Ulrich Deinets Aneignungskonzept im Kontext der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendarbeit


Hausarbeit, 2021

19 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhalt

1. Raum und Sozialraum

2. Sozialraumorientierung in der Kinder - und Jugendarbeit

3. Das Konzept der sozialräumlichen Aneignung

4. Das Aneignungskonzept nach Ulrich Deinet
4.1. Entgrenzung von Sozialräumen

5. Die Förderung von Aneignungsprozessen in der sozialräumlich orientierten Kinder- und Jugendarbeit
5.1. Die sozialräumliche Bildungslandschaft

6. Ein konkretes Beispiel für sozialraumorientierte Jugendarbeit

7. Reflexion

8. Literatur

1. Raum und Sozialraum

Bevor man sich näher mit dem Konzept der Raumaneignung beschäftigt, macht es Sinn, sich zunächst mit den Begriffen Raum und Sozialraum vertraut zu machen:

Grundsätzlich ist die absolutistische von der relativistischen Raumvorstellung zu unter­scheiden: Im 17.Jahrhundert etablierte Isaac Newton die absolutistische Raumvorstellung in den Naturwissenschaften. Diese besagt, dass der Raum als eine Art Behälter fungiert, welcher beliebig mit Gegenständen, Menschen oder sozialen Prozessen gefüllt werden kann, ohne dabei durch den Inhalt beeinflusst zu werden. Der absolutistische Raum ist demnach fixiert und unveränderbar durch seinen Inhalt. Er kann zudem ohne Inhalt exis­tieren, unabhängig von menschlichem Handeln. Dieser starren, absolutistischen Raum­vorstellung steht die relativistische Raumvorstellung nach Gottfried W. Leibniz gegenüber. Leibniz sieht den Raum nicht als absolute eigene Realität, sondern als Ergebnis von Be­ziehungen zwischen Körpern. Demnach definiert sich der Raum nicht darüber, dass er bloß mit Inhalten gefüllt wird, sondern erst die sich in ihm bewegenden Körper bilden durch menschliches Handeln den Raum (vgl. Lee, 2007, S. 40).

Beide beschriebenen Vorstellungen von Raum finden sich sowohl in materialistischen als auch in konstruktivistischen Raumtheorien wieder, beschreiben jedoch noch keinen kom­plexen Sozialraum, in dem ein ständiges Wechselspiel zwischen fixierten Ordnungen und menschlichem Handeln stattfindet. Aus diesem Grund plädiert Martina Löw (2001) für eine Verknüpfung der beiden oben genannten Raumvorstellungen und vereint diese in einem relationalen Raumverständnis miteinander (vgl. Löw, 2001, S. 309). Löw definiert den re­lationalen Raum als „eine relationale (An-) Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebe­wesen) an Orten“ (ebd., S. 44). In dieser Form beinhaltet der Raumbegriff als eine Hand­lungsdimension das sogenannte „Spacing“, das Platzieren sozialer Güter und Menschen im Raum. In einer Syntheseleitung werden hier Güter und Menschen zu Räumen zusam­mengefasst, weshalb diese Syntheseleitung eine strukturierende Dimension darstellt. Der Raum in der relationalen Raumvorstellung besitzt einen Doppelcharakter: Raum ist das Resultat und zugleich die Bedingung für soziale Prozesse (vgl. ebd., S. 300). Da Raum nach der relativistischen Raumvorstellung immer das Ergebnis menschlichen Handelns ist und gleichzeitig das menschliche Handeln beeinflusst, wird hier von Sozialraum gespro­chen. Dabei stehen nicht die geographischen Gegebenheiten im Vordergrund, sondern vielmehr der von Menschen konstruierte Raum voller Beziehungen und Interaktionen, nämlich der menschliche Handlungsraum (vgl. Kessl/ Reutlinger, 2010, S. 32).

Für Pierre Bourdieu ist der Sozialraum ein machtförmig strukturierter und mehrdimensio­naler gesellschaftlicher Raum, in welchem einzelne AkteurInnen aufgrund unterschiedli­cher Ressourcen in Relation zueinander positioniert sind. Ihre Position ist dabei in Abhän­gigkeit vom vorhandenen Kapital ausschlaggebend für ihren eigenen Handlungsspielraum 1 (vgl. Kessl in: Thole et al., 2015, S. 309). Innerhalb sozialpädagogischer Debatten be­schreibt der Begriff des Sozialraums allgemein den Nahraum bzw. die direkte Umgebung einzelner AkteurInnen (vgl. ebd.). Der Sozialraum kann einen Kiez, ein ganzes Dorf, einige Straßen, einen Stadtteil etc. umfassen und ist immer ein subjektiv erlebter Raum; die Be­wegungen in der eigenen Lebenswelt können als Sozialraum verstanden werden. So ge­sehen hat jeder Mensch seinen individuellen Sozialraum: „Menschen sind Akteure in ihrer Lebenswelt, und die ist eben für viele Menschen ihr Stadtteil [...] Dort bilden sich Interes­sen, Problemlagen und Ausdrucksformen von Alltagskulturen ab“ (Hinte 2001, S. 77). Der Begriff des Sozialraums ist in sozialpädagogischen Debatten häufig vertreten, wenn es um Stadtentwicklungsprogramme geht und um grundlegende Veränderungen in den bisheri­gen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements (vgl. ebd., S. 78). Eine sozialraumorientierte Neujustierung soll dazu beitragen, dass der Einzelfallbezug nicht gänzlich dominiert, son­dern immer auch unter Einbezug des sozialen Kontextes stattfindet (vgl. ebd., S. 310). In der Literatur existieren weitere, unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Sozialraum“, von denen die meisten das Ziel der sozialräumlich orientierten Kinder- und Jugendarbeit, das Individuum in dessen Lebenswelt zu erfassen, verfolgen. Auch das Kinder- und Ju­gendhilfegesetz mit seinem Auftrag an die Jugendhilfe, „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen“ (SGB VIII/KJHG § 1 Abs. 3 Nr. 4) greift dieses Ziel auf.

2. Sozialraumorientierung in der Kinder - und Jugendarbeit

Sozialraumorientierung ist ein konzeptioneller Ansatz in der Sozialen Arbeit, der ursprüng­lich in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt wurde und in diesem Feld auch am meisten zum Einsatz kommt. Galuske und Schoneville sprechen von einem „Boom des Sozial­raums“ (Galuske/ Schoneville, zitiert in Kessl/ Reutlinger 2017, S. 312). Unter den Begriff Sozialraumorientierung fallen Reformstrategien in der Kinder- und Jugendhilfe in den ver­gangenen 25 Jahren, mit denen auf der fachlichen und organisatorischen Ebene grundle­gende Neujustierungen verbunden sein sollten (vgl. Kessl/ Reutlinger, 2017, S. 1067). Die Einführung einflussreicher Stadtentwicklungsprogramme erhöht die politische Aufmerk­samkeit für diverse Konzepte der sozialpädagogischen Sozialraumorientierung seit den 1990er Jahren. Die Rückbindung der Stadtentwicklungsprogramme an die Bevölkerung ist ein wichtiger Teil von sozialraumorientierter Sozialer Arbeit (vgl. Kessl in:Thole et al., 2015, S. 310). Das Konzept der Sozialraumorientierung zielt auf die Verbesserung der Lebens­bedingungen von BewohnerInnen eines sozialen Raums ab. Dabei werden die Bedürf­nisse der Individuen als Ausgangspunkt genommen und es wird sich grundsätzlich an den vorhandenen Ressourcen des Sozialen Raums orientiert (vgl. Schoneville, 2015, S. 311). Sozialraumorientierung verschreibt sich dem Präventionsgedanken; es wird versucht, durch die Aktivierung vorhandener Ressourcen jene Bedingungen herzustellen, durch wel- che die bestehenden sozialen Probleme aufgefangen und neu entstehende Probleme ver­hindert werden (vgl. ebd.) Dies erfordert immer ein Zusammenspiel auf verschiedenen Ebenen. Die konkrete Hilfe wird möglichst innerhalb der sozialräumlichen Bezüge der be­troffenen Menschen realisiert (vgl. ebd.).

„Kitas, Schulen, auch Kinderhäuser, auch Jugendwohnungen und Wohngruppen, kurz: alle Einrichtungen, in denen sich Kinder über eine längere Zeit aufhalten, sind [...] in einen sozialräumlichen Ansatz eingeschlossen, denn sie gehören zum Gemeinwesen, prägen dessen Struktur und sind daran beteiligt, mit welchem ,Bild‘ von ihrem Ort des Aufwach­sens, mit welcher Vorstellung von der eigenen Wirksamkeit bei dessen Veränderung, kurz: welche Art einer ,Ortsidentität‘ sie entwickeln“ (Treeß 2014, S. 150).

Für die Sozialraumorientierung lassen sich nach Hinte fünf handlungsleitende Prinzipien konkretisieren (vgl. Hinte, 2001, S. 129 ff.).

1. Konsequente Orientierung am Willen und den Interessenten der Betroffenen: In Abgren­zung zum Wunsch bezieht sich der Wille auf jene Ziele, die Betroffene aus eigener Kraft erreichen können. Die Interessen und der Wille der Menschen in einem Sozialraum bilden den Ausgangspunkt der Sozialraumorientierung.
2. Förderung von Selbsthilfe und aktivierende Arbeit anstelle von bevormundender Betreu­ung: Menschen sollten primär dazu befähigt werden, ihre eigenen, vorhandenen Möglich­keiten auszuschöpfen und nur in dem Maße angeleitet werden, welches die individuelle Situation erdordert.
3. Ressourcenorientierung: der Fokus liegt auf den im Sozialraum vorhandenen Mittel und auf den Stärken der betroffenen Menschen innerhalb des Sozialraums (materiell und per­sonell)
4. Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz: Sozialraumorientierung schließt den gesamten Sozialraum und alle BewohnerInnen mit ein. Grundsätzlich werden Angebote so angelegt, dass Zusammenhänge zwischen verschiedenen Personengruppen im Sozi­alraum hergestellt und Kooperationen ermöglicht werden.
5. Vernetzung und Kooperation: Die intensive Vernetzung zwischen verschiedenen Grup­pen und Diensten in einem Sozialraum bilden die Grundlage sämtlicher Strukturen.

Für Hinte ist Sozialraumorientierung ein übergeordnetes Fachkonzept, welches auf den verschiedenen Feldern Sozialer Arbeit angewandt wird (vgl. Hinte, 2001, S. 132).

Zu den Grundelementen einer gelingenden sozialräumlichen Arbeit zählen Methoden, wie etwa die Sozialraumanalyse, die drei Ebenen sozialräumlicher Arbeit, das Sozialraum­budget und die Einführung von Steuerungsgremien (vgl. ebd., S.134).

3. Das Konzept der sozialräumlichen Aneignung

„Raumaneignung ist die Fähigkeit den physikalischen, sozialen und geistigen Raum han­delnd zu erschließen, sodass man sich in ihm orientieren kann, worunter Handlungsent­würfe und -realisationen zu verstehen sind.“ (Kruse in: Kruse et al., 1978, S. 187). Durch Raumaneignung werden Lebensräume genutzt und erlebt. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Mobilität. Man unterscheidet dabei zwischen dem „Gebrauch" und der „Aneig­nung" von Räumen: unter Gebrauch ist die bloße Nutzung eines Raums und dessen ver­fügbaren Funktionen zu verstehen. Aneignung hingegen beschreibt die Veränderung bzw. Entwicklung von Raumnutzungen (vgl. Ahrend, 2002, S. 34 f.).

Nach Krause und Schönmann vollzieht sich die Entwicklung des Raumverständnisses von Kindern in drei Phasen, die je nach Alter voneinander zu unterscheiden sind:

1. Das topographische Raumverständnis bei Zwei- bis Siebenjährigen beschreibt den Be­ginn der Entwicklung der Repräsentation räumlicher Beziehungen. Der Ausgangspunkt des Kindes ist dabei ausschließlich die eigene Position im Raum.
2. Das projektive Raumverständnis entwickelt sich i.d.R. im Alter ab sieben Jahre und dauert ca. bis zum elften Lebensjahr an. Es findet eine Loslösung von der egozentrischen Raumwahrnehmung statt; Richtungen und Distanzen können zu diesem Zeitpunkt bereits in Referenz zur Position eines fixen Objektes hergestellt werden.
3. Das euklidische Raumverständnis ab dem zwölften Lebensjahr beinhaltet die Vervoll­kommnung der räumlichen Repräsentation; es zeichnet sich ein abstraktes Koordinations­system ab, basierend auf den physikalischen Merkmalen und Distanzen der Umwelt. (vgl. Krause/ Schönmann, 1999, S. 10 f.).

„Das Aneignungskonzept der kritischen Psychologie eignet sich dazu, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen als sozialräumliche Aneignung ihrer Lebenswelt zu begreifen.“ (Deinet 2012, S. 2)

Bei der Aneignung von Räumen spielen öffentliche Räume im unmittelbaren Wohnumfeld eine wichtige Rolle; diese werden durch ihre regelmäßige Nutzung zu einer Art informellen Institution für Kinder und Jugendliche (vgl. May, 2002, S. 5). So kann der öffentliche Raum gleichzeitig als eine Bildungsstätte für Kinder und Jugendliche begriffen werden. Als ein Ort der informellen Bildung trägt er zur Entwicklung sozialer Kompetenzen in wechselnden Gruppen bei, ebenso wie zum Umgang mit neuen Situationen. Laut Deinet ist der öffentli­che Raum somit ein zentraler Ausgangsort von Aneignungsprozessen, die von Kindern und Jugendlichen selbst initiiert werden. Darum sollten Bildungslandschaften weiter ge­fasst werden als bisher (vgl. Deinet, 2012, S. 4).

Orte wie beispielsweise Fußgängerzonen und Spielplätze beinhalten sinnliche und kom­munikative Qualitäten für Kinder und Jugendliche. Nach Ullrich Deinet besitzen öffentliche Räume die sozialisierenden Funktionen der Kommunikation und Interaktion, sowie der Repräsentation und Selbstdarstellung für Jugendliche (vgl. ebd., S. 6).

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Ulrich Deinets Aneignungskonzept im Kontext der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendarbeit
Hochschule
Hochschule RheinMain
Veranstaltung
Theorien der Bildung und Erziehung
Note
1,8
Autor
Jahr
2021
Seiten
19
Katalognummer
V1160875
ISBN (eBook)
9783346572554
ISBN (Buch)
9783346572561
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aneignungskonzept, Sozialraum, Bildung, Ganztagsschule, Jugendarbeit, Bildungschancen, Sozialraumorientierung, Entgrenzung
Arbeit zitieren
Sina Krehl (Autor:in), 2021, Ulrich Deinets Aneignungskonzept im Kontext der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1160875

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