Historischer Rückblick der erlebnispädagogischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen und ihre heutige Ausprägung im Jugendstrafvollzug


Seminararbeit, 2003

25 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


1 Einleitung

2 Geschichtliche Hintergrnde der Erlebnispdagogik
2.1 Das Erfahrungslernen im Spiegel der Jahrhunderte
2.1.1 Anfnge im 18. Jahrhundert
2.1.2 Die Schulreformen im 19. Jahrhundert
2.1.3 Landerziehungsheimbewegung und Erlebnistherapie im 20. Jahrhundert
2.2 Wegbereiter der erlebnispdagogischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen
2.2.1 Giovanni Bosco
2.2.2 August Aichhorn
2.2.3 Edward Josef Flanagan
2.2.4 Anton Semenovic Makarenko

3 Moderne Erlebnispdagogik im Jugendstrafvollzug
3.1 Gesetzliche Regelungen
3.2 Alltag im Jugendstrafvollzug
3.3 Erlebnispdagogik im Jugendstrafvollzug
3.3.1 Erlebnispdagogik in der Jugendstrafanstalt Adelsheim
3.4 Sinn und Zweck erlebnispdagogischer Arbeit mit strafflligen Jugendlichen.

4 Schluss

1. Einleitung

Diese Arbeit wird sich mit der Umsetzung der Erlebnispdagogik im Jugendstrafvollzug und ihrer Auswirkungen auf die teilnehmenden jugendlichen Insassen auseinandersetzen. Dazu wird ein historischer Abriss einen Einstieg in dieses Thema bieten. Dabei sollen ei- nerseits die allgemeinen geschichtlichen Hintergrnde aufgezeigt werden, andererseits soll auch den Wegbereitern der erlebnispdagogischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen Bedeutung zukommen. Anschlieend soll ein Einblick in die gegenwrtige Alltagssituation im Jugendstrafvollzug Vergleichsmglichkeiten zur erlebnispdagogischen Arbeit mit ju- gendlichen Strafflligen bieten. Diese soll anhand einiger Unternehmungen und deren Wir- kungen auf die Teilnehmer der Haftanstalt Adelsheim in Baden-Wrttemberg veranschau- licht werden. Letztlich wird eine kurze Darstellung der gegenwrtigen Kritik an der erleb- nispdagogischen Arbeit im Jugendstrafvollzug, aber auch ihrer Verdienste erfolgen.

2. Geschichtliche Hintergrnde der Erlebnispdagogik

2.1. Das Erfahrungslernen im Spiegel der Jahrhunderte

2.1.1. Anfnge im 18. Jahrhundert

Die heutige Erlebnispdagogik findet ihre Wurzeln in der Zeit der franzsischen Aufkl- rung im 18. Jahrhundert. Der wichtigste und wohl auch in jener Zeit umstrittenste pdago- gische Vertreter war Jean Jacques Rousseau (1712-1778). In seinem pdagogischen Hauptwerk Emile - ber die Erziehung beschrieb er seine Vorstellungen einer kindge- rechten und naturgemen Erziehung. Ausschlaggebend fr Rousseau war dabei, dass der Zgling in und durch die Natur, auerhalb der feudalen Gesellschaft in einer pdagogi-

schen Provinz1 erzogen wurde. Dabei sollten vorrangig die individuellen Potentiale des

Zglings durch eigenes Handeln und Verhalten frei zur Entfaltung kommen, indem der Zgling die Vorgnge in der Natur aber auch die Folgen seines Handelns und Verhaltens erleben konnte. Die Aufgabe des Erziehers bestand darin, Ereignisse anzubahnen bzw. ein- zuleiten, um dem Zgling das Erleben eigenverantwortlicher Erfolgserlebnisse, aber auch Fehlhandlungen zu ermglichen. Bei dieser Form der indirekten Erziehung ging Rousseau davon aus, dass sich der Lernzusammenhang (aus den Wirkungen) im Umgang mit den

gegenstndlichen Dingen in der Natur ergibt. Rousseaus Werk Emile kann somit durch- aus als ein Meilenstein in der Entwicklung des Erfahrungslernens bezeichnet werden.

Dieses revolutionre Gedankengut hielt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland Einzug und mndete in den Vorstellungen des deutschen Philanthropismus und der Nationalerziehungsbewegung. Bedeutende Vertreter dieser Zeit waren Basedow (1723-1790), Campe (1746-1818) und Salzmann (1744-1811). Die Philanthropen vertaten die Ansicht, dass der Aneignungs- und Verarbeitungsprozess neuen Wissens vom Entwick- lungsstand des Kindes und dessen individuellen Fhigkeiten abhngig sei. Ein spielerischer und altersabhngig gestufter Lehrvorgang in deutschen Schulen schien fr sie unumgng- lich. Erweitert wurden diese Vorstellungen von den Betrachtungsweisen der Nationalerzie- hungsbewegung. Die Ganzheitlichkeit des Kindes war hierbei in der Interdependenz von krperlichem Geschick, intellektueller Fhigkeiten und sittlich-moralischen Vorstellungen begrndet. Neben dem Wissenserwerb durch das praktische Erfahrungslernen spielte fortan auch die sportliche Krpererziehung und die bermittlung kultureller sowie sittlich- moralischer Wertvorstellungen eine bedeutende Rolle.

Ein weiterer Vordenker der Erlebnispdagogik war Johann Heinrich Pestalozzi (1746- 1827). Er vertrat die Meinung, dass das Kind nur anhand der gegenstndlichen Dinge und sozialer Geschehnisse seiner Umwelt lernte, indem es sich mit ihnen auseinander setzte und dadurch an praktischen Erfahrungen und sozialer Reife gewnne. Seine Elementarmethode des Lehrens und Lernens implizierte lediglich zwei Faktoren, die eine ganzheitliche Erzie- hung ausmachten: die sinnlich-wahrnehmbare Anschauung und die praktische Erfahrung (oder die theoretische Einsicht) des Lernsujets. Rousseaus Gedanken der pdagogischen Provinz bernahm Pestalozzi und grndete Erziehungsanstalten fr Kinder in Neuhof, Stans, Burgdorf und Iferten, in denen er sein Konzept des elementarmethodischen Lehren und Lernens verwirklichte. Das 18. Jahrhundert war geprgt von revolutionren Ideen in der Philosophie und Pdagogik, die durch die neuen Ansichten und Vorstellungen der fran- zsischen Aufklrungszeit entstanden. So war es J.J. Rousseau, der eine natrliche Erzie- hung in einer pdagogischen Provinz forderte. Die Philanthropen erweiterten Rousseaus Theorien um den Aspekt, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben einerseits und der spielerische Zugang zu neuem Wissen andererseits das Kind in seinem Lernprozess frder- ten. Mit der Grndung seiner Erziehungsanstalten praktizierte Pestalozzi als erster das be- stehende Konglomerat pdozentrischer Erziehungstheorien und gilt daher als unumstritte- ner Wegbereiter der Erlebnispdagogik.

2.1.2. Die Schulreformen im 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert war geprgt von zahlreichen Neuerungen auf politischer, wirtschaftli- cher und gesellschaftlicher Ebene. Die zunehmende Industrialisierung und Demokratisie- rung in Deutschland ebneten pdagogischen Reformbestrebungen der deutschen Schulen den Weg. Ein bekannter Vertreter dieser Zeit war F.W. Frbel (1782-1852). Er entwickelte grundlegende Prinzipien der Erziehung von Kindern im Vorschulalter, die in einer kindge- rechten, d.h. anschaulichen Heranfhrung an neues Wissen mndeten. Das Kind sollte da- bei die natrlichen Dinge und Vorgnge (in) der Natur praktisch erleben und erfahren, um so mit ihnen individuell Inbeziehungzutreten2. Als oberstes Prinzip sah Frbel allerdings den spielerischen Zugang zu neuem Wissen, da in seinen Augen das Spiel als ein Erfri- scher und Sorgenbrecher3 zur Stabilisierung der kindlichen Gefhlswelt beitrug. Der Er- zieher sollte sich dabei das kindliche Spiel zu Nutzen machen, um dem Kind zwanglos, Wissen zu vermitteln, whrend sich das Kind Handlungs- und Verhaltensmuster spielerisch aneignen konnte.

Weitere schulreformistische Ideen stammten von F.A.W. Diesterweg (1790-1866) , der sich besonders fr die Ausbildung einer neuen Lehrerschaft interessierte. Seine pdagogischen Leitlinien sollten der Lehrerschaft zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Kindes und dessen harmonische Bildung und Erziehung verhelfen. Die Bildung zur eigenen Identi- tt und Mndigkeit des Kindes standen nunmehr im Vordergrund. Wie auch die natrliche Entwicklung des Kindes schien auch dessen Bildung stufenfrmig geschehen zu mssen. Der Lehrer sollte dem Kind sittlich-moralische Vorstellungen und lebensweltliche Orientie- rungen gem seiner Kultur und Gesellschaft vermitteln, um ihm so den spteren Schritt in die Gesellschaft zu erleichtern.

Die fortschreitende Industrialisierung und damit einhergehende Entwicklung zahlreicher Stdtemonopole im 19. Jahrhundert fhrte zu einer vollkommen funktionalistischen und seelisch verarmten Lebensweise der Menschen. So kamen reformpdagogische Ideen auf, die das Verlangen nach einer gesellschaftlichen und kulturellen Neuordnung thematisierten und eine Umstrukturierung im Bildungs- und Erziehungswesen erforderten. In dieser Zeit des kulturellen Wandels gewann die emotionale Individualitt des lernenden Kindes inner- halb der rationalen Gesellschaft an Bedeutung.

Ein signifikanter Begleiter dieser reformpdagogischen Bestrebungen war der Amerikaner

H. D. Thoreau (1817-1862), der mit seinem Walden-Experiment (1845-1848) in natur-

umgebener Einsamkeit seine Selbsterziehung unter natrlichen Lebensbedingungen an ei- nem See im Wald praktizierte. Mit der Erfahrung dieses Experiments pldierte er fr ein naturnahes Leben und Lernen und forderte dazu auf, dass die Menschen ihre soziale Rolle und individuellen Lebensbedingungen im unmittelbaren Erlebnisraum Natur erfahren und reflektieren sollten.

Die pragmatische Hermeneutik W. Diltheys (1833-1911) stellte hnlich wie Thoreau das Erlebnis im Erkenntnisprozess in den Vordergrund. So war die Erkenntnis und das Verste- hen neuen Wissens laut Dilthey an die Art seiner unmittelbaren und subjektiv eigentmli- chen Aneignung4 gebunden. Die Besonderheit lag laut Dilthey darin, dass der Schler die relevanten Sinnzusammenhnge eines Sachverhaltes durch das Erleben, d.h. durch das emotionale Innewerden reflektieren sollte, um daraus Erkenntnisse zu ziehen.

Die wichtigsten Ideen Diltheys gaben der Reformbewegung in Deutschland ausschlagge- bende Impulse, nmlich die normative Offenheit des Erkenntnisprozesses auf der einen Seite und dessen individuelle Ausrichtung auf der anderen Seite. Die reformpdagogische Bewegung verstrkte sich mit der wachsenden Kulturkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Daher forderte E. Key (1849-1926) eine Erziehungsbewegung, die ihre Inhalte an den Be- drfnissen des Kindes orientierte. Bei ihrer pdozentrischen Erziehungsvorstellung ging Key davon aus, dass sich die Erziehung des Kindes aus dessen individueller und natrlicher Entwicklung ergbe. Um ihre Vorstellungen einer kindgerechten Erziehung in einer Schu- le der Zukunft5 zu verwirklichen, forderte sie die Abschaffung der institutionalisierten Bildung und Erziehung. Die schulreformistische Bewegung des 19. Jahrhunderts, begleitet von Frbel und Diesterweg, brachte einen stufenfrmigen und anschaulichen Lehrvorgang hervor, wobei das Kind mit seinen individuellen Fhigkeiten im Mittelpunkt stand.

Des weiteren wurde die Bedeutung des Erlebens beim Erkenntnisprozess durch Dilthey aber auch Thoreau besonders stark betont, die damit der reformpdagogischen Bewegung den Weg ebneten. In dem folgenden Jahrhundert des Kindes forderte Key eine naturge- me und kindgerechte Erziehung und gilt daher trotz starker Kritik als Wegbereiterin der Reformpdagogik.

2.1.3. Landerziehungsheimbewegung und Erlebnistherapie im 20. Jahrhundert

Aus den Erziehungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts schlussfolgerte man, dass eine sozi- ale Erziehung verbunden mit natrlichen und offenen Lernangeboten notwendig ist. Mit dieser Conclusio entwickelte sich die Landerziehungsheimbewegung zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Bei der Erziehungsform der Landerziehungsheime, vor allem durch H. Lietz (1868-1919) vertreten, wurde das Verhltnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum wechselseitig gesehen. Die pdagogische Provinz erlebte unter ihm in Form lndlich abgelegener Heime, in denen die Schler Herbartschen Unterricht genos- sen und handwerklich ausgebildet wurden, eine Renaissance. Prgnant hierbei war, dass das Kind einzeln in seinen individuellen Potentialen und in der Gemeinschaft in seinen sozialen Kompetenzen durch seine Erlebnisse gefrdert wurde. Neben Lietz erffneten unter ande- rem auch G. Wyneken, P. Geheeb und K. Hahn hnlich konzipierte Heime. Durch das er- folgreiche Bestehen dieser Heime verbreitete sich die Idee der gemeinschaftlich orientierten und gesellschaftlich isolierten Erziehung dieser Heime in ganz Deutschland. Aufgegriffen wurden diese Ideen von L. Gurlitt, G. Kerschensteiner und H. Gaudig, die damit die Ar- beitsschulbewegung begrndeten.

Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, der reformpdagogischen Bltezeit, betonte Kerschensteiner, dass sich die praktische Arbeit besonders bei der Charakterbildung aus- wirke, jedoch die geistige Ttigkeit des Schlers nicht vernachlssigt werden drfte. Laut Kerschensteiner sollten die Arbeitserziehung und der Unterricht vereinheitlicht werden und in der Gemeinschaft stattfinden. Mit der Forderung der Selbstverwaltung der Schulen woll- te er, hnlich wie Platon einen schulischen Staat im Staat grnden, um die gesellschaftli- che Auenwelt zu imitieren und die Schler so auf diese vorzubereiten.

[...]


1 Fischer, Ziegenspeck 2000, S.102

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Historischer Rückblick der erlebnispädagogischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen und ihre heutige Ausprägung im Jugendstrafvollzug
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institur für Erziehungswissenschaften)
Veranstaltung
Seminar: Theoretische Positionen praktischer Erlebnispädagogik
Note
1.0
Autor
Jahr
2003
Seiten
25
Katalognummer
V11573
ISBN (eBook)
9783638176958
Dateigröße
409 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Historischer, Rückblick, Arbeit, Jugendlichen, Ausprägung, Jugendstrafvollzug, Seminar, Theoretische, Positionen, Erlebnispädagogik
Arbeit zitieren
Chrystina Kunze (Autor:in), 2003, Historischer Rückblick der erlebnispädagogischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen und ihre heutige Ausprägung im Jugendstrafvollzug, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11573

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