Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Definitionen
3 Diagnose und Therapie
4 Mehrsprachige Gehirne
5 Cross-linguistischer Transfer
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Bilingualism is present in practically every country of the world, in all classes of society, and in all age groups. In fact it is difficult to find a society that is genuinely monolingual.“ (Grosjean 1982: 1). Dieses Zitat des Sprachwissenschaftlers Francois Grosjean in seinem Buch Life with Two Languages: An Introduction to Bilingualism beschreibt in prägnanter Weise, wieso das Thema der vorliegenden Hausarbeit relevant ist. Schätzungsweise ist mehr als 50% der Weltbevölkerung mehrsprachig (vgl. Ansaldo et al. 2008: 539); die Tendenz ist hierbei steigend. Vor allem in der Zuwanderungsnation Deutschland wächst die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit durch die Immigration von ZuwanderInnen und Geflüchteten (Hinnenkamp 1998: 138). Während Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche längst reagiert haben und an Förderprogrammen für multilinguale Kinder mit Sprachschwierigkeiten arbeiten, hinkt der Fortschritt in einem anderen wichtigen sprach-pathologischen Forschungsgebiet: der Aphasietherapie.
Bei Aphasien handelt es sich um eine durch eine Hirnschädigung bedingte Sprachstörung, die je nach Schweregrad zu einem unterschiedlich ausgeprägten Verlust der Sprache führt. Ein Schlaganfall hat in ca. 40% der Fälle eine solche Aphasie zur Folge (Aphasiker.de). Da Sprache das „zentrale[n] Medium unserer Erfahrungsbasis und unserer Wissenskonstitution“ bildet (Wygotski 1934, 1971 zitiert in Felder 2009: 13), stellt ihr Verfall für Betroffene meist eine große Belastung dar. Die Kommunikation wird in allen gesellschaftlichen Bereichen erschwert und kann somit zur erheblichen Einschränkung im sozialen und beruflichen Leben von Menschen mit Aphasie führen. Umso höher ist der Anspruch an eine auf die PatientInnen individuell angepasste Therapie, die die Betroffenen dabei unterstützt, ihre prä-morbiden Sprachkompetenzen wiederzuerlangen. Diesen Anspruch auch bei Mehrsprachigen zu erfüllen, wird im zunehmend mehrsprachig werdenden Deutschland bisher dadurch erschwert, dass noch keine konkreten Konzepte für die Therapie mit bilingualen AphasikerInnen vorliegen und auch die deutsche Forschung in dieser Thematik eher zurückliegt. Es existieren jedoch mehrere aus dem Ausland stammende Studien, die erste Ansätze für eine möglichst effektive Therapie mit bilingualen PatientInnen bieten.
Als bisher vielversprechendste Methode stellt sich aus verschiedenen Forschungsarbeiten der sogenannte cross-linguistische Transfer Effekt (CLT) heraus. Dieser Effekt beruht auf der Annahme, dass verschiedene Sprachen eines Sprechers im Gehirn abhängig voneinander gespeichert sind und sich somit wechselseitig beeinflussen. In der Theorie soll diese interdependente Beziehung zwischen den Sprachen therapeutisch nutzbar gemacht werden, indem cross-linguistische Transfers durch bestimmte Maßnahmen gefördert werden. Auf diese Art und Weise könnten logopädisch gestützte Therapien also weiterhin monolingual durchgeführt werden und die multilingualen PatientInnen dennoch in all ihren Sprachen unterstützt werden.
Ziel dieser Hausarbeit ist es, Argumente, die für die Existenz des cross-linguistischen Transfers sprechen, sowie verschiedene Faktoren die diesen fördern, herauszuarbeiten, und die Vorteile, die in der Therapie mit mehrsprachigen AphasikerInnen durch den CLT entstehen, ausführlich darzustellen. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die sogenannten Cognates, also Wörter, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen sind. Aus den vorab getätigten Überlegungen ergibt sich folgende These, die am Ende der Hausarbeit rückblickend reflektiert werden soll: „In der Therapie von mehrsprachigen AphasikerInnen nimmt das Training mit Cognates eine Sonderstellung ein, da die etymologische Verwandtschaft von Sprachen cross-linguistische Transfererscheinungen begünstigt.“
Vorbereitend auf den Hauptteil, welches das Kapitel 5 „Cross-linguistischer Transfer“ darstellt, werden im anschließenden Kapitel 2 zunächst wesentlich relevante Definitionen für den Kontext der Hausarbeit erläutert. Kapitel 3 beinhaltet erste Überlegungen für die Diagnostik sowie die Therapie bei mehrsprachigen Menschen mit Aphasie. In Kapitel 3.1 wird dafür der Bilinguale Aphasie Test (BAT), ein standardisiertes Diagnoseverfahren für mehrsprachige AphasikerInnen vorgestellt, und in Kapitel 3.2 werden erste Überlegungen hinsichtlich der Therapie diskutiert. Kapitel 4 thematisiert im Anschluss verschiedene Sprachszugriffstheorien, die sich mit der Struktur mehrsprachiger Gehirne befassen und als Beleg für den cross-linguistischen Transfereffekt dienen. Den Hauptteil bietet schließlich das Kapitel 5, in dem Beweise für die Existenz des CLT, sowie Voraussetzungen für einen erfolgreichen therapeutischen Einsatz des CLT erläutert werden sollen. Um abschließend die zugrundeliegende These reflektieren zu können, wird in Kapitel 5.2 die Sonderstellung der Cognates thematisiert und intensiv beleuchtet werden. Den Abschluss der Hausarbeit bietet schließlich das Fazit mit Ausblick auf mögliche weitere Forschung.
2 Definitionen
2.1 Mehrsprachigkeit
Bevor sich einer Definition des vielschichtigen Begriffs der Mehrsprachigkeit angenähert wird, ist vorab festzulegen auf welchen Typ von Mehrsprachigkeit Bezug genommen wird. Bei Mehrsprachigkeit kann zwischen institutioneller, gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit unterschieden werden (vgl. Riehl 2014: 63). Da in dieser Arbeit die Therapie mehrsprachiger Individuen mit Aphasie untersucht wird, ist somit der letzte Typ, die individuelle Mehrsprachigkeit, von größter Relevanz.
Die Definition von individueller Mehrsprachigkeit ist kontrovers. Oft suggeriert die Definition des Begriffs, dass Mehrsprachige ihre Sprachen alle gleich perfekt beherrschen; von dieser Haltung wird in der Wissenschaft allerdings vermehrt Abstand genommen, denn nur in seltenen Fällen ist eine perfekte Beherrschung beider/aller Sprachen die Realität (vgl. Grosjean 2020: 14). So hält etwa Grosjean fest: „Die große Mehrheit derer, die im Alltag zwei oder mehrere Sprachen nutzen, verfügt weder über eine vergleichbare noch über eine perfekte Kenntnis der beteiligten Sprachen“ (Grosjean 2020: 14).
Eine weitere Definition bietet das Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung laut dem mehrsprachige Individuen jene Personen sind, die in ihrem Alltag zwei oder mehr Sprachen gebrauchen, in denen sie je „bedeutungsvolle Äußerungen“ produzieren können oder zwischen denen sie wechseln können. Nach Grosjean schließt die Definition auch jene Personen ein, die mindestens eine der „sprachliche[n] Teilkompetenz[en] Lesen, Schreiben, Sprechen, Hören“ in einer anderen Sprache beherrschen (Grosjean 2020: 14).
2.2 Multilinguale/Bilinguale Aphasie
Grundsätzlich bezeichnet Aphasie eine erworbene Sprachstörung, die in Folge einer Hirnschädigung auftritt. Der häufigste Auslöser für Aphasien sind Schlaganfälle, doch auch Tumore, Hirnverletzungen oder Entzündungen können Grund für das Auftreten einer Aphasie sein. Charakteristisch ist vor allem, dass die Ursache plötzlich auftreten muss, weshalb Aphasien ausgelöst durch degenerative Hirnerkrankungen (beispielsweise bei Demenz) teilweise abzugrenzen sind. Auf symptomatischer Ebene resultieren Aphasien meist in der Beeinträchtigung multipler sprachlicher Ebenen und Modalitäten; die jeweilige Zusammensetzung der Symptome sowie deren Schweregrad ist jedoch individuell verschieden (vgl. Tesak 2000: 14f). Eine Unterteilung des Begriffs in monolinguale vs. multi- oder bilinguale Aphasie wird insbesondere in Hinblick auf die Therapie von Betroffenen notwendig: wie bereits in der Einleitung erläutert, verlangt die wachsende Zahl an mehrsprachigen Personen nach therapeutischen Maßnahmen, die die Verbindungen zwischen Sprachen im Kopf der SprecherInnen berücksichtigen und sich effektiv zunutze machen.
Aufgrund der unzählig möglichen Sprachkombinationen bei multilingualen SprecherInnen und der unterschiedlich verlaufenden Heilungsmuster, stellt die Behandlung von mehrsprachigen AphasikerInnen eine besondere Herausforderung dar. Der Einfluss cross-linguistischer Effekte wird damit umso wichtiger (vgl. Ansaldo et al. 2014: 1f).
2.3 Cognates und Non-Cognates
Cognates (zu Deutsch etymologisch eng verwandte Wörter) sind äquivalente Wörter unterschiedlicher Sprachen, die hinsichtlich ihrer Form und Bedeutung identisch oder annähernd gleich sind. Non-Cognates hingegen sind Wörter, die zwar Übersetzungsäquivalente sind und somit eine ähnliche Bedeutung teilen, sich hinsichtlich ihrer Form aber unterscheiden (vgl. Ansaldo et al. 2014: 3).
3 Diagnose und Therapie
Sowohl bei der Diagnose als auch bei der Therapie von multilingualen Aphasien kommt es vor allem auf ein individuell angepasstes Testverfahren an, denn keine Aphasie gleicht der anderen und muss deshalb subjektiv therapiert werden. Schuell (1970, zitiert in Byng et al.1990: 67) nennt drei wesentliche Gründe die eine solche Testung notwendig machen:
1) Die WissenschaftlerInnen müssen untersuchen, welche zerebralen Regionen geschädigt und welche intakt sind.
2) Die WissenschaftlerInnen müssen untersuchen, bis zu welchem Niveau die Sprache in den jeweils untersuchten Modalitäten funktioniert, und ab wann sie versagt.
3) Die WissenschaftlerInnen müssen Gründe dafür finden, warum die Sprache ab einem gewissen Niveau versagt. (Byng et al. 1990: 67)
All diese Untersuchungen verfolgen insgesamt das Ziel, die PantientInnen einer bestimmten Gruppe von Aphasien zuzuordnen; beziehungsweise vorauszusagen, welche Therapie für sie die geeignete ist (vgl. Byng et al. 1990: 67).
Für die Diagnose von Aphasien gibt es diverse Testverfahren, darunter sowohl standardisierte, als auch nicht standardisierte. Dass all diese Testverfahren gleichermaßen Stärken sowie Schwächen besitzen, ist Gegenstand verschiedenster wissenschaftlicher Untersuchungen, weshalb ein allumfassender Blick auf diese Thematik den Rahmen der vorliegenden Hausarbeit sprengen würde. Stattdessen soll sich im Folgenden intensiv mit einem speziell für bilinguale Aphasien entwickelten Testverfahren, dem Bilingualen Aphasie Test (BAT), auseinandergesetzt werden.
3.1 Bilingualer Aphasie Test (BAT)
Der Bilinguale Aphasie Test, nachfolgend als ‚BAT‘ bezeichnet, ist ein standardisiertes Testverfahren zur Untersuchung von Aphasien bei mehrsprachigen Menschen, das zwischen 1967 und 1982 von dem Linguisten Michel Paradis und dem Neurologen Dr. Henry Hécaen entwickelt wurde (vgl. Paradis 2011: 427).
Laut Paradis bildet ein neurologischer Test, der von Dr. Hécaen routiniert vor und nach Eingriffen am Gehirn verwendet wurde, die Grundlage für den BAT. Der Test wurde im Zuge der Umwandlung zum BAT den linguistischen Besonderheiten angepasst und von 13 auf 32 Aufgaben erweitert. Die wesentliche Besonderheit des BATs liegt darin, dass die jeweils unterschiedlichen Sprachen linguistisch und kulturell betrachtet gleichwertig angepasst werden müssen, da eine reine Übersetzung weder zielführend noch sinnvoll wäre. Beispielsweise könnten auf semantischer Ebene Stimuli, die in der einen Sprache integrierter Bestandteil der Kultur sind, in einer anderen Sprache nicht gebraucht oder erst gar nicht erkannt werden. Auf der syntaktischen Ebene könnten Aufgaben in einer Sprache deutlich anspruchsvoller sein als in der anderen und auf phonologischer Ebene könnten bestimmte Stimuli sogar unbrauchbar werden, würde man sie lediglich übersetzen, beispielsweise bei Reimpaaren oder Homonymen (vgl. McGill.ca). Der BAT ist also kein „in Stein gemeißeltes Testverfahren“ (McGill.ca), sondern kann und muss jeder Sprache, jedem Dialekt und damit jedem Patienten individuell angepasst werden, womit er sich grundlegend von reinen Übersetzungsverfahren unterscheidet. Vorschläge dahingehend, wie man den Test optimal anpassen kann, finden sich unter anderem in Michel Paradis und Gary Libben (1987): The Assessment of Bilingual Aphasia (vgl. McGill.ca).
Entwickelt wurde der BAT vor dem Hintergrund die verschiedenen Sprachen eines bilingualen Patienten vergleichbar zu machen: es sollte einerseits bestimmt werden können, welche Sprache sich besser für die Kommunikation innerhalb der Therapie eigenen würde und andererseits eine Prognose darüber getätigt werden, welche linguistischen Bereiche einer Behandlung unterzogen werden müssen (vgl. Paradis 2011: 428). Darüber hinaus bietet der BAT eine hohe Vergleichbarkeit hinsichtlich einzelner Individuen oder Gruppen und kann als Evaluationstool für Behandlungseffekte dienen, weshalb er gerne auch für andere linguistische Forschungsfragen, die über bilinguale Aphasien hinausgehen, verwendet wird (vgl. Paradis 2011: 428).
Die Struktur des BATs setzt sich aus drei Stufen zusammen: (Paradis 2011: 432)
A) Fragebogen hinsichtlich der bilingualen Sprachbiographie der PatientInnen
B) Ein jeweiliger Test für die Sprachen der PatientInnen (in den Modalitäten Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben in jeweils 32 Aufgabentypen)
C) Für das jeweilige Sprachenpaar (z.B. Englisch/Spanisch) werden die Bereiche Worterkennung (1), Übersetzung von Wörtern und Sätzen (2) und Grammatik (3) getestet
Part A soll dabei Auskunft über die sprachlichen Fähigkeiten der PatientInnen vor der Hirnschädigung geben, sowie Motivationen oder emotionale Verknüpfungen der Betroffenen hinsichtlich der einzelnen Sprachen offenlegen. Die Relevanz dieser Informationen wird in Kapitel 5.2.3 noch genauer erläutert, wenn es um prä-morbide Sprachfähigkeiten geht. Angehörige der PatientInnen dürfen bei dieser Befragung wenn nötig zur Unterstützung herangezogen werden.
Part B dient zur Erfassung der sprachlichen Leistungen des oder der PatientIn auf verschiedensten sprachlichen Ebenen und Modalitäten. Der Test darf von Laien durchgeführt werden, sollte kein/e Therpeut/in ausreichende Kenntnisse in der gefragten Sprache besitzen; muss allerdings unbedingt durch ExpertInnen ausgewertet werden.
Part C soll abschließend überprüfen, ob eine Sprache stärker ausgeprägt ist als die andere. Um sicherzugehen, dass der Test in beide Richtungen gleich anspruchsvoll ist (Englisch zu Spanisch/ Spanisch zu Englisch), werden umkehrbare kontrastive Features eingesetzt, also solche die in beiden Sprachen entweder falsch oder obligatorisch wären (vgl. Paradis 2011: 432).
Der BAT wird heute sowohl im Zuge der Diagnostik in Kliniken, als auch zur Erforschung bei wissenschaftlichen Studien eingesetzt. Durch das Equivalenzprinzip, welches besagt, dass jede Sprache individuell angepasst und nicht einfach übersetzt wird, ist er in Forschungsfragen rund um das Thema Bilingualität vielfach einsetzbar und wird auch in der großen Mehrheit der in dieser Hausarbeit herangezogenen Studien verwendet.
3.2 Therapeutische Ansätze und Überlegungen
Bei der Recherche zur Therapie von mehrsprachigen Menschen mit Aphasie fällt zunächst auf, dass sich die Forschung im deutschsprachigen Raum überwiegend auf die Therapie im monolingualen Kontext beschränkt, beziehungsweise den Aspekt der Mehrsprachigkeit weitestgehend ignoriert. Auch die studierten Logopädinnen Petzer et al. betonen, dass bisher noch keine konkreten Konzepte für die Therapie von mehrsprachigen AphasikerInnen vorliegen (vgl. Petzer et al. 2015: 6). Im englischsprachigen Raum hingegen entwickelt sich die sprach-pathologische Forschung zunehmend in Richtung bilingualer Aphasien, weshalb bereits einige Studien vorliegen, die die genauere Untersuchung bilingualer Therapiemöglichkeiten befürworten.
Die wohl grundlegendste Frage mit der sich die bilinguale Aphasieforschung befasst ist die, ob die therapeutischen Maßnahmen in beiden, oder nur einer Sprache erfolgen sollten; und im letzteren Fall, in welcher (vgl. Ansaldo et al. 2008: 551). Auch wenn es aufgrund der unzureichenden Forschungslage noch keine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt, empfehlen die WissenschaftlerInnen der meisten Studien tendenziell eine überwiegend monolingual stattfindende Therapie bei bilingualen Menschen mit Aphasie (vgl. Ansaldo et al. 2008: 551). Grund dafür sind verschiedenen Indizien die auf einen cross-linguistischen Transfereffekt hinweisen – ein Phänomen welches die Grundlage dieser Hausarbeit bildet und im noch folgenden Kapitel 5 gründlich beleuchtet werden wird.
Bei dem cross-linguistischen Transfer, kurz CLT, geht es vereinfacht gesagt um die Annahme, dass die verschiedenen Sprachen eines multilingualen Sprechers nicht unabhängig voneinander funktionieren, sondern gemeinsame Verbindungen haben und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Petzer et al. 2015: 6). Genau dieser wechselseitige Einfluss der Sprachen soll in der Therapie nutzbar gemacht werden, sodass diese auch in einem monolingualen Kontext zur Rehabilitation des Patienten in all seinen Sprachen beiträgt. Gestützt wird dieser Ansatz von verschiedenen Modellen und Theorien, darunter beispielsweise das ‚Common Underlying Proficiency Modell‘ von Cummins und Swain (1996): Demnach bildet sprachübergreifendes Wissen, also solches welches zwar nicht direkt beobachtbar aber dennoch vorhanden ist, die Grundlage für den tatsächlich realisierten (also beobachtbaren) Sprachgebrauch in den verschiedenen LX. Die ‚Common Underlying Proficiency‘, also die sprachlichen Fähigkeiten die im Modell unter der Oberfläche dargestellt werden, steht also für metasprachliche Verarbeitungsprozesse, die für alle Sprachen der jeweiligen SprecherInnen gleich gelten. Das Modell unterstützt damit die Hypothese, dass Sprachen interdependent gelernt und angewendet werden und ist damit ein Argument für die Existenz des CLTs (vgl. Petzer et al. 2015: 7).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1
Wie bereits angedeutet ist nicht nur die Überlegung wie viele Sprachen die therapeutischen Maßnahmen umfassen sollten, sondern auch welche, relevant. Natürlich erübrigt sich diese Frage in der Realität oft durch die sprachlichen Kapazitäten des behandelnden Instituts bzw. des oder der behandelnden Therapeut/in, da vor allem letztere selten alle Sprachen der PatientInnen beherrschen. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass die verschiedenen Sprachen im Kopf der PatientInnen als ein gemeinschaftliches System funktionieren und eine Sprache deshalb nicht bei der Therapie ausgeschlossen beziehungsweise künstlich unterdrückt werden sollte (vgl. Ansaldo et al. 2008: 551).
Dafür spricht auch das sogenannte Code-Switching oder Code-Mixing, welches die Fähigkeit von mehrsprachigen Personen beschreibt, zwischen ihren Sprachen hin und her zu wechseln ohne dabei die syntaktischen Regeln der einen oder anderen Sprache zu verletzen. Besagtes Code-Switching oder -Mixing ist ein stets beabsichtigter Prozess hinter dem die Motivation steht, die Kommunikation zu optimieren, sich dem Thema, der Person, oder dem sprachlichen Kontext anzupassen (vgl. Ansaldo et al. 2008: 542). Dass diese bei Nicht-Hirngeschädigten bewusst steuerbare Fähigkeit bei AphasikerInnen oftmals in einem pathologischen (nicht beabsichtigten) Code-Mixing resultiert, wird auch in dem nachfolgenden Kapitel 4 noch einmal aufgegriffen werden. Auch wenn das pathologische Code-Mixing Ausdruck der sprachlichen Störung, und damit medizinisch betrachtet nicht wünschenswert ist, kann es dennoch in der Therapie nutzbar gemacht werden: das pathologische Mixing und Switching, welches in sich selbst einen cross-linguistischen Transfer bildet, kann je nach Auftreten essentielle Informationen über die sprachlichen Fähigkeiten und Gewohnheiten der PatientInnen liefern und sollte deswegen in jedem Fall vor Therapiebeginn mithilfe von Übersetzungs- und speziellen Switchingaufgaben getestet werden (vgl. Ansaldo et al. 2008: 549). Denn nicht nur das jeweilige Sprachniveau, sondern auch emotionale Faktoren müssen bei der Auswahl der Therapiesprache berücksichtigt werden (vgl. Ansaldo et al. 2008: 551).
Riccardi (2012, zitiert in Petzer et al. 2015: 8) sieht den Grund für unkontrolliertes Code-Switching und -Mixing in einer Störung der Kontrollfunktionen. Eine Maßnahme die sich daraus für die Therapie mit mehrsprachigen AphasikerInnen ableitet, ist die sogenannte Verbesserung der Exekutivfunktionen; das sind Übungen, bei denen die PatientInnen Strategien zur Selbstkontrolle lernen (vgl. Petzer et al. 2015: 9). Die PatientInnen üben hier also ihre Monitoring Fähigkeit (Alderman et al. 1995, zitiert in Petzer et al. 2015: 9) indem sie in einem therapeutischen Übungssetting, inszeniert beispielsweise durch ein Rollenspiel, Strichlisten darüber führen sollen, wie oft sie in ihre andere LX wechseln. Dieselbe Strichliste wird auch von dem/der Therapeut/in geführt und abschließend mit der des/der Patient/in verglichen. Diese Übung soll den PatientInnen helfen, sich ihrem pathologischen Code-Mixing bewusst zu werden, um langfristig betrachtet wieder die Kontrolle darüber zu erlangen (vgl. Petzer et al. 2015: 9).
Eine weitere Therapiemöglichkeit die sich aus den Vorteilen, die der CLT bietet, ableiten lässt, ist die semantische Merkmalsanalyse: diese beruht auf der Annahme, dass verschiedene Sprachen der SprecherInnen sich eine semantische Repräsentation teilen; eine Hypothese die durch Forschung zum Semantikerwerb im frühen Kindesalter bestätigt wird (vgl. Petzer et al. 2015: 7). Semantik, also die Bedeutung von Wörtern, wird demnach erworben, indem charakteristische Merkmale für das jeweilige Item kategoriell abgespeichert werden (vgl. Petzer et al. 2015: 7). Diese Merkmale sind folglich sprachübergreifend im Gehirn verankert und können in der Therapie zum Beispiel durch die Erarbeitung von semantischen Kategorien nutzbar gemacht werden und so die Rehabilitation beider Sprachen gleichzeitig fördern (vgl. Petzer et al. 2015: 9).
Den größten Erfolg bei cross-linguistischer Transfertherapie bei Bilingualen bildet allerdings nach dem aktuellen Forschungsstand die Arbeit mit Cognates. Da dieses Thema im Hauptteil dieser Arbeit noch intensiv behandelt werden wird, sei hier nur erwähnt, dass eine weitere sinnvolle Methode für die Therapie mit Bilingualen so aussieht, gemeinsam mit den PatientInnen Listen für Cognates zu erstellen bzw. diese zur Hilfe zu ziehen (vgl. Petzer et al. 2015: 8). Die genaue Wirkungsweise sowie die Vorteile von Cognates werden Inhalt der Kapitel 5.1.1 und 5.2 sein.
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