Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen in der DDR
3. Das Heimsystem der DDR
4. Methoden zur (Um-)Erziehung der Kinder und Jugendliche
5. Fazit
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In der folgenden schriftlichen Ausarbeitung beschäftige ich mich mit dem Thema der Heimerziehung in der DDR und der psychologischen Handlungsansätze innerhalb dieser. Schwerpunkt hierbei ist es, folgende Fragen anhand inhaltlicher und historischer Auseinandersetzungen mit dem Themenbereich des DDR-Heimsystems, zu beantworten, um somit die damaligen Ansichten mit denen der heutigen zu vergleichen: Wie wurde Psychologie - insbesondere in den Heimen - verstanden und umgesetzt? Gab es in Bezug auf der „zu bekämpfenden“ Verhaltensweisen der Eingewiesenen den (erwünschten) Erfolg oder haben sich die Handlungsweisen des Erziehungssystems negativ auf die Psyche bzw. die Entwicklung ausgewirkt? Um die Beantwortung dieser Fragen zu ermöglichen, beschäftige ich mich zuerst mit den Begriffen „abweichendes Verhalten“ und „Schwer- erziehbarkeit“ in der DDR. Darauffolgend werde ich auf das Heimerziehungssystem, dessen Ziele, Aufgaben, Funktionen und der Heimarten, eingehen, um somit ein Bild der damaligen Jugendhilfe darzustellen. Anschließend ist als nächster Punkt sich mit den (entwicklungs-)psychologischen Methoden der (Um-)Erziehung zu beschäftigen, insbesondere der Rolle der Psychologie, der therapeutischen Vorgehensweisen, der Psychopharmaka und Strafen. Schlussendlich erfolgt das Fazit.
2 Begriffsbestimmungen in der DDR
2.1 Abweichendes Verhalten
Das abweichende Verhalten wurde später als „verhaltensgestört“ bezeichnet und galt bis in die 1960er als Folge des Nationalsozialismus und des Krieges, welche nur durch die Errichtung und die Ausgestaltung des Sozialismus beseitigt werden könne. Der Begriff der Verhaltensstörung bzw. der Schwerziehbarkeit war eine Etikettierung der Kinder und Jugendliche, die nicht den Normen, Werten und ideologischen bzw. gesellschaftlichen Vorstellungen der DDR,aufgrund ihrer Verhaltensweisen, nicht entsprachen oder gerecht werden konnten und diese teilweise auch strafbar waren.123 Später führte man dieses Verhalten vermehrt auf hirnorganische Schäden zurück. Hierbei ist zu bedenken, dass das „seltsame“ Verhalten in Wirklichkeit auf gesundheitliche Gründe deduzierbar sein könnte, wie z.B. Epilepsie oder die Aufmerksamkeitsdefizit(-Hyperaktivitäts)-Störung.41 2 Der Begriff des abweichendes Verhaltens und dessen Ursachen werden noch heute diskutiert. Diesbezüglich gibt es unterschiedliche Theorien und Ansätze, die keine gänzliche und einheitliche Definition bzw. Bedeutung bieten können.
2.2 Schwererziehbarkeit
Dieser Begriff gehört als abweichendes Verhalten aus der Sicht der DDR-Pädagogik verstanden, ist jedoch meist als schwerwiegendere Stufe bzw. detaillierter verstanden und ist demnach besser an „Symptomen“ zu erkennen. Diese „Symptome“ umfassen unter anderem: Aggressionen, Undiszipliniertheit, kriminelle Handlungen, wie zum Beispiel Diebstahl, unerlaubtes Fehlen in der Schule oder Wegrennen. Es genügte auch, wenn man sich „anders“ als gesellschaftlich akzeptiert kleidete oder ungepflegt aussah.567 Man geht bei der Schwererziehbarkeit auch von einer Störung der Anpassungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen an den gesellschaftlichen Interessen, Normen und Werten aus, die die Betroffenen durch ihr „Negativverhalten“ zu beseitigen versuchen und scheitern und somit in eine tiefere Grube gelangen, aus der sie keinen Ausweg finden. Es galt demnach die Psyche des Kindes so umzuerziehen und zu beeinflussen, dass es sich mit dem Sozialismus und dem Kollektiv identifizieren konnte. Dies konnte nur durch Heim- und Kollektiverziehung erbracht werden.3
3 Das Heimsystem der DDR
Als Reaktion auf die Zeit während und das Ende des zweiten Weltkrieges und den darauffolgenden traumatisierten, elternlosen und/oder verelenden Kindern und Jugendlichen - allein in Berlin gab es ungefähr 200.000 - stieg der Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten, die schnell zu schaffen waren. Sowohl zerstörte als auch neue Heime wurden (wieder-)aufgebaut.4 Im Jahre 1947 ordnete der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) mit Befehl Nr. 156. an, dass sich die Jugendämter dem damaligen Ministerium für Volksbildung (MfV) - die zur Gründungszeit 1945 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung hieß - zu unterstellen hatten und somit auch die Heimerziehung. Das MfV diente als Hilfsorgan der SMAD in unterschiedlichen Aspekten.5 Es wurde in zwei Heimarten unterteilt: 1) die Normalheime für Kinder und Jugendliche mit „normalem“ Verhalten, die nur aus unsicheren Milieus kamen und 2) die Spezialheime für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Diese Ausdifferenzierung wurde 1951 gefestigt und galt bis zum DDR-Ende. Die späteren Sonderheime waren für „besonders Verhaltensgestörte“, mit denen die anderen Heime überfordert waren. Es ist hierbei zu erwähnen, dass die Kinder von Funktionären (Funktionärskinder), also deren Eltern wichtige Rollen in der DDR-Gesellschaft bezogen, nicht von der Einweisung ausgeschlossen waren - oftmals kamen sie durch die freiwillige Aushändigung (als Beweis der Staatstreue) ihrer Eltern ins Heim.Die Einweisung sollte dabei nur dann eingeleitet werden, wenn jede andere Maßnahme (zum Beispiel Verwarnungen oder Schutzaufsicht) keinen Erfolg erbrachte und dies somit die letzte Möglichkeit war, abweichendes Verhalten korrigieren zu können. Die Realität sah dennoch anders aus: alle verhaltensgestörten Kinder und Jugendliche ab dem dritten Lebensjahr und ein großer Teil bestrafter Jugendlicher wurden demnach in Heimen untergebracht.111213 Wesentliches Ziel des ganzen Heimsystems war es, die Aufgaben, die die (unfähigen) Eltern nicht erfüllen konnten, zu überneh- men.Die Eltern hatten in diesem Zusammenhang gemäß des Familiengesetzbuches die Pflicht, ihre Nachkommen zur „sozialen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus“ zu formen.1415 Es ging darum, das Bewusstsein des Kindes bzw. des Menschen so zu beeinflussen, dass es zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ wurde. Man spricht hierbei von einer marxistischen Ethik, die die DDR bis zum Ende mitprägte. Die Heime arbeiteten mit strengen Regeln und auf Grundlage einer sozialistischen Pädagogik und der Kollektiverziehung nach dem Vorbild Makarenko.161718
3.1 Das Spezialheimsystem
Unter dem System der Spezialheime befassen sich nicht nur die Spezialheime, sondern auch die Jugendwerkhöfe und die Durchgangsheime. 19Die Spezialheime bildeten ein besonderes Heimsystem, da sie speziell für Kinder und Jugendliche mit abweichendem Verhalten bzw. für Schwererziehbare waren, die in den Normalheimen nicht die notwendigen 6 7 8 9 10
Maßnahmen erhalten würden und so nicht genug sozialisiert werden könnten. Gründe für die Einweisung in dieses System waren gesellschaftlich-abweichende Verhaltensweisen, wie die oben genannten „Symptome“ des abweichenden Verhaltens, darunter auch Kinder und Jugendliche, die sich der „westlich-dekadenten“ Kulturen, zum Beispiel Hippies und Punks, anstelle des FDJs anschlossen oder wegen einer Flucht aus der Republik (geplant bis versucht) einzusperren und bearbeitet werden sollten.2021 Da die Gründe der Einweisungen breitgefächert waren und nichts spezifizierten, sondern jeden in die Heime unterbrachten, die nur ansatzweise gegen die Vorstellungen verstießen, war es nicht verwunderlich (gemäß Methner), dass sich schon in den Jahren 1947 bis 1948 die Zahl der Heime für schwererziehbare Kinder und Jugendlichen verdoppelte.22
Um den Umgang mit den schwererziehbaren Kindern und Jugendlichen erfolgreich zu ermöglichen, bedurfte es vor allem die Herstellung eines sehr autoritären Erziehungsstils des beteiligten Personals (ErzieherInnen, LehrerInnen usw.), die Arbeit des Erziehens folgenreich zu planen und zu organisieren und diese in homogenen Gruppen durchzuführen. Zudem sollte das Fachpersonal kooperativ miteinander arbeiten und so viele Reize aus der Umwelt wie möglich kontrollieren, dabei spielten auch die heimeigenen Schulen eine besondere Rolle, da diese äußere Umweltreize isolierten.2324 Aufgrund dieser hohen Nachfrage an Heimplätzen in Spezialheimen kam die SED immer mehr in Bedrängnis: ihre ideologischen Vorstellungen, dass abweichendes Verhalten Reste des Nationalsozialismus und Ergebnisse misslungener Erziehung seien und nur durch den Fortschritt des Sozialismus geheilt werden könne, gerieten ins Wanken. Sie brauchten neue Ansätze, um abweichendes Verhalten erklären zu können und stießen auf die Begründung, dass Verhaltensstörungen durch physisch-psychische bzw. hirnorganische Defekte versursacht wurden, auch wenn sie keine genauen Befunde hatten (man spricht von einem Paradig- menwechsel). Dieser neuen Erkenntnisse bedurfte es entsprechender Einrichtungen, die schulisch, pädagogisch, psychologisch, therapeutisch, d.h. multiprofessionell, intervenieren und fungieren sollten.11 12 13
3.2 Das Kombinat der Sonderheime
Das von 1964 bis 1987 bestehende Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie genoss eine Sonderstellung im ganzen Heimsystem, war eine gesonderte Einheit im Spezialheimsystem und direkt dem Ministerium für Volksbildung untergeordnet. Es handelte sich hierbei um einen Zusammenschluss von vier Sonderheimen in Groß Köris, Bollersdorf, Borgsdorf und Werftpfuhl sowie einem Aufnahmeheim in Berlin, die die Verhaltensstörungen bzw. -auffälligkeiten diagnosti- zierte.26 Die Altersgruppe der Betroffenen umfasste Sechs- bis Achtzehnjährige, die psychische Verhaltensauffälligkeiten im Sinne der DDR-Vorstellungen aufwiesen, die therapeutische Maßnahmen benötigten, die sie in den Spezialheimen nicht erhalten würden oder wenn die Spezialheime sich im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen überfordert sahen.272829 Die Gründung dieses Heimsystems entstand aus dem Grund der Überforderung der Spezialheime - Das Sonderheimkombinat erhielt also eine entlastende Funktion - und der Nachfrage an heilpädagogischer Betreuungsformen. Hierbei wurde die Trüper'chen Jugendheime als Orientierungspunkt genutzt, indem man psychologische Hilfe miteinbezog.14 15 Durch das Einbinden von Psychologen wollte man versuchen, die Kinder und Jugendlichen schneller in ihr vorheriges soziale Umfeld zu reintegrieren, indem man die sozialen Rahmenbedingungen verfeinerte - man kann von einer Rehabilitationspädagogik sprechen - und die „Symptome“ zu lindern. Sowohl die Entlastungsfunktion als auch die Rehabilitationsfunktion konnten kaum eingehalten werden, da zum einen die Kapazitäten aufgrund Personalmangels zu gering waren und zum anderen die Länge des Aufenthaltes oftmals ausdehnten. Das Sonderheimkombinat hatte zudem noch eine weitere Funktion: sie beriet andere Heime und Eltern zu Fragen der Handlungsempfehlungen mit „verhaltensgestörten“ Kindern und Jugendlichen. Desgleichen diente es zur Forschung zum Thema abweichendes Verhalten und sollte somit Erkenntnisse und Empfehlungen weitervermitteln, indem es Fachzeitschriften veröffentlichte und ähnliches Material bereitstellte.16
Wie schon erwähnt gehörten zum Sonderheimkombinat-Personal psychologische Fachärzte. Die Psychologen sollten anhand eines „Symptomerfassungsbogens“ (SEB) die Psychopathien und Entwicklungen der Betroffenen erfassen, beschreiben und dementsprechend analysieren, um dann ihre Erkenntnisse in den „Maßnahmeplan“ einbringen und Gutachten ausschreiben. Es ist zu erwähnen, dass der SEB sehr defizitorientiert war und weder Stärken noch Ressourcen ermittelte.32 Die Psychologen wurden in jedem Sonderheim für drei Gruppen zugewiesen, d.h. dass jeder Psychologe ungefähr 36 Kinder und Jugendliche zu therapieren hatte. Zieht man noch hinzu, dass das psychologische Fachpersonal 40 bis 42 Stunden die Woche arbeiteten, kann man berechnen, dass nicht jedes Kind die Möglichkeit hatte, ein Gespräch mit dem Psychologen zu erhalten. Es ist daher davon auszugehen, dass die psychotherapeutischen Maßnahmen nicht gänzlich ausgenutzt werden konnten. Auch die Vorstellung einer multiprofessionellen Arbeit schien wenig erfüllt zu sein. Zeitzeugen, ehemalige ErzieherInnen berichteten, dass sie außerhalb von Teamsitzungen kaum Kontakt mit den Psychologen gehabt hätten und diese im Heimalltag geringe Hilfe geleistet hatten, sich zu sehr auf die Berichte der ErzieherInnen verließen und somit kein eigenes bzw. vollständiges Bild vom Kind machten.33
[...]
1 Vgl. Methner 2015: S. 50 3 Vgl. Dreier-Horning 2016: S. 21
2 Vgl. Piethe 2014: S. 16 4 Vgl. Bley/Pingel-Schliemann 2018: S. 34
3 Vgl. Bley et al 2018: S. 42
4 Vgl. Laudien/Sachse 2011: S. 182
5 Vgl. Grzeforzewski/Heine/Richter 2013: S. 10
6 Vgl. Piethe 2014: S. 20
7 Vgl. Methner 2015: S. 22f.
8 Vgl. AGJ 2012: S. 21
9 Vgl. Sachse/Baumgarten/Knorr 2018: S. 36f.
10 Vgl. Bley et al 2018: S. 41f.
11 Vgl. Methner 2015: S. 32f.
12 Vgl. Bley et al 2018: S. 43
13 Vgl. Methner 2015: S. 50f.
14 Vgl. AGJ 2012: S. 28f.
15 Vgl. Methner 2015: S. 61f.
16 Vgl. Methner 2015: S. 64ff.