Folgen von Kriegstraumata. Eine Analyse anhand dreier Oral-History-Interviews der "Kriegskinder" aus dem Archiv "Deutsches Gedächtnis"


Bachelorarbeit, 2021

51 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Lebensgeschichtliche Interviews aus dem Archiv
„Deutsches Gedächtnis“
2.1 Quellenanalyse Frau P.
2.1.1 Kriegserfahrungen (Flucht)
2.1.2 Schulzeit, Studium, Berufstätigkeit
2.1.3 Individueller Aspekt: Wohngemeinschaft
2.1.4 Transgenerationelle Folgen
2.1.5 Interviewbezogene Bilanz
2.2 Quellenanalyse Herr H.
2.2.1 Kriegserfahrungen (1. Flucht)
2.2.2 Kriegserfahrungen (2. Flucht)
2.2.3 Schulzeit, Berufstätigkeit
2.2.4 Individueller Aspekt: Gewalterfahrungen
2.2.5 Transgenerationelle Folgen
2.2.6 Interviewbezogene Bilanz
2.3 Quellenanalyse Herr R.
2.3.1 Kriegserfahrungen (Bombardierungen)
2.3.2 Schulzeit, Berufstätigkeit
2.3.3 Transgenerationelle Folgen
2.3.4 Interviewbezogene Bilanz

3. Anschlussüberlegungen
3.1 Einfluss der Erziehung im Nationalsozialismus
3.2 Gewaltausübende Lehrer
3.3 Posttraumatische Reifung

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Die Erfahrungen der Menschen aus dem 2. Weltkrieg waren sicherlich sehr unterschiedlich in ihrer Art, ihrer Dimension und ihren Auswirkungen auf das weitere Leben. Diese vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den „Kriegskin­dern“ des 2. Weltkriegs. Ich beziehe mich hier auf die Generation, die entwe­der während des Krieges oder kurz zuvor geboren wurde,1 also den Men­schen, die entsprechende Erfahrungen im Kleinkind-Alter machten. Sie teilen sich die Gemeinsamkeit einer frühen Prägung durch den Krieg und seiner Fol­gen. Ohne Zweifel hinterlassen schlimme Erlebnisse (nicht nur) aus Kriegen Spuren bei den Menschen, damals wie heute, mal mehr, mal weniger. Neben unmittelbaren Kriegsfolgen, wie zum Beispiel bei körperlichen Verletzungen durch physische Einwirkung oder durch Zerstörung des Wohnraums, kam es auch zu seelischen Verletzungen, die sich auf das Verhalten der Betroffenen auswirkten und somit Folgen für das weitere Leben hatten. Der Psychoanalyti­ker Hartmut Radebold nennt in diesem Zusammenhang drei Bereiche beschä­digender bis traumatisierender zeitgeschichtlicher Erfahrungen:2

- Verlust von zentralen Bezugspersonen
- Verlust von Heimat, Sicherheit und Geborgenheit
- Gewalterfahrungen

Mittlerweile liegt der 2. Weltkrieg nun bereits über 75 Jahre zurück und auch heute noch zeigen sich individuelle Auswirkungen an traumatisierten Men­schen. Leider gab es unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg noch keine ambitio­nierte Traumaforschung, vor allem nicht an Kindern. Durch die Unkenntnis des symptomatischen inneren Rückzugs dieser traumatisierten Kinder, ging man davon aus, dass diese jungen Menschen ihre schrecklichen Erlebnisse in der Regel selbst gut überwinden würden. Die aktuelle Forschung liefert dazu ent­gegengesetzte Erkenntnisse. In diesem Zusammenhang wurde in den verei­nigten Staaten von Amerika durch das „Centers for Disease Control and Pre- vention“ (CDC) im Jahr 1998 die aufschlussreiche Studie „Adverse Childhood Experiences“3 durchgeführt, welche den Zusammenhang von Erfahrungen im Kindesalter und Wohlbefinden sowie Gesundheitszustand im Erwachsenenal- ter nachwies. Dabei wurde deutlich, dass die Wunden von psychischen Belas­tungen eben nicht durch die Zeit geheilt werden, sondern in Abhängigkeit ei­nes „ Dosis-Wirkungsverhältnis “ in Form von seelischen und auch körperlichen Störungen nachwirken. Dementsprechend behauptet der deutsche Psycho­analytiker Werner Bohleber:

„Kinder jedweden Alters sind im Krieg Erfahrungen ausgesetzt, die sie nicht verarbeiten können. Ihre seelischen Schutzmechanismen und psychischen

Ressourcen sind noch nicht so wirksam [...] wie bei Erwachsenen.“4

Und Jürgen Reulecke, als ein Vertreter der Historiker, stellt darüber hinaus so­gar noch die Verbindung zu den Folgegenerationen heraus:

„Der Krieg ist nicht zu Ende, weil die kriegerischen Handlungen beendet wur­den. Die Erfahrungen, welche die Menschen mit ihm gemacht haben, beglei­ten sie selbst lebenslang - und auch ihre Kinder und deren Kinder in man­cherlei Weise.“ 5

Dieses Untersuchungsergebnis wird von einer 1959 geborenen Tochter eines Kriegskinds bestätigt:

Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg - wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt.“6

Im Folgenden werden nun die Auswirkungen kindlicher Traumata7 aufgrund von Kriegserfahrungen unterschiedlicher Art untersucht. Daraus ergibt sich die Fragestellung dieser Arbeit:

Welche Auswirkungen haben Kriegserfahrungen auf den weiteren Le­bensverlauf der Protagonisten und ihrer folgenden Generationen?

Es werden hierzu exemplarisch die Interviews dreier Zeitzeugen des 2. Welt­kriegs herangezogen und analysiert, welche im Jahre 2011 aus dem „Oral

History“8 Projekt „Kriegskinder“ des Vereins „Kriegskinder e.V. - Forschung Lehre Therapie“9 entstanden sind und durch das Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen zur Verfügung gestellt wurden. Diese kleine Auswahl aus einem großen Fundus beleuchtet die jeweilig individuellen Einzelschicksale und untersucht die Zusammenhänge von als wesentlich ge­deuteten Schlüsselsituation in den Erzählungen zwischen Ursächlichkeit im Kindesalter und Auswirkung auf das weitere Leben. Damit eventuelle Zusam­menhänge deutlich werden, ist die umfassende, lebensgeschichtliche Dimen­sion der Interviews von Vorteil, denn diese umfasst viele Lebensbereiche und kann dadurch multiperspektivische Hinweise liefern. Da aus logischer Un­kenntnis heraus während des Interviews nicht auf künftige Forschungsinteres­sen mit ihren spezifischen Fragestellungen abgezielt werden kann, ist eine sorgfältige Interpretation umso erforderlicher. Die Nutzung der Interviews von Zeitzeugen, also „gewöhnlicher Menschen“ als Quelle bringt generell den Zu­gewinn einer breiteren und nicht privilegierten Perspektive, welche außerhalb der Oral History möglicherweise nur unzureichend Beachtung findet. Es han­delt sich hier in jedem Falle aber um Informationen sozusagen „ aus erster Hand “. Nach Lutz Niethammer vermeidet die Oral History:

„Die Aussagen der Befragten in rigider Verkürzung nur unter dem Gesichts­punkt 'richtig' oder 'falsch' zu sehen, sie sind vielmehr als eine Wiedergabe subjektiv erlebter und verarbeiteter Ereignisse und Prozesse zu sehen“. 10

Der Erzähler unterliegt dem Soziologen Fritz Schütze nach gewissen sinn- und gestaltgebenden „Zugzwängen des Erzählens“ 11 und wird zudem noch vom Interviewer beeinflusst. Niethammer nennt das Ergebnis des Interviews daher ein „artifizielles mixtum compositum“. 12 Der Soziologe Harald Welzer weist darauf hin, dass es sich bei einem Interview um ein Konstrukt der aktuel­len Gegenwart, also zum Zeitpunkt seiner Entstehung handelt, welches nach dem derzeitigen Wissen figuriert und präsentiert wird.13 In unklaren Angele­genheiten von Ursache und Wirkung stellt sich grundsätzlich die Frage, was wäre, wenn...? In dieser Situation von hypothetischen Konjunktiven befindet sich nicht nur die auswertende Instanz in Person des Forschers sondern be­reits schon der Erzähler selbst. Schütze weist im Zusammenhang der Stegrei­ferzählung auf die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns des Erzählers hin:

„Hier wird dem Erzähler während des Erzählvorgangs erst nachträglich deut­lich, wie wichtig die zunächst mißachtete [sic] oder vergessene szenische Si­tuation für einen wesentlichen Wendepunkt im Lebenslauf war [..J [1]

Die besondere Herausforderung liegt hier im Interpretieren von Wirkungszu­sammenhängen im jeweiligen Kontext der Erzählung. Da es sich hier aber um eine kleine Auswahl einer großen Menge von Menschen mit Kriegserfahrun­gen handelt, können hier nur individuelle-, aber keine allgemeingültigen Schlüsse gezogen werden.

Die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge der Protagonisten sind (zumeist auch) psychologisch begründbar. Daher werden hier allgemeine und an den entsprechenden Stellen spezielle fachspezifische Erkenntnisse aus der Psy­chologie erwähnt, welche hier als Hilfswissenschaft fungiert.

Ein belastendes Lebensereignis (Critical Life Event) 14 15 kann nach dem Psycho­logen Andreas Maercker durchaus eine Rolle für die jeweilige Person spielen, es muss sich aber nicht zwangsläufig zu einem psychologischen Trauma ent­wickeln. Dazu bedarf es einer Reizüberflutung im Gehirn, welche die inhären­ten Bewältigungsmechanismen überfordert. Aber auch weniger belastende Er­eignisse dieser Art, die für sich allein kein ausreichendes Potential haben, können dem Psychologen Meinolf Peters nach kumulativ wirken und dann auf­summiert wie ein schweres „Critical Life Event wirken“ 16. Bei solchen Ereignis­sen weiß der Betroffene oft instinktiv, dass es dadurch zu einer drastischen Veränderung des weiteren Lebensverlauf kommen kann. Im Extremfall kommt es nach dieser Traumatisierung zu einer Krise, die in eine akute Belastungsre­aktion führt und letztlich zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wird. Zwischen 30 und 60 Prozent aller Menschen erfahren Zeit ihres Lebens eine entsprechende Extremsituation. Zwei Drittel von ihnen schaffen es selbst, das Trauma ohne langfristige Schäden zu überstehen. Bei etwa einem Drittel dieser Personen kommt es zu einer PTBS, die persönlichkeitsverändernd und ohne besondere Anstrengungen nicht überwindbar sein kann. Aber auch ohne entsprechende Diagnosen können Erlebnisse von Menschen, gegebenenfalls auch generationsübergreifend, durch typische Symptomatik nachwirken. Die Psychotherapeutin Michaela Huber sieht grundsätzlich ein mangelndes Be­wusstsein in der Allgemeinbevölkerung und auch bei Betroffenen selbst für das Phänomen, welches durch extreme Ereignisse dauerhafte Schäden verur­sachen kann:

„Wer weiß schon, dass eine Depression oder eine Bindungsstörung, dass mo­torische und Lernbeeinträchtigungen, Essstörungen und der Drang, sich an­derweitig selbst zu schädigen, dass Persönlichkeitsstörungen und Identitäts­unsicherheiten und -spaltungen das Ergebnis von Traumatisierungen sein können und es sehr häufig tatsächlich sind?“ 17

Die Generation der Kriegskinder gilt als weitläufig traumatisiert. Schätzungen diesbezüglich gehen aber weit auseinander. Frühere Vorstellungen gingen von einer Rate von bis zu 50% aus, neuere Untersuchungen sehen diesen Wert als zu hoch an und gehen von etwa 12% aus. Die Psychologen Gottfried Fischer und Peter Riedesser stellen mit der „dauerhaften Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses“ 18 das wesentliche, symptomatische Element eines Traumas heraus.

In dieser Arbeit werden Zusammenhänge mit Störungen dieser Art argumen­tativ hergestellt, jedoch obliegt es natürlich den Wissenschaftsbereichen der Psychologie und Medizin, entsprechende Befunde nachzuweisen. Die Zitate aus den Interviews werden bis auf Anmerkungen zur Verständlichkeit unver­ändert wiedergegeben. Fehler der Grammatik werden nicht verbessert oder gekennzeichnet. Als Grundlage dieser Arbeit liegen alle drei Interviews in ver- schriftlicher Form vor. Zusätzlich liegt eine Audio-Datei zum Interview von Herrn H. und eine audiovisuelle Datei von Frau P. vor.

Das 2. Kapitel dieser Arbeit widmet sich den zeitgeschichtlichen Interviews und analysiert die Lebensverläufe der Protagonisten. Die Kapitel werden hierzu thematisch in verschiedene Bereiche gegliedert und durch Zuhilfe­nahme der Sekundärliteratur analysiert. Im ersten Schritt werden dazu die je­weiligen Kriegserfahrungen der Protagonisten analysiert, die auf eventuelle Traumatisierungen schließen lassen. In den folgenden Unterkapiteln werden dann besondere Lebensereignisse betrachtet und auf eventuelle Wirkungszu­sammenhänge mit den Kriegserfahrungen überprüft. Im letzten jeweiligen Un­terkapitel eines Interviews werden die maßgeblichen Erkenntnisse gesamt- heitlich betrachtet und miteinander verknüpft. Am Ende soll das Arbeitsergeb­nis dabei in Bezug auf die Fragestellung der Untersuchung die Zusammen­hänge in Hinblick auf Ursache und Wirkung im jeweiligen Lebensverlauf mög­lichst schlüssig darstellen.

Im 3. Kapitel werden Aspekte diskutiert, die sich auf alle drei Interviews bezie­hen (Erziehung im Nationalsozialismus, Gewalterfahrungen in der Schule und persönliche Entwicklung vor dem Hintergrund von posttraumatischer Reifung).

Das 4. Kapitel bildet das Fazit dieser Arbeit ab und fasst die Untersuchungser­gebnisse zusammen. Daraus wird eine Aussicht auf mögliche weitergehende Forschungen formuliert.

Abschließend werden im 5. und 6. Kapitel Literatur- und Abbildungsverzeich­nis dargestellt.

2. Lebensgeschichtliche Interviews aus dem Archiv „Deutsches Ge­dächtnis“

2.1 Quellenanalyse Frau P.

Dieser Analyse liegt das „narrative“ Interview der Frau P. zugrunde. Es liegt in digitaler Form sowohl verschriftlicht (PDF-Datei) als auch in Videoformat (4 AVI-Dateien) vor. Es wurde am 23.06.2011 in ihrem Eigenheim in Nordrhein­Westfalen durchgeführt. Frau P. wurde im Oktober 1940 als viertes von fünf Kindern in Brandenburg in ein „klassisches Bildungsbürger-elternhaus“ geboren. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie 70 Jahre alt und als promovierte Psychologin immer noch als Therapeutin berufstätig. Sie ist geschieden und hat zwei Kinder, keine Enkelkinder. Es war ihr Wunsch dieses Interview zu machen, da sie auch auf diesem Wege herausfinden wollte, was die Ursache ihrer, wie sie selber sagt: „Störungen“ (Neigung zu Depressionen, Angst), sind. Das Interview dauerte insgesamt ca. 5 Stunden. Zusätzlich zu der verschriftlichen Form der PDF-Datei stehen 5 AVI-Dateien, also audio-vi­suelle Mitschnitte, die das Interview begleiten, zur Verfügung. Zur Erweiterung der Oral History um die bildgebende Komponente der Videoaufnahme emp­fiehlt der Historiker Albert Lichtblau diese mit einzubeziehen, da sie auch die Körpersprache des Erzählenden mit sichere. Er formuliert die These:

„Audiovisuelles Arbeiten eröffnet uns tiefere Einblicke in individuelle Erinne­rungskulturen und gestattet eine Kontextualisierung der Erinnerungen mit Konkretisierungen in dinglichen Manifestationen.“ 19

Tatsächlich ist auch die non-verbale Kommunikation eine Form der Informa­tionsübermittlung, die über Gestik, Mimik und eventuell weiterer Geschehnisse Hinweise transportiert, die eine eventuelle Relevanz in künftigen Forschungs­interesse haben könnte, denn wie wir aus der Kommunikationswissenschaft wissen: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ 20 Tatsächlich wird durch die zusätzliche Bild- und Tongebung zum einen das Gefühl von Nähe aufbaut und zum anderen, nicht zuletzt auch eben dadurch, das Verständnis der Erzählun­gen gefördert, indem es sowohl Gestiken und Mimiken als auch Tonlagen mit­transportiert. Die Kriegserfahrungen in ihrer Erzählung konzentrieren sich auf die innerdeutsche Flucht vor der russischen Armee.

Im historischen Kontext dazu war die militärische Niederlage des Deutschen Reichs im Oktober 1944 bereits absehbar. Vom Westen her griffen die „West- mächte“21 an, von Osten die russische Armee. Beängstigende Berichte von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung durch die Russen lösten eine riesige Fluchtbewegung nach Westen, weiter ins Kernland aus. Die Flucht über Land verlief oft in langen Trecks, ohne entsprechende Ausrüstung und Versorgung, um dem befürchteten Martyrium einer russischen Besatzung zu entgehen. Dieser Exodus forderte aufgrund von Erschöpfung, Krankheiten und feindli­cher Angriffe das Leben vieler Menschen. Nach der Potsdamer Konferenz und der dort beschlossenen Umsiedlung von Deutschen Menschen aus den Ost­gebieten und dem südöstlichen, europäischen Umland, belief sich bis zum Jahre 1950 die Zahl der insgesamt von Umsiedlung, Evakuierung, Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen auf etwa 12,5 Millionen und forderte etwa zwei Millionen Todesopfer.22 Nach der erfolgreichen Flucht wurden die Men­schen in der neuen Heimat mit neuen Problemen, wie Verlusten von Angehö­rigen, Notunterkünften, Arbeitsplatz- und Versorgungsproblemen konfrontiert.

Diese Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen von der Redaktion entfernt,

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6.1 Fluchtroute der Frau P.

2.1.1 Kriegserfahrungen (Flucht)

Frau P. hatte in ihrer Kleinkind-Phase „Inseln“, womit sie Anker meint, die ihr Halt gaben, in einem positiven Umfeld von Zufriedenheit. Ein Bauernhof, zu­dem ihr Kindermädchen sie manchmal mitgenommen hatte, war eine solche Insel. Da war sie völlig angstfrei, was ihr auch bestätigt wurde. Sie sah bei der Schlachtung eines Schweines zu und empfand es als spannend, sie jagte Kühe mit einem Stock. Eine zweite Insel war das Haus der Großeltern väterli­cherseits. Dort gab es die Oma, eine „richtige Großmutter, wie man sie quasi aus dem Bilderbuch hat.“ Aber, „mit der Flucht kippte das alles total um“. Diese Bedeutung für das eigene Leben war ihr im Nachhinein selbst aufgefal­len. Die Familie flüchtete zum Ende des Krieges, am 06.02.1945 mit Hilfe des Großvaters väterlicherseits, dessen Ehefrau kurz zuvor verstarb. Zusammen nahmen sie die fünf Kinder mit. Eines der Kinder wurde zur Flucht mit Schar­lach aus dem Krankenhaus geholt. Der Vater selbst war zu dieser Zeit ange­höriger des „Deutschen Volkssturms“23 und daher nicht mit anwesend. Es war zeitlich und räumlich eine relativ kurze Flucht, da sie für die etwa 400 Kilome­ter von Cottbus, Brandenburg zum damaligen Freistaat Braunschweig die Ei­senbahn nutzten. Obwohl sie keine Erinnerungen an Kampfhandlungen hat, kam es zu emotionalen Situationen, die durchaus das Potential haben, eine dauerhafte Wirkung zu hinterlassen. Zu diesem Zeitpunkt war sie vier Jahre alt. Sie erinnert sich an Scharen von Menschen, die „wie dunkle Gestalten alle Richtung Bahnhof gehen“. Dort fiel sie, wahrscheinlich im Gedränge unter ei­nen stehenden Zug, woran sie sich selbst aber nicht erinnern kann. Hier be­steht einerseits die Möglichkeit, dass sie es vergaß, da sie es in der Gesamtsi­tuation der Flucht als nicht weiter beeindruckend empfand, was durchaus ih­rem damaligen Lebensalter geschuldet sein könnte, oder aber genau das Ge­genteil, dass sie es verdrängt hat, weil sie es als besonders schlimm empfand. Letztere Deutung weist auf eine (Teil-) Amnesie hin, die allgemeinhin als symptomatisch für eine PTBS gilt.24 Nachdem die Familie es letztlich in den Zug geschafft hatte, schaute sie aus dem Fenster auf die zurückbleibenden Menschen und fragte sich, was nun aus denen werde. Die von ihr formulierte altruistische Haltung: „Ja, wir haben es gut, aber [die anderen].“ hatte ihr Le­ben von da an begleitet.

„Die Flucht, oder Bombenangriffe, das habe ich alles nicht in Erinnerung.“

Nach dieser Formulierung bleibt offen, ob sie selbst jemals Ziel oder zumin­dest Zeugin eines Angriffs war, oder hier möglichweise (wieder) Erinnerungen verdrängt wurden. Allerdings erinnert sie sich an das Geschrei von Menschen und an eine „irre Atmosphäre von Angst“. Ohne Zweifel waren das Erlebnisse, die Bohlebers These aus der Einleitung bezüglich nicht zu verarbeitender Er­eignisse begründen und deutliche Spuren bis weit in die Zukunft hinterlassen können, was Frau P. auch selbst belegt:

„Was mir heute noch geblieben ist, wenn irgendwo in der Luft was Lautes ist, dann zucke ich zusammen [.] keine konkreten Bilder oder so was, sondern immer mehr körperlich empfunden so, hören, die Ohren waren später geschä­digt, das Laute [.] bei der Flucht, das Geschrei der Menschen, das ist ganz präsent.“

Das hier geschilderte „Zusammenzucken“ bei lauten Geräuschen ist ein typi­sches Symptom einer Traumatisierung25. Nachdem die Familie dann ein Flüchtlingslager in Braunschweig erreichte, begann die Zeit, in der Frau P. ih­rer Empfindung nach „unter die Räder“ kam . Damit meint sie eine weiterge­hende gefühlte Minderbeachtung in der Familie, denn der Fokus der Mutter lag ihrer Wahrnehmung nach auf dem jüngsten Bruder, bei dem sich epilepti­schen Anfälle einstellten und die anderen Geschwister hatten sich, wie sie sagt „mehr miteinander.“ Dieses Empfinden teilt sich in zwei Aspekte: Zum ei­nen kam ihr zu wenig Beachtung durch die Mutter zu, zum anderen spielt der Verlust ihrer „Inseln“ eine Rolle. Diese zwei Aspekte spielen allerdings inei­nander, denn auch die Mutter hätte theoretisch eine solche Insel sein können und, für jedes Kind wünschenswerter Weise, auch sein sollen. Bei der Mutter aber lagen die „Nerven blank“ und daher schimpfte sie aus ihrer völligen Über­lastung heraus. Schlussendlich beschreibt sie das Empfinden dieser Zeit als eine Phase der „völligen Unbehaustheit“. Das daraus resultierende Gefühl des abgeschnitten seins von ihren „Inseln“ hat sie, wie sie selber sagt, „sehr ge­prägt“. Der Zustand ihrer Mutter, des dauerhaft überlastet seins, den sie mehr­mals erwähnt, weist hier auf eine mögliche Traumatisierung der Mutter durch den 1. Weltkrieg hin, den auch sie tatsächlich sieht:

„Die war ungeduldig und konnte nur schimpfen [. ] Das hat mit Flucht und Krieg eigentlich nur insofern zu tun, [. ] dass die Frau völlig überlastet war, […] das stammt sicher mehr aus dem ersten Weltkrieg, aber, also solche Folgen, dass die also so unerträglich sind, dass die Nerven blank sind und das die überhaupt keine Geduld mehr hatte und das sollte einfach funktionieren […] für mich als, als Kind war das natürlich schlimm.

[...]


1 Vgl. Reule>

2 Vgl. Radebold 2015, S. 27.

3 Vgl. Felitti: Die Verwandlung von Gold in Blei, S. 359ff.

4 Bohleber: Traumatische Kriegserfahrungen und deren transgenerationelle Folgen, S. 180.

5 Reule>

6 Zit. n. Alberti 2010, S. 11.

7 Trauma bedeutet grundsätzlich „Verletzung“, hier, in psychologischem Kontext ist die Verlet­zung der Seele gemeint. Ein solches Trauma wird durch schlimme Erlebnisse mit Todesangst oder Panik ausgelöst.

8 Yow 2005, S. 3: Methode der Geschichtswissenschaft. Die Historikerin Valerie Yow definiert diese folgendermaßen: „Oral history is the recording of personal testimony delivered in oral form.“

9 Ursprünglicher Name: “Förderverein Kriegskinder für den Frieden e.V.“.

10 Niethammer 1980, S. 351.

11 Vgl. Kallmeyer; Schütze 1977, S. 188.

12 Niethammer: Was unterscheidet Oral History von anderen interview-gestützten sozialwis­senschaftlichen Erhebungs- und Interpretationsverfahren? S. 64.

13 Vgl. Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, S. 257.

14 Schütze: Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens, S. 102.

15 Vgl. Maercker 2017, S. 13.

16 Vgl. Peters 2018, S. 48.

17 Huber 2003, S. 23.

18 Fischer 1998, S. 85.

19 Lichtblau: Wie verändert sich mündliche Geschichte, wenn wir auch sehen, was wir hören? Überlegungen zur audiovisuellen Geschichte, S. 71f.

20 Watzlawick 1969, S. 53.

21 Hauptsächlich die Streitkräfte der USA, zusammen mit den späteren europäischen Sieger­mächten.

22 Vgl. Beer 2011, S. 129.

23 Der „Deutsche Volkssturm“ war eine militärische Formation, welche die Wehrmacht ver­stärken sollte, indem sie den „Heimatboden“ verteidigte.

24 Vgl. Maercker 2009, S. 17f.; Radebold 2015, S. 74.

25 Vgl. Peters 2018, S. 80; Maercker 2009, S. 17f.

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Details

Titel
Folgen von Kriegstraumata. Eine Analyse anhand dreier Oral-History-Interviews der "Kriegskinder" aus dem Archiv "Deutsches Gedächtnis"
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Historisches Institut)
Note
2,1
Autor
Jahr
2021
Seiten
51
Katalognummer
V1158491
ISBN (eBook)
9783346566393
ISBN (Buch)
9783346566409
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Trauma, Traumata, CDC, PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung, Kriegskind, Weltkrieg, Oral History, Zeitzeuge, Interview
Arbeit zitieren
Thomas Oehm (Autor:in), 2021, Folgen von Kriegstraumata. Eine Analyse anhand dreier Oral-History-Interviews der "Kriegskinder" aus dem Archiv "Deutsches Gedächtnis", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1158491

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