Welchem Bild Marias wurde sich bedient? Wie passte das zum Zeitgeist? Ein weiteres Augenmerk wird in diesem Kontext auf die zu der Zeit vorherrschende Mentalität und das damit zusammenhängende Frauenbild gerichtet, welches auch das Bild von Maria prägte. Es sollen mögliche Wege und Entwicklungsmuster aufgezeigt werden. Gleichzeitig wird anhand der Darstellung des Marienkults das Bild Marias als Jungfrau und Gottesmutter im Katholizismus des 19. Jahrhunderts verdeutlicht. Zu diesem Zweck wurden mehrere zeitgenössische Quellen herangezogen, um anhand ihrer den marianischen Zeitgeist der Epoche möglichst multiperspektivisch darzustellen. Die Relevanz des Themas wird darin gesehen, dass die Rezeption Marias das Frauenbild der abendländischen Kultur nachhaltig prägte, was Auswirkungen auf die Geschichte und Gegenwart hatte.
Ziel dieser Arbeit ist es jedoch nicht zu untersuchen, ob es eine gesteigerte Marienfrömmigkeit in dieser Epoche gab, darüber herrscht ein relativer Konsens in der historischen Forschung. Vielmehr sollen hier das Wesen des Marianischen dieser Epoche dargestellt werden und mögliche Auslöser dafür benannt werden. Zu diesem Zweck wird die Marienfrömmigkeit anhand der soziokulturellen, religiösen und politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts untersucht, die sich parallel zu den allgemeinen Zeitströmungen entwickelte. Dabei sollen mögliche Ursachen für das Aufblühen der Marienfrömmigkeit diskutiert werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das lange 19. Jahrhundert
3 Katholische Kirche des 19. Jahrhunderts
3.1 Antimodernismus
3.2 Politischer Katholizismus
3.3 ExkursiMarienerscheinungeninMarpingen 1876/77
4 MarianischeDogmengeschichte
5 Frömmigkeit im 19. Jahrhundert
5.1 Volksfrömmigkeit
5.2 HaltungenimBürgertum
5.3 Ideal derfrommen Frauen
5.3.1 InderFamilie
5.3.2 In derKirche
6 Marienverehrung
6.1 Historische Entwicklung
6.2 BeliebtheitMariasim Volksglauben
6.3 Marienerscheinungen und Wallfahrtswesen
6.4 Das BildMarias
6.4.1 Jungfrau
6.4.2 Gottesmutter
6.4.3 Rezeption und Darstellung
7 Ausblick: Entwicklungen im 20. Jahrhundert
8 Fazit
9 Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Was sich in allen Abstufungen des 'Goikes an die Feier des neuen Mariendogmas knüpf., ist so tief ergreifend, daß man darin den Finger des Allmächtigen nicht verkennen darf, [...] auf die Zuflucht der Sünder gerade in dieser Zeit hinzuweisen, in welcher so Viele nach dem ihnen unbekannten Heile dürsten!
- München, 1855.1
Dieser emotionale Appell aus der Zeitschrift Historisch-politische Blätterfür das katholische Deutschland richtete sich an eine katholische Leserschaft und gewährt einen Einblick in eine stark marianisch geprägte Zeit. Im Zeitalter der Aufklärung schien die Religion in Europa zunächst bedroht von einem rationalistischen Streben nach Vernunft und den Säkularisierungsbestrebungen der Epoche. Doch parallel zum technischen Fortschritt der Industrialisierung, verbreitete sich das für das 19. Jahrhundert womöglich anachronistisch anmutende Phänomen einer gesteigerten Volksfrömmigkeit. Insbesondere ist die Marienfrömmigkeit im Katholizismus, die die soziale Lebenswelt und die Deutungskultur breiter Bevölkerungsschichten prägte, von erheblicher Bedeutung. Die Marienverehrung hatte, wie das eingangs angeführte Zitat verriet, auch eine dogmatische Seite. Maria, eine Frau, trat nun auch heilstechnisch neben den Erlöser. Frömmigkeit und Sittlichkeit gewannen an gesellschaftlicher Bedeutung und zum klassischen Bild einer gutbürgerlichen Familie gehörte auch die Religion, die dabei immer häufiger in den Aufgabenbereich der Frauen fiel, weshalb Angehörigen des weiblichen Geschlechts in dieser Ausarbeitung eine übergeordnete Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ziel dieser Arbeit ist es jedoch nicht zu untersuchen, ob es eine gesteigerte Marienfrömmigkeit in dieser Epoche gab, darüber herrscht ein relativer Konsens in der historischen Forschung. Vielmehr sollen hier das Wesen des Ma- rianischen dieser Epoche dargestellt werden und mögliche Auslöser für diese auffällige Frömmigkeit benannt werden. Zu diesem Zweck wird die Marienfrömmigkeit, die sich parallel zu den allgemeinen Zeitströmungen entwickelte, anhand der soziokulturellen, religiösen und politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts untersucht. Dabei sollen mögliche Ursachen für das Aufblühen der Marienfrömmigkeit diskutiert werden. Dazu wurden im Vorfeld vier Thesen für mögliche Auslöserfaktoren des marianischen Zeitalters aufgestellt, die auf ihre jeweilige Wahrscheinlichkeit und Wirkkraft hin untersucht werden sollen: 1. Maria wurde zu einem politischen Protestsymbol des Katholizismus im Kulturkampf mit der preußischen Regierung. 2. Maria entsprach dem idealtypischen Bild der Frau der romantisch-biedermeierli- chen Gesellschaft und verkörperte den Mutterkult der Zeit. 3. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Feminisierung der Kirche, weshalb Maria als weiblicher Part der Religion besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 4. Maria stellte ein traditionelles und mystifiziertes Ventil als Flucht vor dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt der Moderne dar.
Durch die Auseinandersetzung mit diesen Thesen, die in den historischen Kontext der Zeit eingearbeitet wurden, soll aufgezeigt werden, wie sich der Marienkult im Einzelnen äußerte. Zu fragen ist, welchem Bild Marias sich dabei bedient wurde und wie es sich zum Zeitgeist verhielt. Ein weiteres Augenmerk wird in diesem Kontext auf die zu jener Zeit vorherrschende Mentalität und das damit zusammenhängende Frauenbild gerichtet, das auch das Bild von Maria prägte. Dabei ist es - auch diesseits epistemologischer Überlegungen - nicht das Anliegen dieser Arbeit, eine abschließende Erklärung zu finden. Vielmehr sollen mögliche Wege und Entwicklungsmuster aufgezeigt werden. Konkret wird anhand der Darstellung des Marienkults das Bild Marias als Jungfrau und Gottesmutter im Katholizismus des 19. Jahrhunderts verdeutlicht. Zu diesem Zweck wurden mehrere zeitgenössische Quellen herangezogen, um anhand ihrer den marianischen Zeitgeist der Epoche möglichst multiperspektivisch darzustellen. Als Grundlagenlektüre wurden vor allem die beiden marianischen Sammelwerke von W. Beinert, Handbuch der Marienkunde (1996) und A. Ziegenaus, Das marianische Zeitalter (2002), mit zahlreichen sehr hilfreichen Beiträgen von Theolog:innen und Kirchenhistorikerinnen verwendet. Es sei angemerkt, dass es sich bei dem gewählten Thema offensichtlich nicht um ein in der Forschung aktuell diskutiertes Phänomen handelt, zumindest nicht auf den deutschen Raum und die Epoche bezogen. Die meisten Forschungsbeiträge zum marianischen Zeitalter stammen aus den 1990er bis Anfang der 2000er Jahre, in dieser Zeit sind zahlreiche Publikationen zu diesem Kontext erschienen. Für die vergangenen 20 Jahre ist jedoch ein deutlicher Rückgang der Auseinandersetzung mit dem Thema festzustellen, was jedoch nicht daran liegt, dass bereits alles gesagt worden wäre. Mögliche Gründe hierfür könnten darin liegen, dass das Marianische schlichtweg nicht den Zeitgeist trifft, z. B. in der Feministischen Theologie. Festzuhalten ist, dass es aktuell im lokalhistorischen Raum Deutschlands eine eindeutige Forschungslücke gibt und auch im Zuge dieser Arbeit viele Aspekte angesprochen werden, bei denen es sich lohnen würde, weitere Untersuchungen zu leisten bzw. das Thema unter einem neuen Aspekt zu durchleuchten. Etwas anders sieht die Forschungslage in Spanien und auf dem amerikanischen Kontinent aus: Dort sind in den letzten Jahren einige mit dem vorliegenden Ansatz vergleichbare Publikationen zu Maria erschienen, exemplarisch zu nennen sind hier R. Minguez-Blasco (2021) und M. Rubin (2009). Diese Werke sind jedoch für diese Untersuchung nur begrenzt relevant, weil die Marienverehrung sehr lokaldifferenziert zu betrachten ist und nur durch denjeweiligen historischen Kontext der Region die Dynamiken des Marianischen erkennbar werden. Aus diesem Grund behandelt die vorliegende Arbeit die Marienverehrung ausschließlich im deutschsprachigen Raum des ,langen 19. Jahrhunderts4. Die Relevanz des Themas wird darin gesehen, dass die Rezeption Marias das Frauenbild der abendländischen Kultur nachhaltig prägte, was Auswirkungen auf die Geschichte und Gegenwart hatte und hat. Insbesondere die Rolle als Jungfrau oder Mutter bestimmte lange Zeit den ,Wert‘ einer Frau in der Gesellschaft. Das Interesse daran, wie dies konzipiert wurde, ist bereits der Tatsache geschuldet, dass die Verkörperung von Jungfrau und Mutter in einer Person ein Paradoxon darstellt, was den Vorbildcharakter deutlich erschwert.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt: Im Anschluss an den bisher skizzierten Einblick in die Thematik wird vorweg für ein theoretisches Grundverständnis gesorgt, indem der historische Kontext des 19. Jahrhunderts knapp dargestellt wird. Im Anschluss daran wird ein kirchenhistorischer Blick auf die römisch-katholische Kirche im besagten Zeitraum geworfen und in diesem Zusammenhang auf den Antimodemismus und den politischen Katholizismus der Moderne eingegangen. Um das Ganze zu veranschaulichen, wird ein kleiner Exkurs gemacht, der die politische Wirkkraft des Marianischen exemplarisch anhand der Marienerscheinungen von Marpingen 1876/77 zeigt. Im Anschluss werden die bisherigen Erkenntnisse durch die theologische Seite ergänzt, indem die marianische Dogmengeschichte näher betrachtet wird. Anhand einiger Frömmigkeitsaspekte wird sich im fünften Kapitel zum einen der Volksfrömmigkeit, zum anderen der Tugendhaftigkeit des Bürgertums gewidmet. Zu diesem Zweck wird auf das Ideal der frommen Frau sowohl in der Familie als auch in den Kirchen eingegangen. Kapitel sechs bildet das Herzstück dieser Arbeit und setzt sich explizit mit der Marienverehrung auseinander. Weil dieser Gegenstand den Kern der Arbeit ausmacht, wurde das Kapitel in mehrere Kapitel untergliedert, um dem Thema gerecht zu werden. Zunächst wird eine Skizze zur historischen Entwicklung der Marienverehrung präsentiert, im Anschluss auf die Beliebtheit Marias im Volksglauben eingegangen und die damit zusammenhängenden Marienerscheinungen und das Wallfahrtswesen dargestellt. Mit den bis dahin gewonnen Erkenntnissen wird das Bild Marias als Jungfrau und als Gottesmutter reflektiert, ebenso die Rezeption und Darstellungsformen analysiert. Im Ausblick wird dann auf die Entwicklungen im 20. Jahrhundert eingegangen, woraufhin das Fazit mit einer Zusammenfassung aller Untersuchungsergebnisse folgt.
2 Das lange 19. Jahrhundert
Im Folgenden sollen herausragende Ereignisse und Entwicklungen des 19. Jahrhunderts skizziert werden, mit Fokus auf dem deutschsprachigen Raum.2 Die Bezeichnung des ,langen‘ 19. Jahrhunderts wurde hier gewählt, weil bestimmte Entwicklungen in der Marienverehrung fließende Prozesse waren, deren Ursprünge teilweise bereits im 18. Jahrhundert liegen und deren Ausläufe bis in das 20. Jahrhundert reichen. Daher findet diese Zeitspanne hier Berücksichtigung. Der historische Überblick über die Epoche soll es ermöglichen, im Anschluss eventuelle Zusammenhänge zur erstarkenden Marienverehrung herzustellen. Ebenso ermöglicht es auch, einen ersten Einblick in die zu der Zeit vorherrschenden Mentalität zu nehmen, die auch das Bild Marias nachhaltig prägen sollte.
Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der Bewegung und des Wandels, der Dynamiken und Spannungen und der Ismen'. Idealismus, Positivismus, Nationalismus, Liberalismus, Materialismus und Traditionalismus trafen teilweise in ihren Extremen aufeinander. Es war aber auch eine Phase der Restauration, die auf die Epoche der Aufklärung folgte und als eine Art Gegenbewegung gewertet werden kann - die Romantik und Biedermeierzeit. Aufklärerische Forderungen, wie Presse- und Religionsfreiheit, wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach negativ bewertet und es fand eine Rückwendung zur Vergangenheit und Glorifizierung des katholischen Mittelalters statt.3 Viele Menschen waren angetrieben vom Konservatismus der Zeit. Besonders die Volksfrömmigkeit, die Marienverehrung und der Prunk der Liturgie erlangten wieder neues Ansehen.4 Es entstanden aber auch neue Ideale, wie das Bild der gutbürgerlichen Familie, die damit zusammenhängenden Rollenbilder sowie die Aufwertung des Privaten und der Idylle. Deshalb ist die Romantik als eine „Etappe eines umfassenden soziokulturellen Umstrukturierungsprozesses zu verstehen“, die in Deutschland tiefer wirkte als die Epoche der Aufklärung.5
Die Aufklärung war eine geistige Bewegung vor allem im Europa und Nordamerika des 18. Jahrhunderts, die in erster Linie vom Glauben an die Vernunft und die Freiheit des Menschen geprägt war. In Folge der Französischen Revolution von 1789 kam es zu Umbrüchen der europäischen Herrschaftsverhältnisse und religiösen Zustände. Die soziale Klasse der Gelehrten in Deutschland unterschied sich, was die Radikalität betraf, von den Verhältnissen, die beispielsweise in England oder Frankreich herrschten: „Sie bevorzugte metaphysische Probleme, neigte im Gefolge von Leibniz und Christian Wolff zum Deismus, befasste sich ausführlich mit der Naturrechtslehre und war in der gesellschaftlichen Kritik zurückhaltender.“6 Der Beginn des 19. Jahrhundert gilt als Ära Napoleons, dessen Truppen weite Gebiete Deutschlands besetzten, der den Adel entmachtete und zahlreiche Reformen im Bil- dungs-, Verwaltungs- und Finanzwesens sowie im Rechtswesen durch den Code Civil mit sich brachte. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons in den Koalitionskriegen, 1815, wurde Europa auf dem Wiener Kongress neu geordnet bzw. der Zustand, der vor der Französischen Revolution herrschte, teilweise wiederhergestellt. Dabei wurde Deutschland nicht, wie seine Nachbarländer, zu einem Nationalstaat, sondern schloss sich zum Deutschen Bund zusammen, der faktisch bis zur Märzrevolution, rechtlich bis 1866 Bestand hatte. 1819 wurden die Karlsbader Beschlüsse verabschiedet, die eine starke Einschränkung jeglicher politischen Betätigung des Bürgertums bedeuteten und auf deren Grundlage literarische Werke, die Presse und die Lehre an den Hochschulen zensiert wurden. Der deutsche Vormärz war außerdem vom Konflikt der überwiegend protestantischen preußischen Obrigkeit und der katholischen Bevölkerung geprägt. Nicht nur konfessionelle, sondern auch weltanschauliche Gegensätze trafen hier aufeinander.
Die Phase der Restauration wurde durch die Revolution abgelöst: Die Märzrevolution von 1848/49 zeigte der Herrschaft der Fürsten Grenzen und zwang sie zu politischen Reformen. Die Revolutionäre setzten sich mit einem gemeinsamen Ziel aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammen, auch Frauen kämpften an vorderster Front mit.7 Auf der Frankfurter Nationalversammlung tagte erstmals eine gesamtdeutsche verfassungsgebende Versammlung, die sich die Aufgabe gesetzt hatte, die Grundrechte der Deutschen festzulegen und eine Verfassung auszuarbeiten. Das Ergebnis war ein Katalog von Grundrechten, wie der Meinungs- und Glaubensfreiheit, weiterhin sollte in Deutschland eine konstitutionelle Monarchie mit Gewaltenteilung etabliert werden. Dieser Plan scheiterte zwar, was jedoch blieb, waren die politischen Parteien, die eigenständige Ziele und Ideologien vertraten. Darunter befanden sich Vorstufen der Sozialdemokratie und des Kommunismus, Liberale, monarchietreue Konservative und katholische Parteien als Vorläufer der späteren Zentrumspartei, die ca. vier Fünftel aller deutsch-katholischen Wählerstimmen gewinnen würde.8 Erst 1871 wurde der Wunsch nach einem einheitlichen Nationalstaat mit der kleindeutschen Reichsgründung verwirklicht. Gegen Otto von Bismarck war zwar das Ringen um eine liberale Verfassung im Wesentlichen gescheitert, doch folgte seine Regierung einem ambivalenten, moderne Elemente aufgreifenden oder antizipierenden Konservatismus, der beispielsweise die jährlich zu erneuernden Sozialistengesetze und die dauerhafte Einführung von Sozialversicherungen verband, die als Antwort auf die soziale Frage verstanden wurden.
Ausschlaggebend für den globalen Wandel war vor allem die Industrialisierung, die in Deutschland vergleichsweise erst spät einsetzte. Durch die Entwicklung von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft setzte in kaum vorstellbarer Geschwindigkeit eine anhaltende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ein und Deutschland verwandelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte neben dem Vereinigten Königreich und Frankreich zu einem der führenden Industriestaaten. Die Erfindung der Dampfmaschine war der erste Schritt in eine von Technik und Mobilität geprägten Gesellschaft gewesen, Chemie- und Elektroindustrie machten insbesondere in Deutschland früh die sogenannte zweite industrielle Revolution aus, eine Entwicklung, die sich dem Fortschrittsglauben verschrieb und einen nachhaltigen Wandel in der Lebenswelt der Menschen mit sich brachte. Der globale Handel, die großen Migrationsbewegungen, der zunehmende Einfluss der ,Neuen Welt‘ und die Beschleunigung der Kommunikation zwischen den Kontinenten führte zu einer beginnenden weltweiten Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Kultur. Dadurch eröffneten sich neue Möglichkeiten, wovon insbesondere die Medizin und viele andere wissenschaftliche Disziplinen profitierten, was wiederum praktische Verbesserungen für zahlreiche Menschen brachte. Die Kehrseite waren die kolonialen und imperialen Bestrebungen, die zu einem Wettbewerb und internationalen Spannungen führten.
Die industrielle Revolution brachte weitgreifende Veränderungen mit sich. Zu den schicksalhaftesten gehörte die Entstehung der Großstädte. Viele Bauern und kleine Handwerksbetriebe mussten ihre Existenzen aufgeben, weil sie durch die schneller und günstiger industriell hergestellten Waren nicht mehr konkurrenzfähig waren. Sie zogen in die Städte, um dort Arbeit in Fabriken zu finden. Es kam zu einer Umschichtung der Bevölkerung vom Land in die Stadt, was zu einem raschen Wachstum der Bevölkerung und der Städte führte. Letztlich hatte dieser Vorgang auch einen indirekten Einfluss auf die sinkenden Kirchgängerzahlen, weil viele ihre Gemeinden verließen und in der Anonymität der Großstädte nicht mehr bzw. seltener in die Kirchen gingen.9 Die Urbanisierung führte auch zu sozialen Missständen. Durch den stetigen Andrang an Menschen kam es zu einem Wohnungs- und Arbeitsplatzmangel, die schlechten Löhne und Arbeitsbedingungen in den Fabriken führten zu einer Verarmung des Proletariats. Das Elend der Arbeiterklasse, aber auch das der verwaisten Landbevölkerung, wurde als ,soziale Frage‘ verhandelt. Lösungsversuche seitens der Parteien, Gewerkschaften, der Unternehmer, aber auch der Kirchen trugen zur Etablierung einer Sozialpolitik bei. Im Zuge dessen kam es zu sozialen Reformen, wie der Einführung von Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen, das Armenrecht stellte eine basale Vorstufe der modernen Sozialhilfe dar. Die sozialen Missstände wurden von den Kirchen früher als von der Regierung wahrgenommen, es entstanden Wohlfahrtsverbände wie die römisch-katholische Caritas und die Diakonie der evangelischen Kirchen Deutschlands. Diese fühlten sich verpflichtet, nach christlicher Soziallehre Fürsorge für Bedürftige zu betreiben.1011
Der Pauperismus brachte aber auch noch andere Phänomene mit sich: Das Elend der Arbeiterklasse war die Geburtsstunde des Sozialismus. Durch den unaufhörlichen Aufstieg des Kapitalismus und den damit verbundenen wachsendem Reichtum der Unternehmer, während die Arbeiterschicht zunehmend in Bedrängnis geriet, fand die Idee des Kommunismus starken Anklang. Federführend dabei war Karl Marx, der als Gesellschafts- und Religionskritiker der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft ein breit aufgenommenes Theoriegerüst bot. Eine gänzlich andere Geschichte schrieb die gesellschaftliche Schicht des neuen gehobenen Bürgertums. Sie ersetzte im Grunde den Adel in der Funktion als führende Schicht. Die Gesellschaft entwickelte sich von einer Stände- in eine Klassengesellschaft, von nun an zählte nicht mehr explizit das Geburtsrecht, sondern wirtschaftliche Aspekte bestimmten das Leben der Menschen.
Eine weitere nicht außer Acht zu lassende Bewegung des 19. Jahrhunderts war die Frauenrechtsbewegung, die sich nach der 1848er-Revolution allmählich organisieren konnte, vor allem in Preußen aber durch das Frauen betreffende Vereinigungsverbot behindert blieb. Nachdem viele Frauen sich am politischen Kampf beteiligt hatten, indem sie sich z. B. intensiv mit der sozialen Frage befassten und engagierten, mussten sie feststellen, dass sie hinsichtlich des allgemeinen Wahlrechts übergangen wurden.11 Als Antwort darauf organisierten sich einige Frauen zu Frauenvereinen und gründeten ihre eigenen Zeitungen und Zeitschriften, was ihnen nach dem Scheitern der Re- volutionjedoch namentlich in Preußen wieder untersagt wurde. Frauen waren parlamentarisch nicht vertreten und mussten darauf vertrauen, dass die linksliberalen, später sozialistischen Parteien ihre Interessen mitvertraten.12 In der Folge beschränkte sich die Arbeit der Frauenbewegung in erster Linie auf soziale Projekte, z. B. die Mädchen- und Frauenbildung. Allerdings waren die ersten Strukturen einer Organisation geschaffen und so wurde mit den karitativen und sozialen Frauenprojekten der Grundstein für die im späten 19. Jahrhundert verstärkten Vereinigungen der Frauenrechtsbewegung gelegt, die Massenproteste, Kundgebungen und Petitionen beinhalteten.13 Neben dem Kampf um politische Teilhabe durch das Wahlrecht und den Zugang zu politischen Ämtern forderten die Frauen eine bessere Bildung für Mädchen und Frauen, was auch die Zulassung an Universitäten und eine freie Berufswahl beinhaltete.
3 Katholische Kirche des 19. Jahrhunderts
Ebenso, wie das ,lange 19. Jahrhundert“ nicht exakt datierbar ist, hat auch das ,marianische Zeitalter4 einen vage gesteckten Zeitrahmen. Gemeint ist hier eine Epoche der Kirchengeschichte, in der sich eine deutliche marianische Frömmigkeit abzeichnete und mariologische Lehraussagen getroffen wurden. Als ungefähre Eckdaten kann das Jahr 1830 als Beginn einer deutlich erkennbaren Marienfrömmigkeit und das vierte Mariendogma zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950 als vorläufiges Ende angeführt werden.14 Im Folgenden wird ein Gesamtüberblick über die Situation der römisch-katholischen Kirche im marianischen Zeitalter gegeben.
Die katholische Kirche war, ebenso wie die übrige Gesellschaft, von den politischen und technischen Entwicklungen der Zeit geprägt, versuchte sich aber gezielt von den modernen und liberalen Strömungen abzugrenzen. Der Trend zum Konservatismus zu Beginn des Jahrhunderts zeichnete sich besonders in der wieder entfachten Volksfrömmigkeit ab, die nicht nur die Lebenswelt der Gläubigen prägte, sondern sich auch im Einflussbereich der kirchlichen Hierarchie abzeichnete. Nachdem die Kirchen während der Aufklärung große Verluste erlitten, sowohl in Hinsicht auf die aktive Mitgliederzahl als auch durch den Funktionsverlust, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst eine außergewöhnliche Steigerung der Volksreligiosität erkennbar.15 Politisch betrachtet hatte insbesondere die katholische Kirche in Deutschland zuvor herbe Einschnitte in ihrem Machtbereich zu verzeichnen. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 verlor sie zahlreiche Territorialgebiete an weltliche Fürsten, die vom deutschen Kaiser für ihre Gebietsverluste an Frankreich entschädigt werden sollten. Die Machteinbuße der klerikalen Herrschaft Anfang des 19. Jahrhunderts kann als Spätfolge aufklärerischen Gedankenguts, das die Säkularisation befürwortete, gewertet werden.16 Die schweren äußerlichen Verluste führten zu einer Konzentration auf den innerkirchlichen Zusammenhalt. Nach der französischen Besatzungszeit blieb auch unter gebildeten Deutschen ein bitterer Beigeschmack gegenüber den aufklärerischen Strömungen, was den Kirchen, die selbst Opfer der Revolution waren, Sympathien einbrachte.17
Das 19. Jahrhundert bedeutete für die katholische Kirche ein Auf und Ab. Zunächst, während der restaurativen Stimmung der Romantik, erfuhr sie eine unerwartete Rückkehr nach der Epoche der Aufklärung, bedingt u. a. durch die - erzwungene - Beweglichkeit, die von der Landesherrschaft entlastete Geistliche gewonnen hatten. Der Sachverhalt war ausschlaggebend dafür, dass der Papst 1870 auch ideenpolitisch seine Unanfechtbarkeit in Glaubensfragen besiegeln konnte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt änderte sich die Position der katholischen Kirche bzw. schlug die Stimmung im Volk vielfach um und aufklärerische Gedanken gewannen in einigen Schichten (v. a. Bildungsbürgertum) wieder mehr an Bedeutung. Allerdings gab es auch hier regionale und sozioökonomische Unterschiede, weshalb nicht pauschal von einer Blütezeit bzw. Krisenphase des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert gesprochen werden kann. Außenpolitisch kam den Kirchen im Zeitalter des Kolonialismus zudem die Rolle aktiver Missionare zu. In wenigen Jahrzehnten wurden hunderttausende Menschen in Asien und Afrika getauft.18 In den USA entstanden zu dieser Zeit zahlreiche Vereinigungen mit einigem Erfolg, wie die Zeugen Jehovas, die Mormonen oder die Pfingstbewegung.19
Das Selbstbild der Gesellschaft war zu Beginn der Moderne in dem Sinne positivistisch, dass es von einem kontinuierlichen Fortschrittsglauben geprägt war. Die neuen technischen Erfindungen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen übertrafen sich gegenseitig in einer Geschwindigkeit, die von vielen Zeitgenossen als schwindelerregend wahrgenommen wurde. Es schien, als sei der Mensch nun in der Lage, die Naturgewalten und -gesetze zu beherrschen und sie nach seinem Geschmack zu formen. Für das Christentum bedeutete dies, „die neue Erkenntnis der Leistungsfähigkeit des Menschen theologisch zu verarbeiten“,20 der Mensch als Ursprungskraft löste nun Gott als bisheriges Zentrum des Universums ab. Dieser Positivismus hing eng mit dem Glauben an eine Unfehlbarkeit der Wissenschaft zusammen. Für viele Menschen wurde die Wissenschaft derart sinngebend, dass sie zu einer Ersatzreligion wurde. Parallel zum wiederaufkommenden Volksglauben, wie er in dieser Arbeit thematisiert wird, entstand mit dem organisierten bzw. expliziten Atheismus eine zweite, gegensätzliche Strömung.21
Die sozialen Probleme der Industrialisierung führten dazu, dass es vielen Menschen an Orientierung und Leitbildern fehlte. Die „Sinnhaftigkeitslücke“ konnte von der positivistischen Wissenschaft nur teilweise gefüllt werden. An die Stelle der christlichen Religion, teils mit ihr verwoben, trat für viele nun ein ausgeprägter Nationalglaube, der sich vielfach im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend mit einer Rassenlehre verband, die unter dem Regime der Nationalsozialisten in offenem Staatsterror münden sollte.22 Der Kirchenhistoriker B. Moeller beurteilt die Situation dahingehend, dass die Kirche in dieser Sachlage ihre Chancen vertan habe, viele orientierungslose Menschen von sich zu überzeugen:
Sie reagierte in erster Linie abweisend und vermochte gegenüber den aufziehenden Gefahren, der Verhaftung des Menschen im Bereich des Animalischen und seiner Degradierung zum Massenwesen, ihre eigenen, so viel humaneren und angemesseneren Einsichten nicht überzeugend geltend zu machen.23
Ein weiteres Merkmal des Katholizismus des 19. Jahrhunderts stellte die wachsende karitative Tätigkeit dar. In dem Aufschwung, den die katholische Kirche gegen Mitte des Jahrhunderts erlebte, wurden auch neue, mitgliedsstarke Orden gegründet. Vor allem die weiblichen Ordensgemeinschaften betätigten sich in der Krankenpflege, Armenfürsorge und Bildung.24 In diesem Zusammenhang entstanden Laiengruppen und Frömmigkeitsvereine, wie die Herz-Jesu- oder die Herz-Mariä-Gemeinschaft, die eine Mittlerstellung zwischen Öffentlichkeit und Pflege des innerkirchlichen Lebens einnahmen.25 Besonders die Ordensgemeinschaften hielten die Marienverehrung aufrecht und verteidigten sie inbrünstig gegen äußere und innere Widerstände.
3.1 Antimodernismus
Im Katholizismus des 19. Jahrhunderts entstand, als neue Bewegung in Reaktion auf den raschen Fortschritt und die Veränderungen in der Gesellschaft, ein Antimodernismus, der sich gegen die Werte der Moderne und gegen die Ideen der Aufklärung richtete. Nahezu alles Fremde und Neue wurde als etwas Schlechtes, wenn nicht sogar als eine Versuchung des Bösen gesehen. Stattdessen betonte der Antimodernismus die göttliche Offenbarung und die katholische Lehramtstradition. Den Höhepunkt erreichte die Bewegung 1864 durch die von Papst Pius IX. vorgelegte Erklärung Quanta cura. die sich deutlich gegen eine Säkularisierung aussprach.26 27 Beigefügt waren die Postulate der Syllabus errorum. die sich gegenjegliche moderne Strömung, von Volkssouveränität, über Glaubensfreiheit bis hin zum Rationalismus richtete, die vom Papst als Irrlehren verworfen wurden. So erklärte dieser beispielsweise folgende Aussage als verwerflichen Irrtum: „Der römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur aussöhnen und verständigen.“ 21 Damit positionierte sich die römischkatholische Kirche deutlich antimodernistisch. Im Folgenden soll dargestellt werden, wogegen sich dieser Antimodernismus konkret richtete und welche Folgen er für den Katholizismus in Deutschland mit sich brachte.
Insbesondere in den Naturwissenschaften kam es zu fundamentalen Erkenntnissen, die bisherige Weltmodelle auf den Kopf stellten. Das prominenteste Beispiel ist die Entstehung der Evolutionstheorie von Charles Darwin und die daraus resultierende Verbreitung, in Deutschland durch Ernst Haeckel geleistet, welche die biblische Offenbarung der Schöpfungsgeschichte in Frage stellte. Aber auch Entwicklungen in der theologischen Wissenschaft, wie z. B. die Leben-Jesu-Forschung von David Friedrich Strauß, die Religionskritik Ludwig Feuerbachs oder die historisch-kritischen Bibelforschung, hinterfragten bisher allgemeingültige Glaubenssätze.28 Statt sich vornehmlich der sozialen Krise, die durch die Industrialisierung ins Land brach, zu widmen, konzentrierte sich die katholische Kirche vielfach darauf eine theologische Gegenströmung mit der antimodernistischen Neuscholastik zu etablieren. So reagierten ihre für Glaubensfragen berufenen Vertreter abwehrend gegenüber Kritikern mit Sanktionen, Zensur und dem aktualisierten Index der verbotenen Bücher. Zeitgenössische Ideen wurden als Irrlehren verworfen, was besonders im Bildungsbürgertum als Beweis einer offenkundigen Rückständigkeit der Kirche gewertet wurde.29 Diese Entwicklung setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort, es wurde seit 1910 und bis 1967 katholischen Geistlichen der „Anti-Modemisten-Eid“ abverlangt, in dem sie sich dazu verpflichteten, von modernen Lehren, wie der Evolutionstheorie oder der historisch-kritischen Bibelforschung, Abstand zu nehmen.30
Falsch wäre es jedoch zu behaupten, dass der Katholizismus sich prinzipiell gegen die Moderne stellte. Das würde allein darum keinen Sinn ergeben, weil sich die in der Zeit des Vormärz entstehenden politisch-katholischen Gruppierungen in Deutschland selbst der Mittel des modernen Rechtsstaats bedienten, indem sie vom Recht auf die Presse- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machten und sich schrittweise selbst der bürgerlich-kapitalistischen Moderne annäherten.31 In diesem Zusammenhang entstand in Deutschland der politische Katholizismus als eine eigenständige Größe, die selbst ein Kind der Moderne war.
3.2 Politischer Katholizismus
Der politische Katholizismus ist eine Weltanschauung, die die Glaubenslehren der römisch-katholischen Kirche zum Fundament politischer Entscheidungen zu machen bezweckt und die Interessen der Katholiken politisch durchzusetzen versucht. Die Moderne brachte dem Katholizismus eine neue politische Relevanz und es kam zu Vereins-, Fraktions- und Parteigründungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei werden mit Blick auf die katholische Welt regelmäßig zwei Lager unterschieden: die Liberalen und die (Ultra-)Montanisten. Erstere vertraten die grundsätzlichen Werte der Aufklärung und Französischen Revolution und setzten sich für die Bürgerrechte ein. Ihre Philosophie war es, die katholischen Werte mit jenen der Moderne in Einklang zu bringen. Aus dieser Fraktion kam der lauteste Protest gegen das Unfehlbarkeitsdogma von 1870. In Bayern, auch in Baden und Preußen, wurde beispielsweise unter den Liberalen eine Konfessionstrennung von Rom als Altkatholische Kirche angestrebt, was zu Unsicherheiten unter den katholischen Gläubigen führte.32 Dem Klerus gelang esjedoch, die Mehrheit der Gläubigen weiter geschlossen hinter sich zu halten und letztendlich stagnierte der Altkatholizismus und auch die Liberalen blieben größtenteils Mitglieder der römisch-katholischen Kirche.33 Die innerkirchliche Gegenbewegung des liberalen Katholizismus hatte insgesamt neben dem Ult- ramontanismus kaum eine Chance und blieb eine Minderheit in der Zentrumsfraktion.34
Trotzdem gab es im deutschen Vormärz Oppositionsbewegungen, die einen bleibenden Einfluss auf die späteren Entwicklungen hinterließen. Hier sei auf die national-liberalen Reformbewegungen in den 1840er Jahren hingewiesen, in denen sich auch schicht- und konfessionsübergreifend viele Frauen engagierten. Zunächst ging der Impuls von deutschkatholischen Gemeinden aus, die sich zum Ziel setzten, sich von Rom zu lösen und eine eigene deutsche Nationalkirche zu etablieren. Einer der Rädelsführer Johannes Ronge, ein katholischer Priester, setzte dabei auch die Emanzipation der Frau zum Ziel, da die „erlösende Kraft der Liebe“ vor allem bei ihnen zu finden sei.35 Innerhalb der meisten Bewegungen erhielten Frauen daraufhin auch das aktive und passive Wahlrecht.36 Revolutionär war es, dass zum ersten Mal Frauen und Männer gemeinsam in einer Bewegung aktiv waren, weil zuvor die Frauen- und Männerwelten außerhalb des privaten Raums streng getrennt waren.37 Die Bewegung entwickelte sich zum Bund der Freireligiösen Gemeinde und forderte eine religiöse Reform, politische Emanzipation und Mitbestimmung in kirchlichen Angelegenheiten.38 Die Bewegung blieb eine Minderheit und konnte vor allem in den ländlichen und kleinstädtischen Regionen kaum Fuß fassen.39
Die Ultramontanisten profilierten sich hingegen durch eine „Abgrenzung nach außen und die Homogenisierung nach innen“.40 Sie schätzten die neuen Strömungen der Moderne primär als eine Gefahr für den Glauben ein und standen dem Konzept der Gleichheit aller Bürger und der Volkssouveränität kritisch gegenüber, weil sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt (Monarchie) festhielten.41 Der Ultramontanismus stützte sich auf den Antimodernismus und schlug zunächst auch in Deutschland eine stark an Rom orientierte Richtung ein. Er definierte sich in erster Linie, neben seiner engen Bindung an den Papst, durch eine strenge Hierarchie, eine antimodeme und kontroverstheologische Priesterbildung sowie eine neu belebten Sündenpredigt und Kirchenzucht.42 In einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs und raschen Fortschritts, in der sich gerade die ländliche Bevölkerung verunsichert und überwältigt fühlte, bot der Katholizismus den Gläubigen eine Verhaltenssicherheit mit klaren konservativen Ansichten und einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl.43
Aber was Alle erfreut, die eines Geistes sind, was die Gegner bald mit Wehmuth, bald mit Unwillen erfüllt, das ist die großartige Entfaltung katholischer Einheit, wie sie die jüngsten Monate vor aller Welt in dem glanzvollsten Lichte zeigten.44
Gleichwohl muss schon den Zeitgenossen klar gewesen sein, dass ihre Ziele, sich ganz vom Fortschritt fernzuhalten, illusionär waren, denn der technische, medizinische und auch geisteswissenschaftliche Fortschritt war nicht mehr umkehrbar.45 Mit der Politisierung des Katholizismus und der ultramontanen Bewegung bildete sich die deutsche Zentrumspartei, deren Erfolg vor allem darin lag, dass sie Katholiken aus allen Schichten hinweg ansprach.46 Im Klerus wurde die Partei hingegen misstrauisch betrachtet, da sie zuweilen zu parlamentarischen Kompromissen gezwungen war, die der ultrakonservativen Linie nicht immer folgen konnte.47
Der Katholizismus bildete sich zu einer politischen Größe heraus, was auch seitens der deutschen Fürsten und der religionskritischen Liberalen äußerst kritisch betrachtet wurde. Die religiösen und weltanschaulichen Differenzen trafen aufeinander, es kam zu Grundsatzkonflikten um den Einfluss der Kirche auf die normativen Teile der Lebenswelt. Ein Beispiel dafür gab der Mischehenstreit der 1830er Jahre, der seinen Konflikthöhepunkt in den Kölner Wirren erreichte. Dem lag zugrunde, dass es durch die 1815 neu etablierte preußische Herrschaft im katholischen Rheinland, verbunden mit einem mehrheitlich protestantischen höheren Beamtenapparat sowie durch die sozioökonomischen Prozesse der Industrialisierung mit ihrer verstärkten Mobilität zu einer gewissen Konfessionsdurchmischung kam, die dann zu einer steigenden Zahl evangelisch-katholischer Mischehen führte.48 Das protestantische Preußen herrschte über das überwiegend katholische Rheinland und schaffte es nicht, die katholischen Einwohner an ihre säkulare Vorstellung des Staates heranzuführen. Das führte schließlich zu tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen katholischen Bürgern und der preußischen Staatsgewalt. Als im Zuge der Auseinandersetzung der Kölner Erzbischof verhaftet wurde, löste dies einen Solidarisierungseffekt unter den westfälischen Katholiken aus und es kam auch zu einer Frömmigkeitswelle.49 Die Kölner Wirren zeigten, wie die katholische Volksreligiosität und der Zusammenhalt durch die Bemühungen des preußischen Staates, sie zu unterbinden, nur noch stärker wurde.50 Als sich Deutschland 1871 zu einem Nationalstaat entwickelte, wuchs das Misstrauen gegenüber den deutschen Katholiken und ihrer Papsttreue. Tatsächlich fühlten sich viele Katholiken, die unter den Bedingungen der kleindeutschen Lösung zur konfessionellen Minderheit geworden waren, zunächst näher mit der Tradition des Alten Reichs oder dem katholischen Österreich verbunden.51 Die bis hierher angeführten Umstände mündeten letztlich im sogenannten Kulturkampf. Dabei handelte es sich primär um eine Auseinandersetzung zwischen dem protestantischen Preußen unter der Führung von Reichskanzlers Otto von Bismarck und der katholischen Kirche unter der Führung von Papst Pius IX., die seit 1871 eskalierte. Der Konflikt wurde überwiegend auf der Ebene bürokratischer und legislativer Restriktionen sowie publizistisch geführt. Die öffentliche Meinung wurde gegen die Regierung in Berlin durch Proteste, Petitionen, Zeitungsartikel und die Beteiligung an parlamentarischen Bewegungen mobilisiert, was die zunehmende Öffentlichkeitsmacht des politischen Katholizismus demonstrierte.52 Letztlich ging es um die Frage nach der Verödung der Religion im modernen Staat. Streitpunkt war, dass die einst mächtige römisch-katholische Kirche, die 1870 mit dem italienischen Stato Pontificio ihr letztes Gebiet als Staat im Sinn der modernen Staatslehre verloren hatte, sich den Absolutheitsansprüchen der Nationalstaaten nicht unterordnen wollte, gewiss nicht hinsichtlich religiöser Fragen.53 Die Kirche war nach zeitgenössischer Wahrnehmung als deutliche Siegerin aus der Märzrevolution hervorgegangen, die ihre Position stärkte: „Von allen öffentlichen Autoritäten hat die Kirche allein •vollwichtigen Erfolg aus unserer Revolution gewonnen. Alle anderen Mächte schwächten sich gegenseitig: die Macht der Kirche ist um das Zehnfache gewachsen. “54 Wilhelm Heinrich Riehl begründet diese Einschätzung durch die Volksnähe und Mobilisierungsfähigkeit insbesondere der katholischen Kirche. Während die Protestanten durch eine Kirchenverfassung eng mit dem Staat verbunden waren und dessen Autorität weniger skeptisch gegenübertraten, verfolgte Bismarck eine aggressiv anti-katholische Politik, indem er z. B. zahlreichen Diözesen die Leistungen aus Staatsmitteln strich oder mit dem Personenstandsgesetz von 1875 die Verpflichtung zur obligatorischen Ziviltrauung einführte.55 Bismarck konnte sich langfristig aber nicht durchsetzen und es kam 1878 schließlich zu einer Annäherung zwischen Staat und katholischer Kirche.56 Ein Nebeneffekt des Kulturkampfes war die weitere Herausbildung von katholischen Milieus als eine besondere Sozialform, die sich von der Mehrheitsgesellschaft in eigenen Clubs und Vereinen abgrenzte.57 Die evangelischen Kirchen im Deutschland des 19. Jahrhunderts waren währenddessen regional getrennt und eigentlich nur durch zwei Grundhaltungen miteinander verbunden: zum einen den mitunter militanten Antikatholizismus, zum anderen einen Nationalprotestantismus, der sich aus der Verbindung von evangelischer und nationaler Gesinnung ergab, die in der Reichsgründung von 1871 die „Erfüllung einer besonderen nationalen Mission der Protestanten, die mit der Reformation begonnen hatte“ sahen.58
[...]
1 O.V.: ZurFeierderlmmaculata, 163.
2 Wenn im Folgendem die Rede von „Deutschland“ ist, dann wird sich grob auf das deutschsprachige Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs (bis 1806), bzw. dem ab 1871 gegründeten Deutschen Reich bezogen, in dem Bewusstsein, dass hier nur bedingt von einer Einheit ausgegangen werden kann.
3 Vgl. De Fiores: Maria, 206.
4 Vgl. Moeller: Geschichte des Christentums, 320.
5 Bunzel: Romantik, 7.
6 Vrankic: Marianische Frömmigkeit, 65.
7 Vgl. Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte, 113.
8 Vgl. Blackboum: Marienerscheinungen im Bismarckreich, 200.
9 Vgl. Moeller: Geschichte des Christentums, 326.
10 Vgl. ebd., 332.
11 Vgl. Gerhard: FrauenbewegungundRecht, 37.
12 Vgl. ebd.
13 Vgl. ebd., 39.
14 Vgl. Scheffczyk: Kennzeichenund Gestaltkräfte, 180
15 Vgl. Birke: NationundKonfession, 396.
16 Vgl. Moeller: Geschichte des Christentums, 309f.
17 Vgl. ebd., 323.
18 Vgl. ebd., 339.
19 Vgl. ebd., 340.
20 Ebd., 311.
21 Vgl. ebd., 327f.
22 Vgl. ebd., 330.
23 Ebd., 333.
24 Vgl. Ziemann: Religion, Konfessionund säkulares Wissen, in: bpd.de.
25 Vgl. Guth: Marianische Wallfahrtsbewegungen, 427.
26 Vgl. Pius IX: Syllabus, 2901-2980.
27 Ebd., 2980.
28 So z. B. durch die Wiederentdeckung von altorientalischen Schriftstücken wie dem Gilgamesch-Epos, was eine deutlich ältere Fassung der Fluterzählung, als sie in der Bibel zu finden ist, enthielt und daher bei Zeitgenossen für Empörung sorgte.
29 Vgl. Moeller: Geschichte des Christentums, 345.
30 Vgl. Greschat: Konfessionalismus, 289f.
31 Vgl. Loth: Deutscher Katholizismus, 10; Vgl. Ziemann: [Art.] Religion, Konfession und säkulares Wissen.
32 Vgl. Blessing: Kirchenfromm, 99.
33 Vgl. ebd.
34 Vgl. Loth: DeutscherKatholizismus, 10.
35 Vgl. Paletschek: Auszug derEmanzipierten, 61.
36 Vgl. Paletschek: Frauenund Säkularisierung, 308.
37 Vgl. ebd., 309.
38 Vgl. Paletschek: Auszug derEmanzipierten, 48.
39 Vgl. ebd., 51.
40 Vgl. Ziemann: [Art.] Religion, Konfessionund säkulares Wissen.
41 Vgl. De Fiores: Maria, 206.
42 Vgl. Blessing: Kirchenfromm, 97.
43 Vgl. ebd., 99.
44 Görres: Zur Feier der Immaculata, 163.
45 Vgl. Loth: DeutscherKatholizismus, 12.
46 Vgl. Blessing: Kirchenfromm, 98.
47 Vgl. ebd., 101.
48 Vgl. Paletschek: Auszug derEmanzipierten, 55.
49 Vgl. Keinemann: KölnerEreignis, 60.
50 Vgl. Schmiedl: Jungfrau Maria, 110. Das zeigte sich z. B. an einer deutlich steigenden Anzahl katholischer Zeitungen.
51 Vgl. Birke: NationundKonfession, 411.
52 Vgl. ebd., 399.
53 Vgl. Dittrich: MaterEcclesiae, 443.
54 Riehl: Land und Leute, 412.
55 Vgl. Paletschek: Frauenund Säkularisierung, 316.
56 Vgl. Ziemann: [Art.] Religion, Konfessionund säkulares Wissen.
57 Vgl. Schmiedl: JungfrauMaria, 115.
58 Ziemann: [Art.] Religion, Konfession und säkulares Wissen.
- Arbeit zitieren
- Leonie Schneider (Autor:in), 2021, Jungfrau und Gottesmutter: Das Bild von Maria im Katholizismus des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1156538
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.