathogenese, Epidemiologie als auch über die Ätiologie und Klinik der MS. Zusätzlich bietet die Facharbeit einen Aktualitätsbezug durch ein 2021 geführtes Interview mit einer Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der MS-Forschung.
Schlagworte
MS, Multiple Sklerose, Epidemiologie, Pathogenese, Ätiologie, Klinik
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Multiple Sklerose. Eine Krankheit mit tausend Gesichtern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1156415

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