Die Rolle des Denkens in Ödön von Horváths "Ein Kind unserer Zeit"


Seminararbeit, 2008

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Rolle des Denkens bei „Ein Kind unserer Zeit“
2.1. Ausgangssituation
2.1.1. Der Generationenkonflikt
2.1.2. Überzeugte Anhängerschaft
2.1.2.1. Sprache des Soldaten nach faschistischem Vorbild
2.1.2.2. Man soll nicht denken, sondern handeln!
2.2. Der Bewusstseinswandel des Soldaten
2.2.1. Das Schicksal des Hauptmanns – der Auslöser
2.2.2. Das Schicksal des Soldaten – der Wandel
2.2.2.1. Das langsame Aufbrechen der Denkblockade
2.2.2.2. Der Vollzug des individuellen Denkens
2.2.3. Das Schicksal der Kassiererin – Aggressive Kritik
2.3. Die Ermordung des Buchhalters – Abschluss mit der eigenen Vergangenheit

3. Schluss

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Den Roman Ein Kind unserer Zeit stellte Ödön von Horváth zu Beginn des Jahres 1938 fertig, so dass er in Teilen wohl gleichzeitig zu einer anderen, vom Umfang her um einiges größeren Arbeit Horváths entstand, nämlich Jugend ohne Gott.[1] Der Autor erlebte das Erscheinen seines Werkes im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange im Sommer 1938 nicht mehr, da er bereits am 1. Juni in den Champs-Elysées in Paris von einem herunterstürzenden Ast erschlagen worden ist.[2] Beiden Romanen ist nicht nur gemeinsam, dass sie bereits im selben Jahr von den Nationalsozialisten auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt wurden[3], sondern auch, dass sie beide das Leben im faschistischen Staat beschreiben.[4] Diese Beschreibung erfolgt zwar beide Male in der Ich-Erzählung, jedoch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven; einerseits aus der Sicht des intellektuellen Lehrers bei Jugend ohne Gott und andererseits aus der Sicht des völlig systemkonformen Soldaten bei Ein Kind unserer Zeit. Axel Fritz, der in seinem 1973 erschienenen Werk Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit besonders auf die Rolle Horváths als Zeitzeuge eingeht, äußert sich über dessen literarisches Schaffen folgendermaßen:

„Horváth zeigt darüber hinaus auch die Hintergründe und Ursachen des äußeren Zeitgeschehens, das in seinem Werk eine so dominierende Rolle spielt: die soziale, geistige und moralische Konstitution des mittelständischen Spießbürgertums, sein aus Traditionalismus, Standesdenken, Egoismus und Dummheit geprägtes (falsches) Bewusstsein, das die politische Entwicklung zum Faschismus ermöglichen half.“[5]

Tatsächlich spielt das von Fritz erwähnte „falsche Bewusstsein“ als Ursache für den Faschismus in beiden Werken eine große Rolle, denn schließlich durchlaufen beide Hauptfiguren einen „Bewusstseinswandel“, der sie letztendlich dann dem Regime gegenüberstellt. Der Lehrer wandelt sich von einem ängstlichen Skeptiker des Systems zu einem öffentlichen Protestler, während der Soldat aufgrund seiner enttäuschenden Erfahrungen vom überzeugten Anhänger zum aggressiven Kritiker wird.[6] Die immense Wichtigkeit des individuellen Denkens und Reflektierens, welches einem solchen Bewusstseinswandel unweigerlich zugrunde liegen muss, liegt auf der Hand. Daher soll auch die Rolle des Denkens in Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit in Zusammenhang mit dem Bewusstseinswandel der Hauptfigur im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen.

2. Die Rolle des Denkens bei „Ein Kind unserer Zeit“

Anders als beim skeptischen, systemhinterfragenden Lehrer muss sich das individuelle Denken beim Soldaten erst entwickeln. Dieser Entwicklung soll nun Schritt für Schritt nachgegangen werden, wobei auch immer wieder Parallelen zu Jugend ohne Gott von Bedeutung sein werden.

2.1. Ausgangssituation

Zu Beginn des Romans gibt es zwei grundliegende Aspekte, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Denkens beim Soldaten haben: einerseits der Generationenkonflikt, der immer wieder die Frage des „in die Zeit Passens“ aufwirft und den Denkprozess vorantreibt und andererseits die völlige Anhängerschaft des Soldaten an das System, die dessen denkerische Entwicklung immer wieder blockiert. Im Folgenden soll diesen beiden Aspekten besondere Aufmerksamkeit zukommen, da sie uns nicht nur das Fundament des denkerischen Prozess des Soldaten, sondern auch einen Einblick in Ödön von Horváths Ursachenverständnis für die Entwicklung des Faschismus, bieten.

2.1.1. Der Generationenkonflikt

Horváth stellt in seinem Roman Ein Kind unserer Zeit immer wieder der „Generation der Väter/der Zeit der Väter/der alten Zeit“ die „Generation der Söhne/die Zeit der Söhne/die neue Zeit“ gegenüber. Als einschneidendes, die beiden Generationen in ihren Einstellungen trennendes Ereignis, wird der Erste Weltkrieg genannt (vgl. Suhrkamp S. 20: „Und der Krieg, der morgen kommen wird, wird ganz anders werden als dieser sogenannte Weltkrieg!“). Die ältere Generation hat den Ersten Weltkrieg miterlebt; der Vater des Soldaten hat selbst mitgekämpft und die Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft am eigenen Leib erfahren müssen (vgl. Suhrkamp S. 18). Es verwundert daher kaum, dass die Generation der Väter den neuen, militaristischen Entwicklungen eher skeptisch gegenübersteht.[7] Der Soldat, 1917 geboren (vgl. S. 74), zählt hingegen zur jüngeren Generation, zur Generation der Söhne und Kriegskinder (S. 18: „[...] bin also ein sogenanntes Kriegskind [...]“).

„Seine Pubertät fiel in die Zeit der Wirtschaftskrise, in die Zeit der Arbeitslosigkeit, in der er von Kloster- und Armensuppen abhängig war und ansonst seinen Lebensunterhalt mit kleinen Diebstählen bestritt.“[8]

Er hat somit unmittelbar mit den wirtschaftlichen Konsequenzen des verlorenen Krieges zu kämpfen: mit Arbeitslosigkeit, Hunger und vor allem mit Hoffnungslosigkeit und Zukunftslosigkeit, die seiner Generation anhaften (vgl. S. 14).

Unter diesen schlechten Bedingungen (in manchen Vorarbeiten wird der Soldat sogar als Vollwaise im Waisenhaus dargestellt) verwundert es ebenso wenig, dass diese junge Generation ausgerechnet so empfänglich für die faschistischen Ideen ist und ihre einzige Zukunft im Militär sieht.[9]

Dass er der väterlichen Generation Schuld am verlorenen Krieg gibt und damit auch Schuld an seiner eigenen Misere wird unmittelbar an seinen Äußerungen über die ältere Generation und über die alte Zeit deutlich.

„ Es war eine Zeit, da liebte ich mein Vaterland nicht. Es wurde von vaterlandslosen Gesellen regiert und von finsteren überstaatlichen Mächten beherrscht. Es ist nicht ihr Verdienst, dass ich noch lebe (S.15). [...] Jawohl, ihr Ewig-Gestrigen, Ausrangierten, mit eurem faden pazifistischen Gesäusel, ihr werdet uns nicht entrinnen! [...] Es ist uns bekannt, wir gefallen euch nicht. Ich kenne euch schon – durch und durch! Mein Vater ist auch so ein ähnlicher. Auch er schaut weg, wenn er mich marschieren sieht. (S. 16)“

„[...] Die Generation unserer Väter hat blöden Idealen von Völkerrecht und ewigem Frieden nachgehangen und hat es nicht begriffen, dass sogar in der niederen Tierwelt einer den anderen frisst. Es gibt kein Recht ohne Gewalt. [...] Ich habe mit meinem Vater nichts mehr zu tun (S.19).“

„Weine nur [zum Vater], dachte ich, du hast auch allen Grund dazu, denn eigentlich trägt deine Generation die Hauptschuld daran, dass es mir jetzt so dreckig geht – [...] (S.19)“

Des weiteren beschreibt der Soldat die Generation seines Vaters als „traurige Garde“, „geschlagene Armee“ (S.17) und deren Zeit als „eine verfaulte Zeit“ (S. 20).

Erst die Entwicklungen der neuen Zeit und der Eintritt in die Armee geben dem jungen Mann wieder Hoffnung und eine Zukunft.

„Aber heut bin ich wieder froh! Denn heute weiß ichs, wo ich hingehör. Heut kenn ich keine Angst mehr, ob ich morgen fressen werde. Und wenn die Stiefel hin sind, werden sie geflickt, und wenn der Anzug hin ist, krieg ich einen neuen, und wenn der Winter kommt, werden wir Mäntel bekommen. (S. 14)“

Auch die Einstellung zu seinem Vaterland hat sich ins Positive verkehrt. Die neue Zeit lässt ihn stolz auf sein Vaterland sein, denn es ist

„ein starkes und mächtiges Reich, ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt! Und es soll auch einst die Welt beherrschen, die ganze Welt! Ich liebe mein Vaterland, seit es seine Ehre wieder hat! Denn nun hab auch ich sie wieder, meine Ehre! (S. 16)“

2.1.2. Überzeugte Anhängerschaft

Anhand seiner Aussagen wird deutlich, wie sehr er sich mit seinem Vaterland identifiziert, wie sehr er seine eigene Ehre mit der des Vaterlandes gleichstellt und sich somit in Abhängigkeit zum Vaterland begibt.[10] Dies erinnert stark an die „Blut-und-Boden-Ideologie“ der Nationalsozialisten, die besagt, dass „Ethnien einer gewissen Landschaft, einem bestimmten geografisch begrenzten Gebiet verhaftet sind - gleichsam also mit ihrem Blute am Boden hängen.“[11] Es gibt noch weitere Hinweise darauf, dass der Führerstaat in Horváths Werken Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit auf „Hitler-Deutschland“ zugeschnitten ist, obwohl im ganzen Roman keine einzige nationalsozialistische Einrichtung erwähnt und das Geschehen somit auch nicht lokal fixiert wird.[12]

2.1.2.1. Sprache des Soldaten nach faschistischem Vorbild

Einer dieser Hinweise ist der Sprachgebrauch des Soldaten, der mit den für den Faschismus typischen suggestiven, militaristischen, denunziatorischen, nationalistischen, rassistischen und emotionsgeladenen Schlagwörtern wie Vaterland, mächtiges Reich, Ehre, beherrschen, Untermenschentum,... geladen ist. Laut Bartsch sei sich die Horváth-Forschung sicher, dass die Sprache des Soldaten eindeutig „nach dem Vorbild der NS-Sprache gestaltet“ wurde.[13]

Am faschistisch geprägten Sprachgebrauch des Soldaten wird folglich deutlich, wie sehr er die Ideen und die Ideologie dieses faschistischen Regimes verinnerlicht hat. Denn im Gegensatz zum Lehrer bei Jugend ohne Gott, der die Hohlheit der Phrasen dieser Sprache erkennt (vgl. Suhrkamp Jugend ohne Gott, S.13: „Sie wandeln Arm in Arm daher und singen hohle Phrasen.“), sie nur aus Feigheit und Angst wiederholt, stößt die faschistische Sprache beim Soldaten „auf keinen intellektuellen Widerstand“[14]. Am besten beschreibt der Lehrer in Jugend ohne Gott, der zwischen den Generationen der Väter und Söhne steht, wie es zu dieser unreflektierten Haltung der Jugend gekommen ist:

„Wir müssen von der Jugend alles fernhalten, was nur in irgendeiner Weise ihre zukünftigen militärischen Fähigkeiten beeinträchtigen könnte – das heißt: wir müssen sie moralisch zum Krieg erziehen [S. 19-20]. [...] sie müssen ja nur das abschreiben, was das Radio zusammenblödelt, und schon bekommen sie die besten Noten (S. 29). [...]

Alles Denken ist ihnen verhasst [S. 24; Hervorhebung durch Verfasser]. [...] Sie leben in einem Paradies der Dummheit [H.d.V.], und ihr Ideal ist der Hohn. [...](S. 30).“

Die Ursachen für das eingangs von Fritz erwähnte dumme, falsche Bewusstsein liegt also folglich bereits in der Indoktrination während der schulischen Erziehung. Auch der Soldat kann als ein Opfer dieser Erziehungsmaßnahmen angesehen werden, worin die Begeisterung für das neue System sowie die anfänglich völlige Ablehnung des individuellen Denkens ihre Begründung findet.[15]

[...]


[1] Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. S. 165

[2] Ebd. Vgl. auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Kind_unserer_Zeit; http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96d%C3%B6n_von_Horvath

[3] Bartsch. S. 157; S. 165

[4] Axel Fritz: Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit. Studien zum Werk in seinem Verhältnis zum politischen, sozialen und kulturellen Zeitgeschehen. S. 87

[5] Ebd. S. 15-16

[6] Ebd. S. 87; vgl. auch: Bartsch. S. 170

[7] Fritz. S. 90

[8] Werner Dachs: Die Thematik bei Ödön von Horváth und ihre Abwandlungen. Punkt 1.2.

[9] Fritz. S. 90

[10] vgl. Fritz. S. 93

[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Blut-und-Boden-Ideologie

[12] Fritz. S. 89

[13] Bartsch. S. 168

[14] Ebd.

[15] Vgl. Fritz. S. 91;92

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Rolle des Denkens in Ödön von Horváths "Ein Kind unserer Zeit"
Hochschule
Universität Salzburg  (Fachbereich Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
19
Katalognummer
V115763
ISBN (eBook)
9783640171132
ISBN (Buch)
9783640172948
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
11 Einträge im Literaturverzeichnis, davon 5 Internetquellen.
Schlagworte
Rolle, Kind, Zeit, Horváth, Denken
Arbeit zitieren
Sophia Schroll (Autor:in), 2008, Die Rolle des Denkens in Ödön von Horváths "Ein Kind unserer Zeit" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115763

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