Diese Bachelorarbeit beschäftigt sich mit weiblicher Genitalbeschneidung von geflüchteten Frauen aus Eritrea und beleuchtet dieses Thema als ein Beispiel kultursensibler Sozialer Arbeit.
Westliche Gesellschaften wurden erst in den letzten Jahrzehnten durch die zunehmende Migration aus Ländern wie Somalia oder Eritrea mit dem Problem der weiblichen Genitalbeschneidung konfrontiert. Das Thema beschäftigt unterschiedliche Bereiche, wie die Politik, die Justiz und die Gesundheitsfürsorge. Zusätzlich werden Fachpersonen in ihrer Beratungsarbeit mehr denn je mit Fragen rund um FGM/C (Female Genital Mutilation/Cutting) konfrontiert.
Da die Praxis in Europa noch relativ unbekannt ist, wird dem Thema in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter*innen in den Bereichen Migration und Gesundheit gewöhnlich sehr wenig Beachtung geschenkt. Die meisten Fachpersonen in diesen wichtigen Arbeitsfeldern verfügen also über, wenn überhaupt, nur wenig Wissen über das Thema und fühlen sich bei der Arbeit mit beschnittenen Mädchen und Frauen meist überfordert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Eritrea: Hintergründe und Fluchtursachen
3. Weibliche Genitalbeschneidung am Beispiel von Eritrea
3.1 Begriffserklärungen
3.2 Verbreitung von FGM/C
3.3 Formen und Durchführung der Beschneidung
3.4 Motive für den Eingriff
3.4.1 Tradition und soziale Integration
3.4.2 Ästhetik und Gesundheit
3.4.3 Religiöse Hintergründe
3.5 Folgen für die beschnittenen Frauen
3.5.1 Körperliche Folgen
3.5.2 Psychische Folgen
3.5.3 Sexuelle Folgen
3.6 Internationale Gesetzeslagen und Präventionsbemühungen
3.7 FGM/C im Kontext der Migration
4. Kompetente und kultursensible Soziale Arbeit mit geflüchteten Frauen
4.1 Notwendigkeit kultursensibler Sozialer Arbeit
4.1.1 Definition
4.1.2 Kultursensibilität als Schlüssel kultureller Kompetenz
4.1.3 Entwicklungsmodell der Kultursensibilität von Milton J. Bennett
4.1.4 Prinzipien kultursensibler Sozialer Arbeit
4.2 Professionelle Beratung und Kommunikation
4.2.1 Klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers
4.2.2 Vernetzungen zu Partnerorganisationen
4.2.3 Beratung zur Rekonstruktion durch plastische Chirurgie
4.3 Aufklärung und Prävention
4.3.1 Einbezug von Männern
4.3.2 Empowerment zum Aufbrechen patriarchaler Strukturen
4.3.3 Umgang mit vermuteter und tatsächlicher Gefährdung
5 Fazit
5 Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Dem Aktionsprogramm der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz aus dem Jahr 1994 (vgl. Busch 2010, S. 9) zufolge, muss für alle Menschen „ein befriedigendes und ungefährliches Sexualleben möglich sein. Sie sollen die Fähigkeit zur Fortpflanzung und die freie Entscheidung haben, ob, wann und wie oft sie hiervon Gebrauch machen wollen.“ (ebd.) Frauen haben ebenfalls das Recht auf eine sichere Schwangerschaft und Geburt unter den bestmöglichen Voraussetzungen. (vgl. ebd.) Unter anderem diese Punkte sind für genitalbeschnittene Frauen jedoch nicht selbstverständlich. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2020, www.who.int) zufolge sind unter weiblicher Genitalbeschneidung oder FGM/C1 „alle Praktiken umfasst, bei denen die äußeren Genitalien von Mädchen oder Frauen teilweise oder vollständig aus nicht medizinischen Gründen entfernt oder verletzt werden.“ Es handelt sich um einen irreversiblen Eingriff, der nicht nur zur Einschränkung der sexuellen Freiheit von Frauen führt, sondern ebenfalls starke gesundheitliche Komplikationen bis hin zum Tod der Betroffenen zur Folge haben kann. (vgl. Graf 2013, S. 15)
Die Profession der Sozialen Arbeit hat sich historisch gesehen immer schon mit den Armen und, wie in diesem Fall, denen, die sich selber nicht wehren können, verbündet und politische Initiativen unterstützt, die auf den Schutz derer Rechte ausgelegt waren. Sozialarbeiter*innen arbeiten nach dem Glauben, dass jeder Mensch das Recht auf Selbstbestimmung hat. Dieser basiert auf dem Respekt des Berufs gegenüber dem Menschen an sich, unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder religiösen und politischen Überzeugungen. Diese Achtung der Rechte des Einzelnen, sowie die der verschiedenen kulturellen Praktiken, können jedoch zu ethischen Zwickmühlen führen. Insbesondere ist dies der Fall, wenn die Praxis einer bestimmten Kultur schädlich und unterdrückend für einzelne Menschen oder ganze Gruppen innerhalb dieser Kultur ist. (vgl. Burson 2007, S. 46f) Trotz der „hochemotionalen und stark politisierten Debatten im Sinne des Feminismus und Postkolonialismus“ (Bisang 2019, S. 60) zeigen die obengenannten Punkte eindeutig, dass die Soziale Arbeit zum Schutz des physischen und psychischen Wohlbefinden von Frauen aus den betroffenen Gemeinschaften und zur allgemeinen Beseitigung von FGM/C verpflichtet ist. (vgl. Burson 2007, S.9)
Westliche Gesellschaften wurden erst in den letzten Jahrzehnten durch die zunehmende Migration aus Ländern wie Somalia oder Eritrea (vgl. Bisang 2019, S. 13) mit dem Problem der weiblichen Genitalbeschneidung konfrontiert. Das Thema beschäftigt unterschiedliche Bereiche, wie die Politik, die Justiz und die Gesundheitsfürsorge. (vgl. Graf 2013, S. 15) Zusätzlich werden Fachpersonen in ihrer Beratungsarbeit mehr denn je mit Fragen rund um FGM/C konfrontiert. Da die Praxis in Europa noch relativ unbekannt ist, wird dem Thema in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter*innen in den Bereichen Migration und Gesundheit gewöhnlich sehr wenig Beachtung geschenkt. Die meisten Fachpersonen in diesen wichtigen Arbeitsfeldern verfügen also über, wenn überhaupt, nur wenig Wissen über das Thema und fühlen sich bei der Arbeit mit beschnittenen Mädchen und Frauen meist überfordert. (vgl. Bisang 2019, S. 12) Ergänzend dazu zeigen Studien, dass die Mehrheit der beschnittenen Frauen verstörende und irritierende Kontakte mit sozialem und medizinischem Fachpersonal erlebt hat. (vgl. Integra 2017, S. 34) Das folgende Zitat stammt von einer betroffenen Frau, die im Rahmen eines Interviews mit Asefaw (2017, S. 123) über ihre Erfahrungen sprach; „In Eritrea habe ich mich intakt gefühlt, aber hier nicht. Jedes Mal, wenn ich etwas in den Medien höre oder zum Frauenarzt gehe, erlebe ich mich als Verstümmelte, weil sie mich so behandeln.“ (ebd.) Ähnliche Aussagen hielt Ihring (2015, S. 166) von den von ihr interviewten Frauen aus Somalia fest. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass bei der Arbeit mit beschnittenen Frauen ein hoher Grad an Sensibilität gefordert ist. Was Menschen, die in der westlichen Welt aufgewachsen sind, normal erscheint, kann für andere befremdlich und falsch sein. Zusätzlich können Medien wie Waris Diries Autobiografie „Wüstenblume“ zu einer Verteufelung und Abstempelung der FGM/C-praktizierenden Gesellschaften führen. (vgl. Graf 2013, S. 16)
Seit dem massiven Zustrom an Flüchtlingen in den letzten Jahren2 hat sich die Zahl an Asylanträgen und somit an Ausländer*innen nochmals stark erhöht. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2021a, S. 16) zufolge, gehört auch Eritrea seit 2013 zu den zehn Hauptherkunftsländern. Eine andere Quelle des BAMF besagt, dass derzeit etwa 74 000 Menschen mit eritreischer Staatsangehörigkeit in Deutschland leben. Damit ist Eritrea nach Marokko das zweitwichtigste afrikanische Herkunftsland. (vgl. BAMF 2021b, S.8) Demnach wächst auch die Anzahl an beschnittenen Frauen und an Personen, die die Praxis befürworten und in Deutschland beabsichtigen weiterzuführen. Dies stellt eine große Herausforderung dar, besonders im Angesicht der Tatsache, dass jegliche Form von FGM/C hierzulande illegal und strafbar ist. (vgl. Asefaw 2017, S. 94
Um genitalbeschnittenen Frauen in Europa ihre zuvor genannten Rechte zu garantieren, ist eine entsprechende Unterstützung und Beratung erforderlich. Obwohl statistisch gesehen Gynäkolog*innen und Hebammen am häufigsten im professionellen Bereich auf beschnittene Frauen treffen, stehen Sozialarbeiter*- innen mit 31% an fünfter Stelle der häufigsten Kontakte. (vgl. Bisang 2019, S. 15) Deshalb ist die Aneignung von Basiswissen bezüglich FGM/C von Fachpersonen unabdingbar. Folgende Fragen sollten Personen, die in beruflichem Kontakt mit beschnittenen Frauen stehen, in der Lage sein zu beantworten: Was genau versteht man unter weiblicher Genitalbeschneidung? Wo und wann wird FGM/C praktiziert? Was ist die Motivation hinter der Praxis? Hat der Eingriff gesundheitliche oder sexuelle Folgen und falls ja, welche? Wie empfinden genital beschnittene Frauen die Migration in Ländern, in denen FGM/C nicht üblich ist? Gleichzeitig müssen Fachpersonen sich mit der kulturellen und sozialen Bedeutung der Praxis im Herkunftsland der Klient*innen beschäftigen. Dieses Wissen dient als Grundlage einer professionellen Beratung und angemessenen Versorgung beschnittener Mädchen und Frauen. (vgl. ebd., S. 18)
Die vorliegende Thesis ist in ein kleineres und zwei umfangreichere Hauptkapitel unterteilt. Da sie primär von der Arbeit mit geflüchteten Frauen aus Eritrea handelt, werden die ersten beiden Kapitel zur Aneignung von Basiswissen zum besseren Verständnis des Themas dienen. Hier wird erstens auf die Hintergründe und Fluchtursachen aus Eritrea eingegangen und zweitens die weibliche Genitalbeschneidung behandelt. Es werden u.a. die verschiedenen Beschneidungsformen als auch die Motive und Folgen der Praxis für die Frauen behandelt. Der Fokus dieser Thesis liegt jedoch nicht nur auf der Aufklärung über FGM/C an sich. Vielmehr stehen die Erfahrungen und Bedürfnisse der betroffenen Frauen im europäischen Aufnahmeland im Sinne einer nachhaltigen Integration im Fokus. Im dritten Kapitel wird demnach darauf eingegangen, wie beschnittenen Frauen, die durch ihre Flucht möglicherweise an einer doppelten Traumatisierung leiden, durch kultursensible Soziale Arbeit bestmögliche Hilfe und Unterstützung geboten werden kann.
2. Eritrea: Hintergründe und Fluchtursachen
Zum Einstieg in das Thema der weiblichen Genitalbeschneidung am Beispiel der Praxis in Eritrea ist es sinnvoll über ein gewisses Vorwissen über das Land und seine Hintergründe zu verfügen. Aus dem Grund wird sich in diesem Kapitel als erstes auf das Land an sich konzentriert als auch auf die verschiedenen Faktoren, die die Eritreer*innen zur Flucht aus ihrem Heimatsland treiben. Es wird ebenfalls auf die Anzahl der Menschen eingegangen, die diesen Schritt gewagt haben, sowie auf die Länder, in denen diese sich eine neue Heimat aufbauen. Bevor die Fluchtgründe aus Eritrea im Bezug auf den historischen Kontext dargestellt werden, wird zunächst das Land an sich vorgestellt.
Eritrea ist ein Staat im nordöstlichen Afrikas am Roten Meer und Teil des „Horn von Afrika“. Er grenzt zudem noch an Äthiopien, dem Sudan und Djibouti. (vgl. britannica 2020, www.britannica.com) Der Völkerstaat ist in neun Volksgruppen unterteilt. Die beiden größten Volksgruppen des Landes sind die Tigrinya und die Tigre mit einem Bevölkerungsanteil von 41% bzw. 30-32%. Weitere Volksgruppen sind die Afar, die Saho, die Kunama, Bilen und Hedareb, die Nara und Rashaida, Sie alle haben ihre eigene Sprache und Kultur und zeigen, bis auf die Kunama, patriarchale Strukturen auf. (vgl. Asefaw 2017, S. 18)
Nach jahrzehntelangem Krieg gegen Äthiopien wurde Eritrea im Jahr 1993 unabhängig. Seitdem ist der Vorsitzende der Partei „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ (PFDJ), Isayas Afewerki, gleichzeitig Staatspräsident und Regierungschef. Obwohl weder der Präsident noch seine Partei jemals vom Volk gewählt wurden, trat eine neue Verfassung in Kraft. Korruption, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen sind seitdem weit verbreitet. Seit dem Krieg mit Äthiopien ist das Land vom Militär geprägt. Alle Männer und Frauen zwischen dem 18. und 50. Lebensjahr müssen sich dem Militärdienst anschließen, obwohl dieser eigentlich auf 18 Monate begrenzt ist. Tötungen, Folter, Verfolgungen, unmenschliche Haftbedingungen, Zwangsarbeit und vieles mehr werden der „geheimnistuerischen Diktatur“ (Abdulkadir 2018, S. 53) vorgeworfen und von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen kritisiert. (vgl. Friedrich 2018, S.4f) Tausende Menschen, inklusive Schüler*innen im letzten Schuljahr, werden auf unbestimmte Zeit in den Militärdienst zwangsrekrutiert. Das monatliche Gehalt der Wehrpflichtigen von umgerechnet 45 Euro reicht nicht mal zur Deckung von Grundbedürfnissen aus. (vgl. amnesty international 2021, S. 23f) Die absolute Abwesenheit von Vorschriften und Regelungen verschärfen die Situation im willkürlichen Herrschafts- und Bestrafungsregime. So sind wichtige Fragen wie die Arten der Bestrafung bei bestimmtem Fehlverhalten oder jährliche Urlaube nicht geregelt. Dadurch ist es den Vorgesetzten überlassen, wie sie die Wehrdienstleistenden behandeln und gibt ihnen freie Bahn für unmenschliche und erniedrigende Bestrafungen, Ausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie sexuelle Gewalt gegen weibliche Wehrpflichtige. (vgl. Kibreab 2018, S. 27) In der mit Sklaverei vergleichbaren Zwangsarbeit sind strenge Bestrafungen und die erwähnten sexuellen Übergriffe auf Frauen üblich. Dies ist ein Grund, weshalb viele junge Frauen früh heiraten, um durch eine Schwangerschaft die Ausbildung abzubrechen. (vgl. Abdulkadir 2018, S. 54)
Des Weiteren gibt es heftig Kritik an den unmenschlichen Bedingungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen. Durch die chronischen Überfüllungen und unhygienischen Bedingungen entsteht ein hohes Risiko für Mangelernährung und Krankheiten. Die Gefangenen werden nicht ausreichend mit Wasser, Ernährung oder Hygieneprodukten wie Seifen versorgt. Für die ca. 700 Inhaftierten in der Mai Serwa Asmara Flowers Hafteinrichtung sind keine Toiletten verfügbar. Im Hochsicherheitsgefängnis Mai Serwa gibt es nur 20 Toiletten für 500 Gefangene. (vgl. amnesty international 2021, S. 23) Zudem gibt es in Eritrea seit 2001 keine unabhängige Presse mehr. Freie Meinungsäußerung ist somit nicht erlaubt. Der US-amerikanische Committee to Protect Journalists klassifizierte Eritrea als das Land mit der weltweit stärksten Zensur ein. Er stellte ebenfalls fest, dass es in keinem anderen Staat mehr inhaftierte Journalist*innen gibt. (vgl. ebd.)
Trotz der wiederholten Behauptungen der eritreischen Regierung, dass illegal ausgereiste Landsleute unter bestimmten Bedingungen3 straffrei ins Land zurückkehren können, ist eine Überwachung zurückgekehrter ehemaliger Asylbewerber*innen nicht möglich. (vgl. Zeier 2020, S. 5f) Es gibt hingegen mehrere Zeugenaussagen, die von einer Verhaftung, Folter sowie plötzlichem Verschwinden zurückgekehrter Personen berichten. (vgl. z.B. Danish Immigration Service 2020, S. 39) Diese Behauptungen unterstützt auch die Tatsache, dass in der Vergangenheit mehrere Regierungskritiker*innen ohne Verfahren ins Gefängnis gesteckt wurden und von einigen nicht gewusst ist, ob sie noch am Leben sind. (vgl. Zeier 2020, S. 6) So ist das Schicksal von 11 Politiker*innen und 17 Journalist*innen, die sich 2001 regierungskritisch geäußert hatten, weiterhin unbekannt. Dasselbe gilt für den ehemaligen Finanzminister Berhane Abrehe. Dieser wurde 2018 nach dem Veröffentlichen eines Buches über demokratische Reformen festgenommen. (vgl. amnesty inernational 2021, S. 23) Darüber hinaus nimmt Eritrea keine zwangsrückgeführten Landsleute an. Die Rückkehr von Eritreer*innen wird nur dann zugelassen, wenn eine Vereinbarung mit der Person besteht bzw. wenn es sich um eine freiwillige Rückkehr handelt. (vgl. Danish Immigration Service 2020, S. 38)
Ende 2019 war Eritrea weltweit unter den zehn Ländern4 zu finden, aus denen die meisten Flüchtlinge, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Flucht, stammen. (vgl. statista 2020, www.de.statista.com) Trotz der Tatsache, dass die beiden Länder lange im Krieg standen, bietet das Nachbarland Äthiopien heute vielen Eritreer*- innen Schutz an. (vgl. Zeier 2020, S.14) Etwa ein Drittel der schätzungsweise einer halben Million aus Eritrea geflüchteten Menschen leben hier. Das macht 10% der gesamten eritreischen Bevölkerung (5,1 Millionen) aus. (vgl. ebd., S.7) Dem BAMF (2021a, S. 19) zufolge kamen im Jahr 2020 2,5% aller Asylanträge5 in Deutschland von Personen eritreischer Staatsangehörigkeit. Die Flucht von Eritrea nach Deutschland ist generell sehr schwierig. Nicht selten beinhaltet sie langjährige Aufenthalte in anderen Ländern. Ein überwiegend großer Teil der Eritreer*innen ist über ein Jahr unterwegs. (vgl. BAMF 2021b, S.13) Bei der häufigsten Fluchtroute werden von Eritrea aus mehrere afrikanische Länder wie Libyen und Tunesien überkehrt und anschließend über das Mittelmeer Europa erreicht. (vgl. ebd., S. 21) Die Route ist lebensgefährlich. Insbesondere in Libyen werden viele Flüchtlinge inhaftiert, gefoltert und sexuell missbraucht. Ein Nationaldienst unbegrenzter Dauer und ein sklavenähnliches Leben in einer Diktatur treiben trotz allem immer noch tausende Menschen zur Flucht aus ihrem Land in Hoffnung auf Asyl in Europa. (vgl. amnesty international 2021, S. 23f)
3. Weibliche Genitalbeschneidung am Beispiel von Eritrea
Nachdem im vorherigen Kapitel die Fluchtursachen aus Eritrea dargestellt wurden, wird das Land auch in diesem Kapitel von Bedeutung sein. Anhand der Praxis in Eritrea wird die weibliche Genitalbeschneidung hier thematisiert. In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff bestimmt und anschließend die verschiedenen Formen, Motive und Durchführung, Folgen sowie die internationalen Gesetzeslagen und Bemühungen zur Beseitigung der Praxis behandelt. Anschließend wird auf FGM/C im Kontext der Migration eingegangen.
3.1 Begriffserklärungen
Weibliche Genitalbeschneidung ist auch noch unter dem Ausdruck „Female Genital Mutilation” (FGM) bekannt, was so viel wie Verstümmelung weiblicher Genitalien/Weibliche Genitalverstümmelung bedeutet. Sowohl bei der WHO als auch im internationalen Sprachgebrauch hat sich dieser Begriff durchgesetzt. Er soll die dramatische Dimension der Praxis unterstreichen sowie den politischen Akzent betonen. Dieser Begriff wird jedoch kontrovers diskutiert. So werden in den von weiblicher Genitalbeschneidung betroffenen Gesellschaften grundsätzlich positiv assoziierte Ausdrücke für die Praxis verwendet. Beispielsweise wird in Eritrea der Begriff „mekinschab“ verwendet, was auf Deutsch „rein“ bedeutet. (vgl. Asefaw 2017, S. 13f) Zudem wird der Begriff „FGM“ von vielen Betroffenen abgelehnt, da er das Stigma der „verstümmelten Frau“ übermittelt. Aus diesem Grund bevorzugen sie die objektivere Bezeichnung weibliche Genitalbeschneidung oder „Female Genital Cutting“ (FGC). Auch diese Bezeichnung wird wiederum von anderen Seiten kritisiert mit dem Argument, dass er die Praktiken verharmlosen würde. (vgl. Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz o.J., www.maedchenbeschneidung.ch)
Grundsätzlich ist stets eine sorgfältige Reflexion der Wortwahl angebracht. In rechtlichen Situationen oder in politischen Kontexten ist es z.B. passender, den Begriff Verstümmelung oder FGM zu verwenden. Dadurch wird die Praxis als Menschenrechtsverletzung eindeutiger verurteilt. (vgl. Bisang 2019, S. 25) Sowohl um negative Zuschreibungen zu vermeiden als auch um einen objektiven Umgang mit dem Thema zu ermöglichen, wird in dieser Thesis den neutraleren Begriff „weibliche Genitalbeschneidung“ oder FGM/C verwendet.
3.2 Verbreitung von FGM/C
Aktuell leben über 200 Millionen genital beschnittene Mädchen und Frauen. Mehr als vier Millionen Mädchen riskieren jährlich Opfer von FGM/C zu werden. (vgl. UNICEF 2020, www.unicef.org) Die weibliche Genitalbeschneidung ist in Ost-, West- und Nordafrika sowie in einigen Staaten Asiens und des Nahen Ostens verbreitet. In folgenden 28 Ländern wird FGM/C praktiziert: Ägypten, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Djibouti, Elfenbeinküste, Eritrea, Gambia, Ghana, Guinea- Bissau, Indonesien, Jordanien, Kamerun, Liberia, Malaysia, Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone, Somalia, Sudan, Tansania, Togo, Tschad, Uganda und die Zentralafrikanische Republik. (vgl. Asefaw 2017, S.13) Unicef (2020, www.unicef.org) zufolge handelt es sich zusätzlich mit dem Irak, Jemen und Kenia jedoch um 31 Länder. Die Länder, in denen Frauen am meisten von FGM/C betroffen sind, sind Somalia mit 98%, Guinea mit 95%, Djibouti mit 93%, Mali mit 89% sowie Ägypten und Sudan mit jeweils 87% aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren. Andere Länder wie Kamerun (1%), Uganda (1%), Niger (2%), Togo (3%) und Ghana (4%) sind weniger stark bzw. kaum betroffen. (vgl. ebd.) In Eritrea sind 83% der Frauen beschnitten. Somit zählt das Land zu den am meisten betroffenen Ländern. (vgl. Asefaw 2017, S. 110)
Ein Überblick über die Daten der 31 Länder in den letzten Jahrzehnten hat ergeben, dass die Zahl der Durchführungen allgemein gesunken ist. Während vor dreißig Jahren noch eines von zwei Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren die Beschneidung über sich ergehen lassen musste, muss sich heute nur jedes dritte Mädchen derselben Altersklasse der Praxis unterziehen. Repräsentative Daten der WHO haben ebenfalls gezeigt, dass die Mehrheit der Mädchen und Frauen für die Abschaffung von FGM/C sind. Diese Einstellung variiert jedoch auch von Land zu Land. So sind mehr als die Hälfte der Mädchen und Frauen aus Mali, Sierra Leone, Guinea, Somalia und Ägypten der Meinung, dass die Praxis fortgeführt werden sollte. (vgl. unicef 2020, www.unicef.org)
Auch in Eritrea ist die Verbreitung der unterschiedlichen Beschneidungsformen von den verschiedenen Volksgruppen abhängig. Volksgruppen- und religionsübergreifenden Studien zufolge ist der Prozentsatz der beschnittenen Frauen in den Jahren 1995 bis 2002 von 94,5% auf 88,7% gesunken. Besonders in der Hauptstadt Asmara lassen weniger Eltern ihre Töchter beschneiden. Nichtsdestotrotz bestätigen die Studien ebenfalls, dass die Mehrheit der Bevölkerung FGM/C immer noch als positiv ansieht. (vgl. Asefaw 2017, S.33ff)
3.3 Formen und Durchführung der Beschneidung
Grundsätzlich werden weltweit vier Arten der weiblichen Genitalbeschneidung unterschieden, welche nach Region und praktizierender Gemeinschaft variieren. Im Folgenden werden diese nach Bisang (2019, S. 27ff) aufgelistet und erklärt. Typ I, auch noch Klitoridektomie genannt, beschreibt die teilweise oder komplette Entfernung der äußeren Klitoris bzw. ihrer Vorhaut. Hier wird auch noch unter Typ 1 a, bei der nur die Vorhaut der Klitoris entfernt wird und Typ I b, bei der sowohl die Vorhaut als auf die äußere Klitoris entfernt wird. Asefaw (2017, S.30) zufolge wird die Entfernung der Klitorisvorhaut auch noch kleine Sunna genannt. Unter Typ II, der Exzision, versteht man die teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren Klitoris und der kleinen Schamlippen mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen. Dieser Eingriff wird in drei Typen aufgeteilt. Bei Typ II a werden die inneren Schamlippen entfernt. Bei Typ II b werden zusätzlich noch die äußere Klitoris mit Vorhaut teilweise oder komplett entfernt. Typ II c umfasst die Entfernung aller sichtbaren Teile des Genitals. Eine Infibulation (zusammennähen der Wunde) findet jedoch nicht statt.
Typ III, Infibulation oder „pharaonische Beschneidung“ genannt, bezeichnet die Verengung der vaginalen Öffnung mit einer bedeckenden Gewebeschicht. Hierfür werden die äußeren und/oder inneren Schamlippen zusammengenäht. Die Klitoris kann ebenfalls entfernt werden. Hier wird ebenfalls unterteilt. Bei Typ III a wird die Klitoris, die Vorhaut und die inneren Schamlippen entfernt sowie die Wundränder der inneren Schamlippen zusammengenäht. Die äußere Klitoris kann entfernt oder unverletzt bleiben. Typ III b meint eine Exzision der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane sowie das Verschließen der Vulva, indem die Wundränder der äußeren Schamlippen zusammengenäht werden. Hierbei bleibt nur eine sehr kleine Öffnung im Bereich des Damms übrig. Auch hier kann die Klitoris entfernt oder unverletzt bleiben. Laut Asefaw (2017, S. 30) macht die Infibulation ungefähr 15% der FGM/C aus und ist insbesondere in Ägypten, Äthiopien, Djibouti, Eritrea, Mali, Somalia und in dem Sudan verbreitet. In Eritrea macht die Infibulation interessanterweise jedoch etwa 50% aller Beschneidungen aus. (vgl. ebd., S. 36)
Typ IV fasst alle anderen Formen zusammen, bei der die weiblichen Genitalien aus nicht-medizinischen Ursachen verletzt werden, z.B. durch Einstechen oder Einreißen der inneren und äußeren Genitalien.
Durch diese Einteilung soll die Bandbreite der Formen von FGM/C wissenschaftlich und medizinisch dargestellt werden. Da betroffene Mädchen und Frauen ihre Geschlechtsteile üblicherweise nur in dieser veränderten Form kennen, wissen sie oft selber nicht, welche Form der Beschneidung an ihnen vollzogen wurde. Die Zuordnung dieser Typen ist jedoch aus zwei Gründen nicht immer ganz eindeutig. So wird FGM/C üblicherweise von Laien mit unzureichenden Instrumenten bei wenig Licht durchgeführt. Dadurch ist es möglich, dass Reste der inneren oder äußeren Schamlippen, der Klitoris und/oder ihrer Vorhaut zurückbleiben, sodass das Endergebnis keinem der drei Haupttypen ähnelt und als Typ IV eingestuft wird. Des Weiteren treten insbesondere nach mehreren Geburten genital beschnittener Frauen nachfolgende Vernarbungen auf, da nach jeder Geburt erneut eine Infibulation stattfindet. Die Verschließung der Vulva kann aber auch ohne ursprüngliches Zusammennähen erfolgen, indem die Wundränder während dem Heilungsprozess durch das Zusammenbinden der Beine spontan zusammenwachsen. (vgl. Bisang 2019, S. 29) So gaben auch im Rahmen einer von Asefaw (2017, S. 36) durchgeführten Studie einige Frauen eine Beschneidungsform an, die nicht immer mit der Form übereinstimmte, die bei der gynäkologischen Untersuchung festgestellt wurde.
Anknüpfend an die Formen der weiblichen Genitalbeschneidung wird im Folgenden auf die Durchführung des Eingriffes eingegangen. Ein allgemeiner Zeitpunkt der Durchführung von FGM/C ist schwer zu geben, da er je nach praktizierender Kultur und Tradition unterschiedlich ist. So kann er kurz nach der Geburt bis zur Pubertät oder unmittelbar vor oder nach der Eheschließung stattfinden. In den meisten Fällen sind die betroffenen Mädchen jedoch zwischen 0 und 15 Jahren alt. (vgl. Netwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz o.J., www.maedchenbeschneidung.ch) In Eritrea werden Mädchen traditionellerweise zwischen dem siebten Lebenstag und dem ersten Geburtstag beschnitten. In der Volksgruppe Raschaida liegt das Beschneidungsalter jedoch erst zwischen vier und fünf Jahren. In einigen Ethnien wird ein weiblicher Säugling mit 80 Tagen beschnitten, welcher ebenfalls der festgelegte Zeitpunkt für die christliche Taufe ist. (vgl. Asefaw 2017, S. 36)
Üblicherweise wird der Eingriff von älteren Frauen, die sehr viel Respekt in der Gesellschaft genießen, vollzogen. Diese können etwa Hebammen oder professionelle Beschneider*innen sein, wie auch alte Frauen des jeweiligen Dorfes oder Ehefrauen von Männern, die einen anerkannten Beruf ausüben, z.B. Frauen von Schmieden. (vgl. Graf 2013, S. 55) In ärmeren Familien wird die Prozedur notfalls von Familienmitglieder*innen durchgeführt, wohingegen wohlhabendere Familien ihre Töchter vom Gesundheitspersonal in Krankenhäusern beschneiden lassen. Obwohl dies auf den ersten Blick durch die verwendeten Anästhetika humaner erscheinen mag, wird dadurch, dass die Mädchen sich weniger wehren, oft mehr Gewebe entfernt. Diese Beschneidungen in medizinischen Institutionen stellen zudem nur eine Minderheit dar. Normalerweise bekommen Mädchen und Frauen keinerlei Anästhesie und sind während dem Eingriff bei vollem Bewusstsein. Bestenfalls werden lediglich Kräutersude oder kaltes Wasser zur Betäubung eingesetzt. Zusätzlich sind die hygienischen Bedingungen sehr schlecht. Der Eingriff findet häufig in Hütten oder unter freiem Himmel statt. Die Beschneider*innen benutzen zur Durchführung der Beschneidung Rasierklingen, Messer, Glasscherben, Blechkanten oder die eigenen Fingernägel. Zum Wundverschluss dienen ihnen Garn, Tierdarm, Bast, Pferdehaar oder Akaziendornen. Um die Blutung zu stillen nutzen sie u.a. Kräuterzubereitungen, Asche und Rauch. (vgl. Schnüll 2003, S. 31)
In den Kulturen und Ethnien, wo der Eingriff nicht im Baby- oder Kleinkindalter, sondern an Mädchen und jungen Frauen vollzogen wird, ist das Beschneidungsritual oftmals Bestandteil eines großen Festes, bei dem diese Geschenke, neue Kleidung und ein besonderes Festessen bekommen. Oftmals ist der Tag der Beschneidung ein ganz besonderer Tag für sie, welcher mit Freude erwartet wird. Sie dürfen vollste Aufmerksamkeit genießen. Den meisten Mädchen ist jedoch nicht bewusst, was tatsächlich mit ihnen geschehen wird. Über die Durchführung des Eingriffes selbst wird von bereits beschnittenen Mädchen und Frauen geschwiegen, insbesondere vor noch Nicht-Beschnittenen. Das Thema gilt als tabuisiert. Für den Eingriff selbst sind die Mädchen also in der Regel unvorbereitet und werden währendem mit gespreizten Beinen von mehreren Frauen festgehalten. Der Schmerz der Amputation wird von vielen Frauen als unerträglich beschrieben. Weinen oder schreien wird von den Betroffenen oft nicht geduldet. Bei der Infibulation wird die Wunde eng verschlossen und nur eine kleine Öffnung für Urin und Blut durch das Einlegen eines Stöckchens oder Strohhalms gelassen. Daraufhin werden der Beschnittenen die Beine oft für mehrere Wochen zum Verheilen zusammengebunden. (vgl. ebd., S. 32)
3.4 Motive für den Eingriff
Die äußerst vielfältigen Beschneidungsgründe können von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterschiedlich sein und sind für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen. (vgl. Bisang 2019, S. 35) Bevor auf die allgemeinen Ursachen für die Durchführung der weiblichen Genitalbeschneidung eingegangen werden kann, sollte erwähnt werden, dass sich in vielen der von FGM/C-betroffenen Ländern mehrere Parallelen finden lassen. So haben diese Gesellschaften oft gravierende existentielle Probleme zu bewältigen. Folglich ist ihnen die Bekämpfung von FGM/C kein dringendes Anliegen und moralisches oder wissenschaftliches Interesse kaum existent. (vgl. Asefaw 2017, S. 12f) Außerdem kann man in mehreren Ländern, wie z.B. in Eritrea, Äthiopien und Tansania ein niedriges Wirtschaftswachstum und eine hohe Bevölkerungszunahme feststellen. Ebenso ist die Lebenserwartung verglichen mit europäischen Verhältnissen niedriger. Alle diese Länder sind gezeichnet von Armut, fehlender wirtschaftlicher Sicherheit und mangelnder Schulbildung. Dazu kommt, dass sie eine hohe Rate an Infektionskrankheiten wie HIV wie auch an Kinder- und Müttersterblichkeit haben. (vgl. ebd., S. 22f) Somit sind die Menschen dort also vorwiegend mit der Deckung ihrer Grundbedürfnisse beschäftigt. Ausreichend Nahrung, sauberes Trinkwasser und eine medizinische Grundversorgung stehen an erster Stelle und sind für sie weitaus wichtiger als die Bekämpfung von FGM/C. (vgl. ebd., S. 25)
Unter diesem Punkt macht es auch Sinn, auf die soziale Stellung der Frau in Eritrea einzugehen, um die Motive in diesem Kontext leichter nachvollziehen zu können. So werden in allen eritreischen Gesellschaften den Frauen und Töchtern einen deutlich geringeren Wert zugeteilt als den Männern und Söhnen in den Familien. Dies wird bereits bei der Geburt verdeutlicht, indem einem männlichen Neugeborenem die Uliilation, also das Ausrufen von einem „freudigen Ereignis“, siebenmal zusteht, einem weiblichen Neugeborenen jedoch nur dreimal. Töchtern stehen außerdem nicht die gleichen Besitz- und Familienrechte zu als ihren Brüdern. (vgl. Asefaw 2017, S. 17f) Ungefähr die Hälfte aller Frauen heiraten noch vor ihrem 18. Lebensjahr. In ländlichen Gegenden erfolgt die Heirat oft bereits mit 15 Jahren oder früher. Dies verdeutlicht die Rolle der Frau in der Gesellschaft. So verleihen die Heirat und das Mutter-sein der Frau einen hohen sozialen Status. Während Kinderreichtum wirtschaftliche Absicherung für die Eltern bedeutet, wird Kinderlosigkeit in der eritreischen Gesellschaft als sinnlose Eheführung bezeichnet und gilt als regelmäßiger Scheidungsgrund. So entsteht für viele Frauen sofort nach der Heirat ein sozialer Druck, um schnellst möglich schwanger zu werden. Beschnittene Frauen bekommen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 17 Jahren und auch deutlich mehr Kinder als nichtbeschnittene Frauen, die ihr erstes Kind durchschnittlich mit 20 Jahren bekommen. Dieses relativ niedrige Erstgeburtsalter kann neben der frühen Heirat noch aus den Gründen erklärt werden, dass sehr wenige Frauen Verhütungsmittel benutzen bzw. überhaupt den Zugang dazu haben und dass ein Schwangerschaftsabbruch in den meisten Fällen strafrechtlich verfolgt wird. Männer sind zum Zeitpunkt der Heirat oftmals deutlich älter als die Frauen. Dies spiegelt die ungleichen Rechte und Perspektiven der Geschlechter in der eritreischen Gesellschaft wider. Während Frauen ihre ganze Kindheit und Jugend über darauf vorbereitet werden, von ihrem zukünftigen Ehemann finanziell abgesichert zu sein, steht Männern die Möglichkeit einer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu. (vgl. ebd., S. 20f) Weiterhin sind in Eritrea nur ungefähr 70% der Männer und 46% der Frauen alphabetisiert. Nur eine Minderheit der Frauen erlernt jemals einen Beruf. (vgl. ebd., S.17) Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen einer höheren Beschneidungsrate und mangelnder Schulbildung. In Eritrea genießt FGM/C besonders in den ländlichen Gegenden einen positiven Ruf, wo die Analphabetenrate am höchsten, sowie die Schulbildung der Frauen seltener ist. Während Analphabet*innen größtenteils die Fortführung von FGM/C befürworten, sind die gebildeten Männer und Frauen überwiegend für die Beendigung der Praxis. Mit höherer Schulbildung nimmt die Beschneidungsrate also ab. (vgl. ebd., S. 19) Im Folgenden werden mehrere Bewegungsgründe bzw. Annahmen genannt, die teilweise ebenfalls auf mangelnde Bildung zurückzuführen sind.
3.4.1 Tradition und soziale Integration
in diesem Zusammenhang bedeutete ihnen [den Ältesten der Familie, d. Verf.] die soziale Integrität und Akzeptanz in der [...] traditionellen Gemeinschaft mehr als individuelle Entfaltung und Freiheit: Körperliche Versertheit [sic!] sei für sie oder ihre Töchter weniger schlimm als gesellschaftliche Ausgrenzung und soziale Isolation. Denn nur dadurch könnten sie ihren Töchtern eine gute Zukunft und eine Perspektive in der traditionellen Gesellschaft sichern. (Asefaw 2017, S. 27)
In der traditionellen eritreischen Gesellschaft ist die Entscheidung, ein Mädchen nicht beschneiden zu lassen, gleichgesetzt mit einer perspektivlosen Zukunft. Insbesondere in ländlichen Gegenden, wo oft in Großfamilien gelebt wird und finanzielle Abhängigkeit durch dieses System besteht, ist dieser Schritt fast unmöglich zu wagen. Soziale Ausgrenzung und Ablehnung in diesen Gesellschaften hat gravierende Folgen. So hat körperliche Integrität hier weniger Bedeutung als soziale Identität oder gesellschaftliche Akzeptanz. Es ist also deutlich zu beobachten, dass FGM/C u.a. durch gesellschaftliche Zwänge und sozialen Druck6 aufrechterhalten wird. (vgl. Asefaw 2017, S. 28f) In diesem Kontext ist auch das Phänomen besser nachvollziehbar, dass sich die Form der Beschneidung im Falle einer Migration der in dem neuen Gebiet vorherrschenden Beschneidungsform anpasst. Somit können diese sich sogar innerhalb einer Familie von Generation zu Generation verändern. Wichtig ist hierbei einfach nur, dass die Beschneidungsform sozial akzeptabel ist und die Zukunft des Mädchens und der gesamten Familie gesichert ist. (vgl. ebd., S. 63f) Auch die betroffenen Frauen selber empfinden ihr beschnittenes Geschlechtsteil als richtig und normal. Ohne FGM/C würden sie sich anormal fühlen. All ihr Leiden wird vom Respekt und der Achtung, die ihnen von ihrem Umfeld durch die Beschneidung entgegengebracht wird, kompensiert. (vgl. ebd., S. 117)
Ein weiterer Teil der Tradition ist die Keuschheit und Jungfräulichkeit bis zur Ehe. Diese haben in den eritreischen Gesellschaften einen sehr hohen Stellenwert. Mädchen und Frauen erhalten dadurch bessere Heiratschancen, einen hohen Brautpreis z.B. in Form von teurem Goldschmuck sowie soziale und gesellschaftliche Anerkennung. Die Jungfräulichkeit7 der Frau steht symbolisch für die Ehre der ganzen Familie. (vgl. ebd., S. 39) Als Einführung in den Kreis der Jugendlichen oder Erwachsenen wird FGM/C in Eritrea kaum benutzt, da die Praxis grundsätzlich im Säuglingsalter durchgeführt wird. Trotzdem kann die Beschneidung die Voraussetzung sein, vollständiges Mitglied der jeweiligen Volksgruppe zu werden. Auch Jungen und Männer lernen von klein auf, dass nur beschnittene Frauen anständig und heiratswürdig sind. (vgl. ebd., S.47f)
3.4.2 Ästhetik und Gesundheit
In einigen Gesellschaften gelten die weiblichen Genitalien in ihrer ursprünglichen, natürlichen Form als hässlich. Das Teil-Entfernen gilt als Akt der Reinigung, durch den das Mädchen oder die Frau zusätzlich volle Schönheit und Weiblichkeit erlangt. (vgl. Graf 2013, S. 47)
Auf mangelnde Bildung zurückzuführende Beispiele sind bestimmte Mythen hinsichtlich der Hygiene und Gesundheit, die durch unreflektierten Glauben hartnäckig in den Gesellschaften verankert sind. So wird z.B. der weibliche Vaginalbereich als ein unreiner Ort betrachtet, in dem sich zahlreiche Krankheiten sammeln. Somit soll die Beschneidung die Frau vor dem Eindringen von Schmutz und Würmern in die Scheide sowie die Umwelt vor übermäßigen Absonderungen von ekelerregendem, schmutzigem Vaginalsekret schützen. Vom Vaginalsekret wird zum Teil sogar ausgegangen, es würde männliche Spermien abtöten. Durch FGM/C wird weniger Flüssigkeit produziert, womit sichergestellt wird, dass Spermien nicht abgetötet werden können. (vgl. ebd.)
Genauso wird dem Mythos vom doppelten Geschlecht oder der ursprünglichen Androgynität eine große Bedeutung zugeteilt. Hier geht es um die Annahme, die Klitoris sei der männliche Teil der Mädchen und müsse aus diesem Grund entfernt werden. Darunter fällt auch der Glaube, die Klitoris könne wachsen wie ein Penis. Eine andere Befürchtung ist, dass das Berühren des kindlichen Kopfes und der Klitoris während der Geburt zum Tode des Kindes führen kann. Andere sind der Meinung, die verstorbenen Vorfahren würden das Paar im Falle einer Nicht-Beschneidung mit Unfruchtbarkeit oder einem kranken Kind bestrafen. Weiterhin wird davon ausgegangen, das während der Beschneidung geopferte Blut die Fruchtbarkeit erhöhen soll. (vgl. Asefaw 2017, S. 46f) Teilweise werden der Beschneidung besondere Kräfte zugesprochen, wie die Heilung8 von Melancholie, Nymphomanie, Hysterie und Epilepsie, Kleptomanie sowie von der Neigung zum Schule schwänzen. (vgl. Lightfoot-Klein 1992, S. 92)
Interessanterweise werden hygienische Gründe unter den Eritreer*innen vorwiegend in den ländlichen Gegenden als Argument benutzt. Damit ist gemeint, dass FGM/C durchgeführt wird, um Reinheit und Schutz zu garantieren als auch um Krankheitserreger und Juckreiz zu vermeiden. Weiterhin haben beschnittene Frauen den Ruf, weniger impulsiv und geduldiger zu sein und sollen somit und auch durch ihr Durchhaltevermögen besser für das eheliche Leben geeignet sein. Ebenso werden nicht-beschnittenen Frauen nachgesagt, ihre ehelichen sowie ihre mütterlichen Pflichten nicht ausreichend zu erfüllen. (vgl. Asefaw 2017, S. 48)
[...]
1 Der Sprachgebrauch dieses Begriffes wird in Kapitel 3.1 genauer erläutert
2 Im Jahr 2015 wurden 476 649 Asylbewerber*innen in Deutschland registriert. Verglichen mit dem Jahr zuvor war dies ein Zuwachs von 135%. (vgl. BAMF 2016, S. 7) Im Jahr 2016 wurden insgesamt 745 545 Personen in Deutschland verzeichnet, die einen Asylantrag gestellt haben. Dies stellte den höchsten Jahreswert seit Bestehen des Bundesamtes dar. (vgl. BAMF 2017, S. 10f)
3 So müssen Zurückkehrer*innen z.B. eine Steuer für den Wiederaufbau des Landes zahlen oder ein „Schuldeingeständnis“ unterschreiben. In einigen Fällen könnte es jedoch auch zu „angemessenen, wenn auch milden Strafen“ kommen. (vgl. Zeier 2020, S. 5f)
4 Mit über 6,5 Millionen Flüchtlingen ist Syrien das Hauptherkunftsland, gefolgt von Venezuela, Afghanistan, Südsudan, Myanmar, Somalia, der Dem. Rep. Kongo, dem Sudan, der Zentralafrikanischen Republik und Eritrea. (vgl. statista 2020, www.de.statista.com)
5 Syrien war mit 36,9% aller Anträgen das Hauptherkunftsland in Deutschland. Mit 2,6% stand Eritrea 2016 an fünfter Stelle. (vgl. BAMF 2017, S. 10f) Im Jahr 2017 stand Eritrea mit 5,2% aller Anträge an vierter Stelle. (vgl. BAMF 2018, S. 22)
6 Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass voreheliche Defibulationen, also das Öffnen der Infibulationsnarbe, sogar bei stark gesundheitlichen Komplikationen (siehe Kapitel 3.5) der Beschnittenen stark vermieden werden. Die Angst, dass die Jungfräulichkeit später angezweifelt werden könnte, ist stärker. (vgl. Asefaw 2017, S. 50)
7 In der eritreischen Gesellschaft wird Jungfräulichkeit mit einem intakten Hymen gleichgesetzt und in der Hochzeitsnacht mit einem Blutfleck auf dem Laken bewiesen. Mit einer intakten Infibulationsnarbe kann jedoch jede Frau, unabhängig von ihrer sexuellen Erfahrung und der Anzahl an vorherigen Infibulationen, wieder zur Jungfrau werden. (vgl. Asefaw 2017, S. 39f)
8 An dieser Stelle gilt die Anmerkung, dass Frauen sowohl in Europa als auch in Amerika bis ins 20. Jahrhundert hinein klitoriedektomiert wurden. Damit wurde versucht, Krankheiten wie Neurasthenie oder Hysterie zu heilen. (vgl. Graf 2013, S. 48)
- Arbeit zitieren
- Jenny Schmit (Autor:in), 2021, Weibliche Genitalbeschneidung bei geflüchteten Frauen aus Eritrea. Ein Beispiel kultursensibler Sozialer Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1159194
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