Die Messung schriftsprachlicher Leistungen in der 3. bis 4. Klassenstufe. Veränderungssensitivität von diagnostischen Verfahren


Masterarbeit, 2021

147 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


1. Zusammenfassung

2. Abstract

3. Einführung

4. Methodenteil
4.1. Zusammenfassung

5. Aktueller Forschungsstand
5.1. Definition und Klassifikation der LRS nach ICD-10 und DSM-V
5.2. Prävalenz und Geschlechterverteilung der LRS (F81.0 / F81.1)
5.3. Stabilität der Minderleistung bei der LRS (F81.0 / F81.1)
5.4. Zusammenfassung

6. Entwicklungspsychologische und kognitionspsychologische Grundlagen für den Schriftspracherwerb
6.1. Das Dual-Route-Cascade-Model (DRC) nach Max Coltheart (2007)
6.2. Das Drei-Phasen-Modell von Uta Frith (1985)
6.3. Die logographische Phase des Schriftspracherwerbs
6.4. Die Alphabetische Lese- und Schreibstrategie
6.5. Die Orthographische Erwerbsphase
6.6. Zusammenfassung
Das Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese-
6.7. und Schreibstrategien nach Klaus-B. Günther (1986)

7. Bundeslandinterne Vorgaben zur Kompetenzentwicklung anhand des Rahmenlehrplans der Bundesländer Berlin und Brandenburg im Zusammenhang des Erwerbs schrift­ sprachlicher Fertigkeiten
7.1 Kompetenzentwicklung im Land Berlin und Brandenburg
7.2 Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Leserfertigkeiten (Leseflüssigkeit, Texte gestaltend vortragen)
7.3 Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Lesen (Lesestrategien nutzen & Textverständnis sichern)
7.4 Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Schreiben - Richtig schreiben
7.5 Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Sprachwissen und Sprachbewussheit entwickeln (Sprache nutzen und Sprachgebrauch untersuchen)
7.6 Zusammenfassung

8. Psychometrische Verfahren zur testdiagnostischen Erfassung der LRS
8.1 Psychometrische Verfahren zur Erfassung der LRS nach DGKJP Empfehlung
8.1.1. Psychometrische Erfassung von Lesefertigkeiten (Leseverständnis, Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit - DGKJP, 2015, S. 71)
8.1.2. Automatisierungsleistung und Benenngeschwindigkeit
8.1.3. Diagnostische Erfassung von Rechtschreibfertigkeiten
8.1.4. Wortschatz
8.2 Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6)
8.2.1 Theoretische Grundlagen der Testkonstruktion
8.2.2 Testaufbau und diagnostische Zielsetzung
8.2.3 Psychometrische Eigenschaften und Testgütekriterien
Objektivität
Reliabilität
Validität
Kriteriumsbezogene Validität
8.3 Qualitative Abgleich des ELFE (1-6) mit den Rahmenlehrplanvorgaben zur Kompetenzentwicklung der Bundesländer Berlin und Brandenburg
8.3.1 Lesefertigkeiten
Wortverständnistest
Satzverständnistest
Textverständnisleistung
Automatisierungsleistung und Benenngeschwindigkeit
8.3.2 Objektivierbare Hinweise für die Veränderungssensitivität des Leseverständ-nistests ELFE (1-6)
8.4 Die Erfassung der Lesegeschwindigkeit über die Würzburger Leise Leseprobe - Revision (WLLP-R)
8.4.1 Theoretische Grundlagen der Testkonstruktion der WLLP-(R)
8.4.2 Testaufbau und diagnostische Zielsetzung der WLLP-(R)
8.4.3 Psychometrische Eigenschaften und Testgütekriterien der WLLP-(R)
Objektivität
Reliabilität
Validität
8.4.4 Qualitativer Abgleich der WLLP-(R) mit den Rahmenlehrplanvorgaben zur
Kompetenzentwicklung der Bundesländer Berlin und Brandenburg
Lesefertgkeiten
8.4.5 Objektive Hinweise für die Veränderungssensitivität der WLLP-(R)
Erste Teilstudie
Zweite Teilstudie
8.5 Salzburger Lese- und Rechtschreibtest II (SLRT-II) 79
8.5.1 Theoretische Grundlagen der Testkonstruktion des SLRT-II
8.5.2 Testaufbau und diagnostische Zielsetzung des SLRT-II
Lesediagnostik des SLRT-II
Rechtschreibtest des SLRT-II
8.5.3 Psychometrische Eigenschaften und Testgütekriterien des SLRT II
Objektivität
Reliabilität
Validität
8.5.4 Qualitativer Abgleich des SLRT II mit den Rahmenlehrplanvorgaben zur
Kompetenzentwicklung der Bundesländer Berlin und Brandenburg
Objektive Hinweise für die Veränderungssensitivität des SLRT-II
8.5.5 Lesediagnostik des SLRT-II
8.5.6 Rechtschreibdiagnostik des SLRT-II
8.6 Deutscher Rechtschreibtest für das dritte und vierte Schuljahr (DERET 3-4+)
8.6.1 Theoretische Grundlagen des (DERET 3-4+)
8.6.2 Testaufbau und diagnostische Zielsetzung des DERET 3-4+
8.6.3 Psychometrische Eigenschaften und Testgütekriterien des DERET 3-4+
Objektivität
Reliabilität
Validität
8.6.4 Qualitativer Abgleich des DERET 3-4+ mit den Rahmenlehrplanvorgaben zur Kompetenzentwicklung der Bundesländer Berlin und Brandenburg
8.6.5 Objektive Hinweise auf Veränderungssensitivität
8.7 Hamburger Rechtschreibprobe - HSP (1-10)
8.7.1 Theoretische Grundlagen der HSP (1-10)
8.7.2 Testaufbau und diagnostische Zielsetzungen der HSP (1-4/5)
8.7.3 Psychometrische Eigenschaften und Testgütekriterien der HSP (1-4/5)
Objektivität
Reliabilität
Validität
8.7.4 Qualitativer Abgleich der HSP (1-4/5) mit den Kompetenzvorgaben des
Rahmenlehrplans der Bundesländer Berlin und Brandenburg
8.7.5 Objektive Hinweise auf Veränderungssensitivität

9. Zusammenfassung

10. Fazit

11. Literatur :

Studien- und Prüfungsord¬nung: Sonderpädagogik im Kernfach/ Deutsch als Zweitfach (M. Ed. ISS, GYM)

„Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, begleitet alle Menschen ein Leben lang. Wer diesen Fähigkeiten beraubt wird, versäumt dabei sich mannigfache Erfahrungen und Wissen aus unserer Kultur erschließen zu können. Der Zugang zum Leben ist ein Zugang zur Sprache.

Der Zugang zur Kultur, ein Zugang zur Schrift.“

(Roland Barthes)

Tabellenverzeichnis

Tab. 1. Entwicklungsverlauf des Schriftspracherwerbs

Tab. 2. Richtig Lesen - Lesen - Lesefertigkeiten nutzen - Textverständnis sichern

Tab. 3. Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Schreiben- Richtig schreiben

Tab. 4. Kompetenzentwicklung für den Kompetenzbereich: Sprachwissen und Sprachbewusst­heit entwickeln

Tab. 5. Studie Breitenbach

Tab. 6. Mittelwertsunterschiede - Leseverständnis, gesamt. Studie Breitenbach

Tab. 7. Mittelwertsunterschiede. Leseverständnis - detailliert. Studie Breitenbach

Tab. 8. Paralleltest-Reliabilität WLLP-(R)

Tab. 9. Lesediagnostik SLRT

Tab. 10. Vergleich SLRT-II und ELFE

Tab. 11. Auswertung Therapiegruppe SLRT-II

Tab. 12. Auswertung Fördergruppe SLRT-II

Tab. 13. Auswertungshilfe HSP

Tab. 14. Fördererfolge HSP

Tab. 15. Vergleich zweier Förderprogramme, Auswertung über HSP

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1. Normverteilung

Abb. 2. „An architecture of the reading system”

Abb. 3. Das Dual-Route-Cascaded-Model (DRC)

Abb. 4. Rahmenlehrplan Berlin-Brandenburg

Abb. 5. Beispielaufgabe zum Satzverständnistest

Abb. 6. Beispielaufgaben aus dem Textverständnistest ELFE 1-6

Abb. 7. Forschungsdesign zur Parallelisierung von Experimental- und Kontrollgruppe

Abb. 8. Entwicklung der Gesamtleseverständnisleistung über vier Messpunkte hinweg

Abb. 9. Lesegeschwindigkeitsentwicklung - WLLP (R)

1. Zusammenfassung

Unabhängig einer statistisch variablen Festlegung von Diagnostikkriterien zur Erfassung der Lese-Rechtschreib-Indikation im Zusammenhang einer heterogenen statistischen Operationali­sierung von Diagnostikkriterien (vgl. Moll et. al., 2014, S. 5; vgl. Landerl & Moll, 2010, S. 290; vgl. Moll et. al., 2014, S. 5; vgl. Fischbach et al., 2013, S. 66) ist es wichtig, dass psychometrische Verfahren Veränderungen in Lernleistungen zuverlässig und veränderungssensitiv messen, die im Zusammenhang einer schulischen Förderung oder eines therapeutischen Trainings stehen.

Ziel dieses systematischen Reviews ist es, im Rahmen der Festlegung von definierten und „qua­litätsselektierenden“ (Wedderhoff & Bosnjak, 2020, S. 120) Kriterien, studienbasierte Prä- und Post-Vergleiche von Schülerleistungen zu evaluieren, die für eine veränderungssensitive Erfas­sung von schriftsprachlichen Leistungen über normierte Standarddiagnostiken zu mindestens zwei unterschiedlichen Messzeitpunkten sprechen. Objektivierbare Hinweise, die für eine ver­änderungssensitive Erfassung von Lese- und Rechtschreibleistungen über psychometrische Di­agnostiken sprechen, bildet dabei die ausführliche Analyse von Leistungsdaten über statistische Normierungswerte wie die der T-Wert-, bzw. Prozentrangskala (vgl. Lenhard, 2019, S. 77). Die Effektivitätsbeurteilung von Fördermethoden erfolgt des Weiteren über „normierte Effektgrö­ßen“ (Bühner, 2006, S. 121), die im Zusammenhang der Bewertung von Fördereffekten ein wei­teres Objektivierungskriterium bilden, um die Veränderungssensitivität einer Diagnostik über die empirische Wirksamkeit einer Förderung, bzw. Trainings zu bestätigen.

Schließlich werden die nach den Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie empfohlenen psychometrischen Erfassungsinstrumente auf ihre inhaltli­che Kongruenz zu den Kompetenzvorgaben des Rahmenlehrplans der Länder Berlin und Bran­denburg hin untersucht, sodass neben der Evaluation zur Bewertung der Veränderungssensiti- vität von Standarddiagnostiken über empirische Leistungsdaten die inhaltliche Konsistenz der für diese Arbeit ausgewählten Diagnostikinstrumente zu den Zielvorgaben der nach dem Rah­menlehrplan zu erwerbenden schriftsprachlichen Kompetenzen bestätigt werden kann (vgl. vgl. DGKJP, 2015, S. 29; vgl. Berliner SenBildJugFam - MBJS, 2015, S. 20-30).

2. Abstract

Irrespective of a statistically variable definition of diagnostic criteria for recording the indexes of reading and spelling skills in the context of a heterogeneous statistical operationalisation of di­agnostic criteria (Moll et. al., 2014, p. 5; Landerl & Moll, 2010, p. 290; Moll et. al., 2014, p. 5; Fischbach et al., 2013, p. 66), it is important that psychometric procedures reliably and change- sensitively measure changes in learning performance that relate to a context of school support or therapeutic training.

The aim of this systematic review is to evaluate study-based pre- and post-comparisons of pupil performance within the framework of defined and "quality-selective" (Wedderhoff & Bosnjak, 2020, p. 120) criteria that provide change-sensitive recordings of written language performances through standardised diagnostics with at least two different measurement points. Objectifiable evidence showing a change-sensitive assessment of reading and spelling performances through psychometric diagnostics is provided by the detailed analysis of performance data by means of statistical normalisation values such as the T-score and percentile rank scale (Lenhard, 2019, p. 77). The effectiveness of support methods is also assessed using "normalised effect sizes" (Bühner, 2006, p. 121), which constitute a further criterion for objectification in the context of evaluating support effects in order to confirm the change sensitivity of a diagnosis through the empirical effectiveness of support or training.

Finally, the psychometric assessment instruments recommended by the guidelines of the Ger­man Society for Child and Adolescent Psychiatry are being examined regarding their content- related congruence with the competency requirements of the framework curriculum of the states of Berlin and Brandenburg, so that, in addition to the evaluation for assessing the change sensitivity of standard diagnostics through empirical performance data, the content-related con­sistency of the diagnostic instruments selected for this work with the targets of the written lan­guage competencies to be acquired according to the framework curriculum can be confirmed (DGKJP, 2015, p. 29; Berlin SenBildJugFam - MBJS, 2015, pp. 20-30).

3. Einführung

Unabhängig des Vorhandenseins variabler statistischer Kriterien zur Erfassung der Indikationen der LRS (LRS, F.81.0) sowie der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) treten für Schüler*innen im Schullalltag, die über ein reduziertes orthographisches Strukturwissen verfügen, häufig gra­vierende Nachteile auf (vgl. Dilling & Freyberger, 2019, S. 286-290; vgl. May, 2013, S. 16; Schulte- Körne & Galuschka, 2019, S. 18f.).

Die zugrundeliegende Problematik der LRS-Indikationen basiert auf kognitiven Defiziten, die di­agnostisch als Lernstörung zu fassen sind, welche die psychische Entwicklung von Schüler*innen nachhaltig beeinflussen (vgl. Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 18f.; Coltheart, 2007, S. 8-12; Frith, 1985, S. 305-311). Das Auftreten einer LRS-Indikation führt häufig dazu, dass Betroffene neben schulischen Minderleistungen nicht selten auch Opfer sozialer Ausgrenzung und psychi­scher Gewalt werden (vgl. Dilling & Freyberger, 2019, S. 286; Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 18f). Aufgrund dieser auftretenden kognitiven und sozialen Nachteile, die häufig im Zusam­menhang einer LRS-Diagnose auftreten, ist es wichtig, die Lese- und Rechtschreibleistungen der betroffenen Schülerpopulation valide und zuverlässig über die Zeit hin weg zu erfassen, um auf diese Weise die Effektivität und den Wirkungsgrad einer Intervention empirisch bewerten zu können.

Für den Bereich der sonderpädagogischen Förderung ist es zudem zentral, dass schulische För­derprogramme durch das Instrument einer Förderverlaufsdokumentation (FVD) im Rahmen ei­ner kontinuierlichen Planung und Erfassung der Wirksamkeit pädagogisch-therapeutischer Maß­nahmen auf ihre Effektivität hin untersucht werden (vgl. Breitenbach, 2014, S. 74). Evidenzba­sierte Förderansätze stehen dabei häufig im Zusammenhang einer symptomorientierten Förde­rung (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 100f.). Hierfür ist es wichtig, dass die Normtabellen psychometrischer Verfahren veränderungssensitiv die Abnahme, bzw. den Zuwachs von Lern­leistungen über eine längsschnittliche Auswertung zuverlässig festhalten (vgl. Breitenbach, 2014, S. 127f.). Nur dadurch kann sichergestellt werden, dass eine angezeigte Förderungsmaß­nahme auf ihren Nutzen und ihre Effizienz hin bewertbar wird, da schulische Lernfortschritte immer auch in Referenz zu entwicklungsbedingten Normleistungen stehen und ausschließlich über statistische Operationalisierungen objektivierbar werden (vgl. Breitenbach, 2014, S. 127f.). Aus diesem Grunde steht die Relevanz dieser Abschlussarbeit im Zusammenhang auszubilden­der Diagnostikkompetenzen, die für das sonderpädagogische Lehramt im Hinblick einer Status- und Prozessorientierung zur Feststellung von Veränderungen von schulischen Lernleistungen als zentrale diagnostische Strategien für die Schulpraxis immer wichtiger werden (Breitenbach, 2014, S. 42f.)

Der Schwerpunkt der Forschungsfrage liegt dabei auf der Untersuchung der Veränderungssen- sitivität psychometrischer Verfahren, die bei der Erfassung der LRS-Indikationen für das dritte und vierte Schuljahr entsprechend der Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie zum Einsatz kommen (vgl. DGKJP, 2015, S. 29). Denn anknüpfend an die kognitionspsychologischen Ausführungen unter anderem von Uta Frith (1985, S. 305-311) finden in dieser Altersspanne zeitlich die zentralen Entwicklungsverläufe statt, die mit einem kompetenten Erwerb von Lese- und Rechtschreibstrategien im Zusammenhang stehen (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S. 61-64; vgl. Dürscheid, 2016, S. 245-250).

4. Methodenteil

Die verfasste Abschlussarbeit untersucht aus einer mehrdimensionalen Perspektive psychomet­rische Diagnostik und im Zusammenhang einer evidenzbasierten Förderung lese- und recht­schreibschwacher Grundschüler*innen die Binnenstruktur von psychologischen Standarddiag­nostiken im Hinblick ihrer veränderungssensitiven Erfassung von schriftsprachlichen Leistungen. Nach einer kurzen Klärung hinsichtlich des aktuellen Forschungstandes: der Definition, Prä­valenz und dem Störungsverlauf für die von der Lese- und /oder Rechtschreibstörung (F81.0 / F81-1) betroffene Schülerpopulation folgt im Anschluss eine ausführliche Einführung zu den ent­wicklungs- und kognitionspsychologischen Grundlagen des Schriftspracherwerbs anhand empi­risch gesicherter Schriftspracherwerbstheorien und Leseverarbeitungsmodelle (vgl. Coltheart, 2007, S. 8-14; Frith, 1985, S. 305-311).

Die Grundlage für die Testauswahl und zur Untersuchung und Bewertung der Veränderungssen- sitivität normierter Schulleistungstests bilden dabei die Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie (vgl. DGKJP, 2015, S. 29). Im Rahmen eines syste­matischen Reviews wird versucht, objektivierbare Hinweise für eine veränderungssensitive Er­fassung von schriftsprachlichen Leistungen über geeignete Längsschnittstudien herauszuarbei­ten. Zentral sind dabei insbesondere die gemessenen schriftsprachlichen Leistungen in den für die Lese- und Rechtschreibleistung relevanten Bereiche der phonologischen Verarbeitungsfähig­keiten: der Phonemidentifikation, -diskrimination und -synthese, des Weiteren dem zielgenauen operieren mit Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln, der Automatisierungsleistung (Leseflüs­sigkeit) und Benenngeschwindigkeit sowie der Lesegenauigkeit und des Leseverständnisses (DGKJP, 2015, S. 24; 34-42, 71; Lenhard & Schneider, 2006, S. 12; Schneider et al., 2011, S. 8;

Graab, 2019, S. 183 & vgl. Moll & Landerl, 2014, 21). Die testdiagnostische Grundlage für die Erfassung von Rechtschreibleistungen bilden dabei orthographischen Verarbeitungsfähigkeiten sowie das Ausmaß von erlerntem orthographischem Strukturwissen und dessen korrekte An­wendung durch präzises alphabetisches, morphologisches, syntaktisches und lexikalisches Wis­sen (Rechtschreibfertigkeiten) (DGKJP, 2015, S. 24; 34-42, 71; Stock & Schneider, 2008, S. 10-13; vgl. May, 2013, S. 11; vgl. Weber, 2019, S. 164 & Scheerer-Neumann, 2018, S. 113ff.).

Vergleichbare Leistungstestwertveränderungen von Schüler*innen durch die Verwendung nor­mierter Leistungstests spielen für eine evidenzbasierte sonderpädagogische Förderung im schu­lischen Kontext zur objektiven Erfassung von Lese- und Rechtschreibkompetenzen eine wesent­liche Rolle. Ein entscheidender Vorteil von psychometrischen Verfahren liegt in ihrer Normie­rung, sodass Vergleichsdaten zur Bewertung und Interpretation von Schülerleistungen nur über statistisch normierte Vergleichswerte bereitgestellt werden können (Breitenbach, 2014, S. 127; vgl. Stock & Schneider, 2008, S. 10). Neben der Feststellung konkreter Lerndefizite über die qua­litative Beschreibung von Rechtschreibphänomenen durch die gezielte Anwendung von Fehlerdiagnosesystemen (Breitenbach & Weiland, 2010, S. 60-63 & May, 2013, S. 14ff. u. 38ff.) liefert eine quantitative Einordnung von Lese-und Rechtschreibleistungen mit Hilfe von statisti­schen Vergleichswerten aus der jeweiligen Normierung der Testdiagnostiken über die Alters­und Klassennormdiskrepanz ein objektives Kriterium, um Lernfortschritte in Referenz zu ent­wicklungsbedingten Normleistungen beurteilen zu können. Des Weiteren ermöglichen psycho­metrische Operationalisierungen eine objektive Grundlage, um die Effektivität schulischer För­derung bewerten zu können. Individuelle Lernfortschritte können zudem ebenso festgehalten werden (Breitenbach, 2014, S. 127f.).

Diese Überblicksarbeit liefert eine systematische Auswahl von empirischen Studienarbeiten, de­ren Ergebnisse Leistungsveränderungen in den zentralen Leistungsteilbereichen schriftsprachli­cher Leistungen auf Basis evidenzbasierter Förderprogramme erfasst haben. Die Schlussfolge­rung, inwiefern Hinweise für eine veränderungssensitve Erfassung von schriftsprachlichen Leis­tungen über geeichte Testdiagnostiken im Längsschnitt der Zeit herausgearbeitet werden kön­nen, erfolgt in Ableitung aus den Messwertdaten herangezogener Studienergebnisse zu mindes­tens zwei unterschiedlichen Messzeitpunkten.

Der erste Zugang zu geeignetem Studienmaterial für diese Studienarbeit erfolgt über soge­nannte Meta-Analysen, die im Rahmen einer systematischen Darstellung von Studienergebnis­sen und in Referenz zur Stichprobenpopulation die Wirksamkeit von unterschiedlichen Interven­tionsansätzen zur Förderung LRS-Indikation untersucht haben (Galuschka et al., 2014, S. 4ff.; Galuschka & Schulte-Körne, 2015, S. 479; Ise, Engel & Schulte-Körne, 2012, S. 124ff). Der Vorteil dieser Methodenauswahl für ein systematisches Review besteht darin, dass die Ergebnisse der Literaturrecherche zusammenfassend abgebildet werden und demnach die Aussagekraft von Einzelstudien systematisch übersteigen (vgl. Khan et al., 2004, S. 66). Die herangezogene Studi­enauswahl für dieses systematische Review berücksichtigt in diesem Zusammenhang also ein evidenzbasiertes Vorgehen zur Effektivitätsbeurteilung von Fördermethoden und integriert diese in eine systematische Literaturrecherche aus elektronischen Datenbanken und Literatur­verzeichnissen zur Evaluation adaptiver Studienergebnisse im Hinblick auf die Erfassung von ob­jektivierbaren Hinweisen für die Bewertung der Veränderungssensitivität von normierten Diag­nostiken, die für die psychometrische Erfassung schriftsprachlicher Leistungen häufig herange­zogen werden. Die Recherche erfolgte über drei elektronischen Datenbanken (PsychINFO, ERIC, Cochrane Library).

Im Hinblick auf die qualitative Bewertung der Primärstudienqualität beschreibt das Forschungs­design als erstes Kriterium für die Analyse von Leistungsveränderungen anhand normierter Ef­fektstärken und zur Effektivitätsbewertung von Fördereffekten ein wichtiges Merkmal, um ob­jektivierbare Hinweise für veränderungssensitive Testdiagnostiken zu identifizieren. Mängel im Studiendesign (Biaskontrolle) können jedoch auch zu Verzerrungen von Studienergebnissen füh­ren und Schlussfolgerungen aufgrund systematischer Fehler unbrauchbar machen (Higgins & Altman, 2008, S. 188-190).

Als „qualitätsselektierende [..] Strategie“ (Wedderhoff & Bosnjak, 2020, S. 120) berücksichtigt diese systematische Überblicksarbeit zur meta-analytischen Auswertung als erstes Kriterium Studienarbeiten, bei denen die erfassten Lernleistungen für die Studienpopulation lese- und rechtschreibschwacher Dritt- und Viertklässler mindestens eine Standardabweichung (SD< -1) unterhalb des für die Alters- oder Klassennorm durchschnittlich zu erwartenden Lese-, Recht­schreibleistungen liegen (Tischler, 2015, S. 2 f.). Aufgrund dieser Kriterienauswahl kann auf eine größere Menge an Studienergebnissen in Folge eines höheren Vorkommens der Häufigkeit der LRS-Indikation in der Gesamtpopulation zurückgegriffen werden (Moll et. al., 2014, S. 5). Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, Minderleistungen in Studien erst ab zwei Stan­dardabweichungen (SD< -2) zu berücksichtigen, konnten an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden (Fischbach et al., 2013, S. 66; Dilling & Freyberger, 2019, S.287ff.).

Die Begrenzung ausschließlich auf ein randomisiert-kontrolliertes Studiendesign als zweites Aus­wahlkriterium erwies sich für diese Studienarbeit dahingehend als schwierig, da ein Vorgehen nach einer zufallsbedingten Auswahl einer Kontrollgruppe im Rahmen dieses Studiendesigns neben ihrem Aufwand auch mit ethischen Schwierigkeiten verbunden sein kann, wenn Kinder- und Jugendliche mit erfasster Lese- und/oder Rechtschreibindikation für die Dauer der Erhebung ungefördert bleiben (vgl. Breitenbach, 2012, S. 173; ). Aus diesem Grund werden für die zu un­tersuchende Fragestellung Studien mit unterschiedlichem Evidenzgrad und Kontrollgruppende­sign durch Prä-Post Vergleiche für eine meta-analytische Auswertung von Leistungsdaten nach durchgeführten Förderprogrammen herangezogen, deren Untersuchungsplan ebenfalls als for­schungsbasiert zu bewerten ist. Zentral sind dabei die Prä-, Post Vergleiche von Leistungsdaten nach erfolgter Intervention (Evidenzklassen nach der AHCPR-Publikation 1992, S. 100-107; DGKJP, 2015, S. 23).

Als drittes Kriterium wird die qualitative Passung zwischen den Lehrplanvorgaben des Rahmen­lehrplans für die Bundesländer Berlin und Brandenburg (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 1-45 / Teil C) mit den operationalisierten Erfassungsbereichen der psychometrischen Testdi­agnostiken auf Itemebene qualitativ miteinander abgeglichen. Die für dieses systematische Re­view herangezogenen psychometrischen Verfahren sind neben dem Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6), die Würzburger Leise Leseprobe - Revision (WLLP-R), der Deutsche Rechtschreibtest für das dritte und vierte Schuljahr (DERET 3-4+), der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT II - 3. und 4. Klasse) sowie die Hamburger Schreib-Probe - HSP (DGKJP, 2015, S. 29).

Die Aggregation von konsistenten Inhaltsbereichen zwischen den aufgelisteten testdiagnosti­schen Erfassungsinstrumenten im Abgleich zu den Kompetenzvorgaben des Rahmenlehrplans für die Länder Berlin und Brandenburg bildet im Hinblick einer weiteren Qualitätsdimension ein zu überprüfendes Kriterium, um festzustellen, inwieweit die einzelnen psychometrischen Test­diagnostiken inhaltsvalide die Lernanforderungen der Kompetenzbereiche der beiden Bundes­länder inhaltlich abdecken. Die inhaltliche Kongruenz der Erfassungsbereiche von psychometri­schen Standarddiagnostiken zu den kriterienbezogenen Kompetenzvorgaben auf entsprechen­der Kompetenzniveaustufe der Bundesländer Berlin und Brandenburg ist dahingehend erforder­lich, da Lernfortschritte und Leistungsveränderungen im Kontext schulischer Förderung auf diese Weise objektiviert erfasst und konsistent zu den Anforderungen der Rahmenlehrplanvor­gaben verglichen werden können.

4.1. Zusammenfassung

Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass entwicklungs- und kognitionspsychologische Lese- und Schriftspracherwerbsmodelle häufig als testtheoretische Basiskonzepte dienen, die bei der 7 diagnostischen Zielsetzung psychometrischer Verfahren Entwicklungsbesonderheiten beim Er­werb qualitativer Lese- und Rechtschreibstrategien in quantitativ vergleichbare Testergebnisse auf der Basis statistischer Normierung überführen (vgl. Breitenbach, 2014, S. 128). Dabei bildet die inhaltliche Kongruenz psychometrischer Erfassungsbereiche zu konkreten Lehrplanvorgaben eine wichtige Grundlage, um erfasste Minderleistungen schulisch evidenzbasiert fördern zu kön­nen. Da die Vergabe von Schulnoten zudem stark mit der Erfüllung von kriterienbezogenen Leis­tungsvorgaben aus den bundeslandinternen Rahmenlehrplänen zusammenhängt, müssen psychometrische Standarddiagnostiken die Inhalte der Kompetenzvorgaben der einzelnen Kom­petenzbereiche testdiagnostisch abdecken. Auf diese Weise liefern standardisierte Testdiagnos­tiken neben der Erfassung von sonderpädagogisch fördernotwendigen Minderleistungen auch ein pädagogisches Instrument, um förderbedingte Leistungsverläufe von Schüler*innen über ei­nen längeren Zeitraum objektiv bewerten zu können. Darüber hinaus wird ein Einblick in den aktuellen Forschungsstand der LRS-Diagnostik vermittelt und die diagnostischen Definitions­merkmale der LRS nach ICD-10, DSM-V sowie nach den S 3 -Leitlinienempfehlungen der DGKJP kurz erläutert (Dilling & Freyberger, 2019, S.286-290; Döpfner et. al, 2020, S. 45-47; DGKJP, 2015, S. 24; 34-42, 71).

5. Aktueller Forschungsstand

Im folgenden Kapitel erfolgt eine symptombasierte Einführung hinsichtlich der Klassifikation der LRS (F81.0 / F81.1) nach den aktuell gängigen Klassifikationssystemen der ICD-10 und der DSM- V Richtlinien (Dilling & Freyberger, 2019, S. 286-290; Döpner et. al, 2020, S. 45ff.). Dabei geht es darum, die Unterschiede beider Klassifikationssysteme herauszuarbeiten und diese dann an­schließend mit den diagnostischen Kriterien der S3-Leitlinienempfehlungen der deutschen Ge­sellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie abzugleichen (DGKJP, 2015, S. 24; 34-42, 71).

Des Weiteren umfasst das folgende Kapitel konkrete Angaben zur Prävalenz unter Berücksichti­gung der Geschlechterverteilung. Zuletzt wird in diesem Abschnitt über die Stabilität des Ver­laufes der LRS informiert, was im Hinblick der persistierenden Entwicklung der Symptome die Notwendigkeit einer zielgenauen und veränderungssensitiven Diagnostik für die Erfassung die­ser Störungskategorien illustriert.

5.1. Definition und Klassifikation der LRS nach ICD-10 und DSM-V

In der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der 9. Auflage veröffentlichten Version des Handbuchs zur internationalen Klassifikation psychischer Störungen (International Classification of Diseases - ICD-10) wird die LRS unter dem Abschnitt der Entwicklungsstörungen (F8) im Unterkapitel (F81) den Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zugeordnet (Dil­ling & Freyberger, 2019, S.286-290). Bei den beiden Störungsgruppen der umschriebenen Ent­wicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81.0/F81.1) handelt es sich bezogen auf schrift­sprachliche Kompetenzen um Störungsformen, bei denen die typischen Muster zur Ausbildung von relevanten Fertigkeiten für den Schriftspracherwerb von frühen Entwicklungsstadien an ge­stört sind (Dilling & Freyberger, 2019, S. 286).

Die Klassifizierung zur Erfassung für die erste Störungsgruppe: die LRS (kombinierte Lese- und Rechtschreibstörung) (F81.0) wird über Beeinträchtigungen in der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibfertigkeiten definiert, die häufig bei chronisch verlaufenden Lernstörungen eine er­folgreiche Schulausbildung oder alltägliche Tätigkeiten, die Lesefertigkeiten erfordern, behin­dern (Dilling & Freyberger, 2019, S.286f). Die Schulbiographie von Schüler*innen mit kombinier­ter LRS ist des Weiteren durch häufigere Klassenwiederholungen und unterdurchschnittliche Schulleistungen gekennzeichnet (Kohn et. al., 2013, S. 84). Die mit einer LRS verbundenen Be­einträchtigungen beginnen nach ICD-10 Klassifikation in „frühen Entwicklungsstadien“ (Dilling & Freyberger, 2019, S. 286) und mit dem Beginn des Schriftspracherwerbs; sie werden jedoch nicht innerhalb der späteren Schullaufbahn erworben (Dilling & Freyberger, 2019, S.286ff; Schulte- Körne & Galuschka, 2019, S. 7).

Differenzialdiagnostisch darf das Auftreten einer Lese- und Rechtschreibindikation nicht durch Sehstörungen (okuläre Lesestörung), Hörstörungen (auftretende Mittelohrentzündungen mit andauernder Schallleitungsstörung), neurologische Erkrankungen und intellektuelle Beeinträch­tigungen aufgrund fehlender Unterrichtung oder aufgrund von extremen Unzulänglichkeiten in der Erziehung bedingt sein (Dilling & Freyberger, 2019, S.288). Ein weiteres differentialdiagnos­tisches Ausschlusskriterium für die Stellung einer LRS-Diagnose liegt bei einer Erfassung eines unterdurchschnittlich geringen Non-Verbalen IQ-Wertes (IQ < 70) im Rahmen der Anwendung einer geeigneten psychometrischen Testdiagnostik (Dilling & Freyberger, 2019, S.288). Zudem empfiehlt das ICD-10 bei der Stellung einer LRS-Diagnose (F81.1 / F81.2) die Anwendung des dreifachen Diskrepanzkriteriums, das sich darauf bezieht, Testleistungen im Bereich des Lesens und der Rechtschreibung im Vergleich zum chronologischem Alter, zur Klassennorm und der all­gemeinen Intelligenz zu bewerten (Schulte-Körne, 2017, S. 477), wobei die Zweckmäßigkeit der Einbeziehung der Intelligenz bei der Diagnose für die Feststellung einer umschriebenen LRS als umstritten zu bewerten ist, da unter der Annahme einer Normalverteilung ein IQ-Wert diagnos­tisch ab 85 erst als durchschnittlich gilt und auf diese Weise lernschwache Kinder und

Jugendliche beispielsweise aus dem sonderpädagogischen Entwicklungsbereich Lernen von dem Erfassungsbereich der Lese- und Rechtschreibdiagnostik ausgeschlossen werden (Fischbach et al., 2013, S. 66; vgl. Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 5) Einheitliche Vorschriften zur Opera­tionalisierung liegen zudem nur bedingt vor (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S. 25).

Zur leistungsbezogenen Abklärung der Störungsgruppe F81.0 empfiehlt das ICD-10 grundsätzlich eine leistungsbezogene Diskrepanz von zwei Standardabweichungen (SD < -2) im Rahmen er­fasster Schulleistungstest für die Bereiche der Lesegenauigkeit und des Leseverständnisses so­wie auch einer Erfassung der Rechtschreibleistung unterhalb des Niveaus, das aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre (Dilling & Freyberger, 2019, S.287). Bei der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) sind die Lernleistungen für die Lese­genauigkeit und des Leseverständnisses im Normbereich verteilt; die Rechtschreibleistung weicht jedoch bei durchschnittlicher Intelligenz um mindestens zwei Standardabweichungen (SD < -2) vom Normbereich ab (Dilling & Freyberger, 2019, S.288f). Tätige des deutschen Ge­sundheitswesens sind grundsätzlich für die Befunderstellung nach §295 und § 301, SGB V an die Verschlüsselung nach ICD-10 Kodierung abrechnungsbedingt verpflichtet (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 4).

Im Unterschied zum ICD-10 fasst das von der American Psychiatric Association (APA) herausge­gebene Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-V) die Entwick­lungsstörungen schulischer Fertigkeiten der ICD-10-Klassifikation im Zusammenhang der ver­schiedenen Symptomausprägungen im Bereich des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens zu den sogenannten „spezifischen Lernstörungen“ (Döpfner et. al, 2020, S. 45) zusammen. Das DSM-V klassifiziert anders als das ICD-10 unter anderem auch eine isolierte Beeinträchtigung des Lesens (F.81.0) (Döpfner et. al, 2020, S. 46). Zentrale Fertigkeitsbereiche des Leseerwerb­prozesses liegen nach DSM-V Klassifikation in einer normgerechten Entwicklung der Lesegenau­igkeit, der Leseflüssigkeit und des Leseverständnisses (Döpfner et. al, 2020, S. 46). Die Empfeh­lung zur Berücksichtigung einer Diskrepanz zur allgemeinen Intelligenz (IQ-Diskrepanz) bei der Diagnosestellung wird im DSM-V durch die ausschließliche Anwendung des Alters- und Klassen- diskrepanzkriteriums durch den Einsatz von selektiven Leistungstests ersetzt (Döpfner et. al, 2020, S. 46).

Grundlage der Diagnostik ist neben der Ausbildung umfassender Schwierigkeiten beim Lesen und in der Rechtschreibung ein Persistieren der Symptomatik über eine Dauer von mindestens sechs Monaten trotz des Einsatzes gezielter Förderinterventionen (Döpfner et. al, 2020, S. 45). Zudem berücksichtigt das DSM-V neben Schwierigkeiten im schriftlichen Ausdruck, die sich 10

beispielsweise durch Fehler in der Grammatik und Zeichensetzung äußern, auch Schwierigkeiten bei der strukturellen und inhaltlichen Textproduktion (Döpfner et. al, 2020, S. 45). Das Auftreten von spezifischen Lernstörungen tritt zudem im Zusammenhang der DSM-V Klassifikation in ver­schiedenen Schweregraden auf (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 8; Döpfner et. al, 2020, S. 47f). Lernschwierigkeiten beginnen nach DSM-V häufig im Schulalter und können sich dann bei steigenden schulischen Anforderungen manifestieren, wobei die individuelle Leistungskapazität von Schüler*innen im Rahmen einer ausführlichen Diagnostik zu berücksichtigen bleibt (Schulte- Körne & Galuschka, 2019, S. 7; Döpfner et. al, 2020, S. 46f). Das von der APA herausgegebene DSM-V kommt überwiegend in der internationalen und us-amerikanischen Forschung zum Ein­satz.

Die diagnostischen S3-Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Ju­gendpsychiatrie hingegen präzisieren durch die standardisierte Vorgabe eines Algorithmus im Zusammenhang einer leitliniengerechten Diagnostik die normative Festlegung klinisch relevan­ter Minderleistungen aus den Klassifikationen des ICD-10 und des DSM-V für die LRS-Indikation mit Leistungsabweichungen von eineinhalb Standardabweichungen (SD < 1,5) für die psycho­metrisch operationalisierten Erfassungsbereiche der Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit, Le­severständnis und des orthographischen Schreibens zur Alters- und Klassennorm, bzw. zur In­telligenz. Anders formuliert, bilden Minderleistungen, die unterhalb der schwächsten 15 Prozent (Prozentrang < 16) einer Stichprobenpopulation gehören, eine diagnostische Grundlage für eine positive Befunderstellung. Die Diskrepanz zur Intelligenz bleibt lediglich ergänzend zu bewerten (DGKJP, 2015, S. 24; 34-42, 71).

5.2. Prävalenz und Geschlechterverteilung der LRS (F81.0 / F81.1)

Der ICD-10 erfasst die Ausprägungen einer Lesestörung lediglich in Kombination mit einer Recht­schreibstörung (LRS). Aktuelle Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass bei etwa vier bis sieben Prozent der Gesamtpopulation schulpflichtiger Kinder und Jugendliche grundsätz­lich auch eine isolierte Lesestörung („isolated disorder“, Moll et. al., 2014, S. 5) vorliegt, ohne dass dabei erhebliche Defizite in der Rechtschreibleistung feststellbar sind (Fischbach et al., 2013, S. 70; Landerl & Moll, 2010, S. 290; Moll et. al., 2014, S. 5).

Grundsätzlich lassen sich jedoch in der Forschung heterogene Angaben zur Prävalenz der LRS ermitteln. Die statistische Kennziffer der Prävalenz bezeichnet die Häufigkeit einer Erkrankung in ihrer absoluten Gesamtheit zu einem bestimmten Zeitpunkt (Bölte, 2009, S. 65). Die Variabi­lität der Prävalenzwerte entsteht bei der LRS-Indikation im Zusammenhang einer heterogenen statistischen Operationalisierung von Diagnostikkriterien und aufgrund der psychometrischen Anwendung unterschiedlicher Cut-Off-Werte als Bewertungsgrundlage für das Ausmaß psycho­metrisch gemessener Minderleistungen. Außerdem ist festzustellen, dass mit abnehmendem Cut-Off-Wert und der Herabsetzung des psychometrischen Maßes zur Definition einer Minder­leistung auf anderthalb Standardabweichungen (SD < 1,5) auch eine Abnahme der Gesamtprä­valenz in Studien zu beobachten ist (Moll et. al., 2014, S. 5; Landerl & Moll, 2010, S. 290). Nach Moll et. al. (2014, S. 5) traten im Zusammenhang der Festlegung eines Cut-Off-Wertes von einer Standardabweichung (SD <1) im Vergleich zu 1,5 Standardabweichungen für die komorbide Stö­rungsgruppe der umschriebenen Lesestörung (F81.0) signifikant häufiger positive Befunde auf (Moll et. al., 2014, S. 5). Für die kombinierte LRS lassen sich schließlich Gesamtprävalenzen zwi­schen zwei bis sechs Prozent ermitteln. Für die isolierte Rechtschreibstörung lassen sich hinge­gen je nach Kriterienauswahl Prävalenzen zwischen zwei bis neun Prozent beobachten (Schulte- Körne & Galuschka, 2019, S. 10).

Zu berücksichtigen bleibt, dass für die hier angeführten Studien beim Vorgang der Operationa­lisierung neben der reinen Anwendung der Alters- und Klassennormdiskrepanz auch auf das IQ- Diskrepanzkriterium für die Erfassung der Prävalenz zurückgegriffen wurde. Während Moll et. al. (2014, S.4) zur Befunderstellung die reine statistische Abweichung zur Alters- und Klassen­norm für die Auswertung ihrer Prävalenzangaben heranzogen haben, wurden bei Landerl und Moll (2010, S. 289) wie auch bei Fischbach et al. (2013, S. 69) ausschließlich Leistungsdaten von Schüler*innen mit einer mindestens durchschnittlichen Intelligenzleistung (IQ-Wert > 85) zur Prävalenzberechnung miteinbezogen. Die diagnostische Anwendung von normierten Schulleis­tungstests in Kombination mit einer festgesetzten IQ-Diskrepanz nennt man auch „doppeltes Diskrepanzkriterium“ (Fischbach et al., 2013, S. 66). Nach ICD-10 ist lediglich darauf zu achten, dass eine Intelligenzminderung (IQ-Wert < 70) ausgeschlossen werden kann (Fischbach et al., 2013, S. 66). Die diagnostische Bewertung der Störungsgruppen (F81.0/F81.1) über eine Leis­tungsabweichung von mindestens zwei Standardabweichungen (SD < 2), so wie sie die WHO nach den ICD-10 Forschungskriterien empfiehlt, erweist sich jedoch für den diagnostischen All­tag als unbrauchbar, weil durch die Herabsetzung des Maßes an Minderleistung das Auftreten dieser beiden Indikationsgruppen zu stark verwässert wird (Fischbach et al., 2013, S. 66). In der deutschen Forschung findet sich häufig die Anwendung eines leistungsbezogenen Diskrepanz- wertes zwischen 1,0 bis 1,5 Standardabweichungen (Fischbach et al., 2013, S. 66).

Leistungsdaten aus einer Normstichprobe können weiterhin auch über die Zuordnung von Pro­zenträngen operationalisiert werden. Der über normierte Leistungstests ermittelte Prozentrang (PR) gibt den prozentualen Anteil der entsprechenden Bezugsgruppeunterhalb eines Messwer­tes wieder (Scheerer-Neumann, 2018, S. 20). Für die Befunderstellung der LRS werden häufig Grenzwerte unterhalb des PR von 16 (PR < 16) gewählt, welcher die leistungsschwächsten 15 Prozent innerhalb einer Populationerfasst (Fischbach et al., 2013, S. 66;Schulte-Körne, 2017, S. 477). Die statistische Abweichung von erfassten Leistungsdaten um mindestens eine Stan­dardabweichung unterhalb des Normmittelwertes (bspw. t-Wert < 40) entspricht einem PR von < 16 (Fischbach et al., 2013, S. 66). Aus Abbildung 1 lässt sich beim Abtragen von Standardab­weichungsgrößen (SD ± 1) innerhalb einer normalverteilten Stichprobe der entsprechende PR zuordnen. Bei der t-Wert-Skala handelt es sich um eine normierte Skala mit einem Mittelwert von 50 und Standardabweichungsgrößen von 10 (Scheerer-Neumann, 2018, S. 20).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1. Normverteilung

mit Prozentsatz der Fälle, die sich beim Abtragen von Einheiten der

Standardabweichung (SD) ergeben, T-Wert-Skala und Prozentrangskala (PR) (Lenhard, 2019, S. 77).

Für das Verhältnis der Geschlechterverteilung kann folgendes Bild skizziert werden: Bisherige Befunde deuten darauf hin, dass Jungen häufiger von einer umschriebenen LRS betroffen sind als Mädchen. Nach Liederman, Kantrowitz und Flannery (2005, S. 125) sind in etwa zweimal (1,8:1) so viele Jungen wie Mädchen global von der LRS betroffen. Von der isolierten Recht­schreibstörung (F81.1) sind Jungenebenfallsübereineinhalbmal häufiger im Vergleich zur Mäd­chenpopulation betroffen (1,8: 1)(Fischbach et al., 2013, S. 71).

5.3. Stabilität der Minderleistung bei der LRS (F81.0 / F81.1)

Reduzierte Lese- und Rechtschreibleistungen können häufig schon ab der ersten Klassenstufe beobachtet werden (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 17). Der Verlauf an Minderleistungen zeigt sich innerhalb der ganzen Schulbiographie als sehr stabil. Klicpera, Schabmann und Gastei- ger-Klicpera (2006, S. 225f.) konnten im Zusammenhang einer aufwendigen Längsschnittunter­suchung von insgesamt 733 Schüler*innen (Jungen=384, Mädchen=349) aus 35 Grundschulen zeigen, dass Minderleistungen für den Bereich der Lesegeschwindigkeit von der ersten bis vier­ten Klassenstufe im hohen Maß persistieren. Schüler*innen, die eingangs der ersten Klassen­stufe Minderleistungen beispielsweise in der Lesegeschwindigkeit aufwiesen, konnten diesen Leistungsrückstand nur mit geringer Wahrscheinlichkeit bis zum Ende der Grundschulzeit auf­holen (Klicpera, Schabmann und Gasteiger-Klicpera, 2006, S. 225). Im Zusammenhang einer re­duzierten Lesegeschwindigkeit kann das Leseverstehen zudem erheblich beeinträchtigt sein (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 17). Beträchtlich ist, dass die Lesegeschwindigkeit schließ­lich bis ins Erwachsenenalter verlangsamt bleibt (Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 17).

Für die Stabilität von Rechtschreibfertigkeiten ist ein ähnlicher Verlauf festzustellen. Minderleis­tungen für die Erfassungsbereiche der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) verlaufen bis ins mittlere Erwachsenenalter relativ stabil (Maughan et al., 2009, 896f.) Maughan et al. (2009, S. 896) konnten im Rahmen einer Längsschnitterhebung mit einem anschließendem Follow-Up­Design (zwischen 1968 bis 1999/ 2000) für die Indikation der isolierten Rechtschreibstörung her­ausarbeiten, dass zwischen den Rechtschreibleistungen im Schulalter von 14- bis 15-Jährigen und später im mittlerem Erwachsenenalter mit 44, bzw. 45 Jahren ein sehr hohe Zusammenhang vorlag und die beobachtbaren Minderleistungen für diesen Zeitraum stabil persistierten.

Mit zunehmendem Alter kann eine Abnahme hinsichtlich der Ausprägung des Schweregrades der Symptomatik bei der LRS eintreten, spezifische Schwierigkeiten wie eine reduzierte Lesege­schwindigkeit oder die hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern bleiben jedoch bestehen (Schulte- Körne & Galuschka, 2019, S. 17).

5.4. Zusammenfassung

Zusammenfassend liefern die Inhalte zur diagnostischen Klassifizierung der LRS nach ICD-10 und DSM-V sowie nach den Leitlinienempfehlungen der DGKJP unter der Heranziehung einer nor­mativen Zuordnung von relevanten Symptomausprägungen einen ersten Einblick zu symptom­spezifischen Lern- und Leistungsbeeinträchtigungen, die mit der Diagnose der LRS im Schulalltag verbunden sein können. Heterogene Gesamtprävalenzen für die Störungsgruppen (F81.0) und (F81.1) sind dabei auf die Anwendung variabler Cut-Off-Werte zurückzuführen, die für die posi­tive Bewertung eines diagnostischen Befundes herangezogen werden und somit das Ausmaß an erforderlichen Minderleistungen statistisch festlegen. Unabhängig des diagnostisch festgesetz­ten Ausmaßes erforderlicher Minderleistungen liegt jedoch eine unausgeglichene Geschlechter- verteilung bezüglich der Häufigkeit des Auftretens der LRS-Indikation und ein gehäuftes Auftre­ten der Indikationsgruppen (F81.0/ F81.1) bei männlichen Merkmalsträgern vor. Für die Stö­rungsgruppen (F81.0, F81.1) kann im Zusammenhang der Auswertung der angeführten Studien final von einer Androtropie gesprochen werden (Fischbach et al., 2013, S. 69-71; Liederman, Kantrowitz & Flannery, 2005, S. 125; Landerl & Moll, 2010, S. 290; Moll et. al., 2014, S. 5).

Es bleibt hervorzuheben, dass eine verspätete diagnostische Erfassung betroffener Schüler*in- nen schulische Förder- und Entwicklungsmöglichkeiten reduziert und dadurch ein persistieren­der Verlauf der Ausprägung von lese- und rechtschreibrelevanten Minderleistungen bis ins Er­wachsenenalter begünstigt wird (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2006, S. 225; Lan- derl & Wimmer, 2008, S. 155f.; Maughan et al., 2009, 896f; Schulte-Körne & Galuschka, 2019, S. 17). Infolgedessen werden betroffene Schüler*innen bei der Bewältigung schulischer Anforde­rungen massiv benachteiligt und in ihren Lebens- und Bildungschancen beraubt (Kohn et. al., 2013, S. 84), was die förderungsintendierte Notwendigkeit einer zielgenauen und objektivierten Testdiagnostik für den schulischen Bereich der Sonderpädagogik stark illustriert.

Im Folgenden gilt es, die entwicklungs- und kognitionspsychologischen Grundlagen für einen entwicklungsgesteuerten und systematisierten Verlauf zum Erwerb von notwendigen Lese- und Rechtschreibfertigkeiten während des Schriftspracherwerbsprozesses detailliert zu erläutern, da der theoretische Unterbau der Mehrzahl von psychometrischen Standarddiagnostiken im Hinblick ihrer Testkonstruktion auf die empirisch gesicherten Grundkonzepte der Lese- und Schriftspracherwerbsforschung basieren (vgl. Coltheart, 2007, S. 8-14; Frith, 1985, S. 305-311).

6. Entwicklungspsychologische und kognitionspsychologische Grundlagen für den Schrift­spracherwerb

Nach einer kurzen Einführung in die kognitionspsychologischen Grundlagen für den Lese- und Schreibprozess, bei dem die zentralen kognitiven Verarbeitungsprozesse für den Erwerb des Wortlesens durch das empirisch gesicherte Lese- und Rechtschreibmodell von Max Coltheart (2007), dem sogenannten Zwei-Wege Modell (Dual-Route-Cascaded-Model; DRC) vorgestellt werden, folgen im Anschluss detaillierte Ausführungen zur Schriftspracherwerbsforschung im Zusammenhang der Vorstellung der Schriftspracherwerbstheorien von Uta Frith (1985) und K. B. Günther (1986).

6.1. Das Dual-Route-Cascade-Model (DRC) nach Max Coltheart (2007)

Seit den 1960er Jahren befasst sich die kognitionspsychologische Forschung im englischsprachi­gen Raum mit den kognitiven Verarbeitungsprozessen, die für eine effiziente Bewältigung des Lesens und Rechtschreibens erforderlich sind (Bangel, 2018, S. 44). Um einen Einblick in die komplexen lese- und rechtschreibspezifischen mentalen Verarbeitungsabläufe zu gewinnen, ist es notwendig, den kognitiven Teilprozessen entsprechend zugehörige Verarbeitungsfunktionen zuzuordnen (Scheerer-Neumann, 2018, S. 59).

Erste theoretische Erklärungsmodelle untersuchten ab den 1970er Jahren verschiedene Modelle kognitiver Verarbeitungsstrategien des Lesens auf Wortebene (Scheerer-Neumann, 2018, S. 59). Ein auch für den deutschen Sprachraum gut überprüftes kognitionspsychologisches Modell ba­siert auf der Annahme, dass das Lesen auf Wortebene über zwei verschiedene kognitive Verar­beitungswege gesteuert wird (Scheerer, 1987, S. 60f). Jonathan Baron (1977, S. 176) war einer der ersten US-amerikanischen Forscher, der für seine „architecture of the reading system“ (Col­theart, 2007, S. 8) ein kognitionsgesteuertes Prozessmodell für die unterschiedlichen Verarbei­tungswege beim Wortlesen in Anhängigkeit ihrer Zugriffsart und der Abrufcharakteristik von Wortinformationen aus den Speichersystemen im Langzeitgedächtnis unseres Gehirns heraus arbeitete. Bemerkenswert ist dabei die bereits frühe Einbindung paralleler Verarbeitungsstrate­gien (Baron, 1977, S. 188f. u. 202ff.).

Dem Modell von Jonathan Baron zur Folge wird der Leseprozess grundsätzlich über drei intera­gierende Speichermodule gesteuert, wobei visuell dargebotene Graphemfolgen (Lese-Input) über die Kopplung der orthographischen und phonologischen Verarbeitungswege entschlüsselt werden. Jede der einzelnen Gedächtnisrouten beinhaltet spezifische orthographische oder pho- nologische Wortinformationen und ermöglicht somit über eine weitere Kopplung mit dem se­mantischen Speichermodul die Entschlüsselung der Wortsemantik (Baron, 1977, S. 195). Nach Baron stehen englischen Lesern somit grundsätzlich zwei Verarbeitungsstrategien zu Verfügung, um ein geschriebenes Wort korrekt entziffern zu können. Erstens: direkt („direct path“) durch den unmittelbaren Abruf von Wortinformationen über die visuellen Informationen der darge­botenen Buchstabensequenzen und durch ihre Kopplung an die gespeicherten Wortinformatio­nen über die orthographische Route und zweitens: indirekt („indirect path“) über die phonolo- gische Route und der Übersetzung von Graphemfolgen in korrespondierende Phonemverbin­dungen und ihrer anschließenden Zusammensetzung auf Wortebene (Baron, 1977, S. 203).

Hervorzuheben ist, dass der einpfadige Transfer von schriftsprachlichen Wortinformationen von dem orthographischen hin zum phonologischen Speichersystem heute nach der aktualisierten Version des Dual-Route-Cascaded Modells als veraltet gilt (Coltheart, 2007, S. 8-14). In Abbil­dung 2 sind die jeweiligen kognitiven Verarbeitungsrouten nach den Ausführungen von Jo­nathan Baron (1977) abgebildet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(nach Coltheart, 2007, S. 8).

Das Dual-Route-Modell-Cascade (DRC) von Max Coltheart knüpft in seiner überarbeiteten Ver­sion an die ursprünglichen Annahmen zur kognitiven Verarbeitung von Lese-Inputs an die Aus- führungen Barons (1977) an. Es konkretisiert jedoch die Aufgaben der einzelnen Speichermo- dule und ihre Verarbeitungswege über ein computergestütztes Softwareprogramm (Coltheart, 2007, S. 12-16).

Eine Grundidee des Dual-Route-Cascaded-Modells basiert auf der Annahme, dass geübte Leser mit zunehmender Ausbildung von Lese- und Rechtschreibfertigkeiten mit einer höheren Verar­beitungsgeschwindigkeit auf die unterschiedlichen mentalen Gedächtnismodule zugreifen kön­nen (Coltheart, 2007, S. 7-12). In der Grundstruktur des aktualisierten Dual-Route-Cascaded- Modells von Max Coltheart (2007, S. 12) ist direktes, lexikalisches Worterkennen über den Abruf von bereits gespeicherten orthographischen Wortinformationen aus dem Langzeitgedächtnis möglich (Coltheart, 2007, S. 12). Dabei kommt dem Aufbau eines mentalen sprachlichen Lexi­kons mit immer größer werdendem Wortschatz eine zentrale Bedeutung zu. Im mentalen or­thographischem Lexikon werden über die Zeit hin weg schriftsprachliche Regelmäßigkeiten in Form von abstrakten Graphemfolgen als abstrakte Repräsentation eingetragen, die mit der pho- nologischen und morphologischen Struktur eines Wortes und seiner Bedeutung verknüpft sind (Scheerer-Neumann, 2018, S. 60f). Konkrete Buchstabenfolgen werden im Anschluss während des Leseprozess assoziativ mit entsprechenden orthographischen und morphematischen Regel­mäßigkeiten eines Wortes verbunden. In Rückkopplung mit dem semantischen System wird dann die Wortbedeutung ermittelt. Sowohl das phonologische als auch das orthographische Le­xikon besitzen Verbindungspfade zu dem semantischen System. Während des Dekodierungs­prozesses können die beiden mentalen Sprachlexika fernerhin auf die Wortbedeutung eines Wortes über das semantische Speichermodul im Langzeitgedächtnis zugreifen (Coltheart, 2007, S. 12).

Die indirekte, nicht-lexikalische („nonlexical route“; Coltheart, 2007, S.9) Route der Worterken­nung entspricht in etwa der alphabetischen Lesestrategie aus der Erstlesedidaktik (vgl. Scheerer- Neumann, 2018, S. 61). Im Vergleich zu dem einpfadigen Verlauf des orthographischen Spei­chermoduls (orthographisches System) aus dem Lesemodell nach Jonathan Baron interagieren bei Coltheart (2007, S. 12) die nicht-lexikalische Route nach der Konversion von Graphemen zu korrespondierenden Phonemen über das Phonemsystem mit der lexikalischen Route. Der indi­rekte Verarbeitungsweg kann somit auch auf die Inhalte der Speichermodule aus den mentalen orthographischen und phonologischen Lexika zugreifen (Coltheart, 2007, S. 12).

Durch den Abruf von phonologischen und orthographischen Wortinformationen über die rezip­roke Kopplung des phonetischen Verarbeitungssystems mit den beiden lexikalischen Speicher­modulen erfolgt beispielsweise auch die lexikalische Anpassung eines Wortes an besondere pho- nologische Codierungsmerkmale (z. B. bei <Pumps> von [pumps] zu [premps]; Scheerer- Neumann, 2018, S. 61) sowie auch der Abruf der Wortbedeutung über das semantische Spei­chersystem (Coltheart, 2007, S. 12). Abbildung 3 skizziert noch einmal die verschiedenen Verar­beitungswege des Wortlesens nach dem Dual-Route-Cascaded-Model (DRC). Es verdeutlicht die Zugriffspfade beim Abruf von Wortbausteinen der einzelnen Speichermodule für das lexikalische und (sub-, bzw. „non“-) lexikalische Verarbeitungssystem, die beim Lesen auf Wortebene die Dekodierung der Wortinformationen steuern.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3. Das Dual-Route-Cascaded-Model (DRC)

nach Max Coltheart (vgl. Coltheart, 2007, S. 12)

In Anlehnung an das Dual-Route-Modell von M. Coltheart (1978) konnten sowohl empirische Studien (Scheerer, 1987) als auch computergestützte Simulationen (Ziegler et al., 2000, S. 422ff.) bei dem Abruf von Wortinformationen für den Leseprozess im Deutschen bestätigen, dass selbst bei der indirekten Worterkennung größere orthographische Einheiten und Strukturen über den sublexikalischen Verarbeitungsweg erfasst werden können, was die Annahme einer direkten und parallelen Kopplung des sublexikalischen Verarbeitungssystems mit der lexikali­schen Route bekräftigt. (Scheerer-Neumann, 2018, S. 60f). Ziegler et al. (2000, S. 423) sprechen in diesem Zusammenhang von „regularity effects“, die auch über die sublexikalische Route für die deutsche Sprache abgerufen werden können.

Die Verarbeitungsprozesse beim Schreiben können in Anlehnung an das DRC nach Max Coltheart (2007, S. 12) ähnlich beschrieben werden. Entweder werden Wortinformationen über den di­rekten Abruf von orthographischen Strukturmerkmalen über das mentale orthographische Lexi­kon abgerufen oder auf dem indirekten Weg und über die phonographische Konversion von Phonemen in Grapheme konstruiert (Scheerer-Neumann, 2018, S. 113ff.).

6.2. Das Drei-Phasen-Modell von Uta Frith (1985)

Der Erwerb von basalen Lese- und Rechtsreibfähigkeiten beschreibt einen aktiven Lernprozess von Schüler*innen, bei dem während des Schriftspracherwerbs unterschiedliche Sprach- und Schriftsysteme integrativ innerhalb unterschiedlicher Erwerbsphasen miteinander interagieren (vgl. Dürscheid, 2016, S. 244). Der Schriftspracherwerb kann aus diesem Verständnis begriffen, weniger als eine additive Abfolge von diskreten, unabhängigen Entwicklungsphasen verstanden werden, bei dem basale Rechtschreibfertigkeiten linear auf basale Lesefertigkeiten folgen (vgl. Dürscheid, 2016, S. 244). Wichtiger erweist sich hingegen ein Bezugspunkt zur Dependenzhypo- these, bei dem der Erwerb der Schriftsprache in Abhängigkeit über die Analyse der Lautung ent­steht (vgl. Dürscheid, 2016, S. 36). Die Ausbildung von basalen Lese- und Rechtsreibfertigkeiten ist somit vielmehr als ein Lernprozess in Abhängigkeit interagierender schriftsprachlicher Lese- und Schreibstrategien zu begreifen, bei dem die Merkmale geschriebener Schriftsprache pro­zessual über ein Regelsystem von Graphem-Phonem-Korrespondenzen abgeleitet aus den Merkmalen der Lautsprache und unter Berücksichtigung orthographischer Besonderheiten in die geschriebene Sprache überführt werden (vgl. Frith, 1985, S. 309ff.). Hervorzuheben ist dabei die Anpassung geschriebener Wörter an die Merkmale des orthographischen und morphemati- schen Regelsystems (vgl. Dürscheid, 2016, S. 248).

Christa Dürscheid (2016, S. 245-251) weist in diesem Zusammenhang bei ihrer Gegenüberstel­lung von zentralen Schriftspracherwerbstheorien auf die konzeptuellen Übereinstimmungs­merkmale der Schriftspracherwerbstheorien von Uta Frith (1985) und K. B. Günther (1986) hin, die im Rahmen des Durchlaufens von dynamischen Schriftspracherwerbsphasen für die Ausbil­dung schriftsprachlicher Verarbeitungsfertigkeiten und für eine gelingende Aneignung einer re­gelbasierten Rechtschreibung neben den Verarbeitungsfertigkeiten zur Segmentierung und der Synthese von korrespondierenden Lauten als Silbeneinheit auch die Adaption von Wörtern an die „Schreibregularitäten“ (Dürscheid, 2016, S. 248) der Orthographie und Morphologie einer jeweiligen Sprache berücksichtigen.

Eine Vielzahl entwicklungspsychologisch orientierter Wissenschaftsmodelle verortete zu Beginn der 1980er Jahre den Beginn des Schriftspracherwerbs bereits in die Vorschulzeit (vgl. Dür­scheid, 2016, S. 243). Entwicklungsbedingt erfolgt die Aneignung von basalen Lese- und Recht­schreibfertigkeiten durch unterscheidbare Schriftspracherwerbsphasen im Zusammenhang ei­ner stufenbedingten qualitativen Veränderung von Lese- und Schreibstrategien in den ersten Jahrgangstufen der Primarstufe (Schneider, 2017, S. 18).

Stufenbedingte, genuine Entwicklungsprozesse beschreiben in Folge einer qualitativen Verän­derung von Lese- und Schreibstrategien das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung von Schüler*innen mit dem Lerngegenstand des Lesen- und Schreiben-Lernens, genauer gesagt mit literarischen Texten unter der Berücksichtigung ihrer kognitiven Ressourcen (vgl. Scheerer- Neumann, 2018, S. 63). Aus diesem Wissenschaftsverständnis heraus postuliert das Drei-Pha- sen-Modell nach Uta Frith (1985) generell drei dynamische Entwicklungsphasen des Schrift­spracherwerbs, bei denen die qualitativen Veränderungen von dominierenden Lese- und Schreibstrategien als entwicklungsbedingt erworbene Verarbeitungsfertigkeiten den Verlauf von einzelnen Schriftsprachentwicklungsstufen indizieren. In Folge dieser Art der qualitativen Veränderung von kognitiven Verarbeitungsstrategien impliziert der zeitliche Verlauf dieser drei entwicklungsgesteuerten Erwerbsphasen systematisch anzueignende Lese- und Rechtschreib­fertigkeiten, die durch die dynamischen Entwicklungsbesonderheiten des Schriftspracherwerbs­prozesses strukturiert gesteuert werden (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1154f.). Jede der drei Er­werbsphasen verlangt somit die Ausbildung von unterschiedlichen schriftsprachlichen Verarbei­tungsfertigkeiten, die im Übergang zur nächsthöheren Erwerbsphase durch zwei Entwicklungs­stufen ausgebildet werden. Die Lernmerkmale auszubildender Lese- und Schreibstrategien las­sen sich für den englischen Sprachraum nach Uta Frith (1985) (1.) in eine logographisch geprägte Lese- und Schreibphase, (2.) in eine alphabetisch dominierte Lese- und Schreibphase und (3.) in das Erlernen von orthographischen Lese- und Schreibregeln einteilen (Frith, 1985, S. 306).

6.3. Die logographische Phase des Schriftspracherwerbs

Linnea Ehri (1994, S. 326) zur Folge repräsentieren visuelle Symbole in logografischen Schriftsys­temen Wörter oder Morpheme, jedoch keine Phoneme, bzw. keine lautbasierten phonologi- schen Einheiten. Als Konsequenz orientieren sich Schüler*innen eingangs der Primarstufe nach Frith (1985) während der logographischen Entwicklungsphase lediglich an visuellen Merkmalen („visual word regognition“; Rumelhart & McClelland, 1982, S. 90) eines ganzen Wortes, an seiner Wortlänge oder an inhaltliche Kontexte, ohne dabei die phono- oder graphosemantische Bedeu­tung zu erfassen (vgl. Dürscheid, 2016, S. 246). Das logographische Lesen entspricht demzufolge hauptsächlich dem Vorgang einer ganzheitlichen Worterkennung, bei dem der Abruf eines (Bild- )wortes direkt über die Kopplung mit seiner Wortbedeutung und ohne jegliche phonographische Umkodierung aus dem deklarativen Langzeitgedächtnis abgerufen wird (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1156; Gluck et. al., 2010, S. 198). Die Wiedergabe von Wortbegriffen kann in dieser Entwicklungsstufe kognitiv noch nicht über die Lautung erfasst werden. Im Zentrum der Lern­leistung steht also ein direkter Gedächtnisabruf häufig über visuelle Hinweisreize („use of context in word recognition“; Rumelhart & McClelland, 1982, S. 90). Es werden also Wortbilder, lediglich auswendig gelernte Ganzwörter, die im Gedächtnis als ganze Einheiten gespeichert sind, deklarativ abgerufen.

Ein merkmalsbestimmender Hinweis für den Schwerpunkt der logographischen Lesart fußt also grundsätzlich auf ganzheitlich gesteuerte Worterkennungsprozesse. Ganzheitlich meint in die­sem Zusammenhang, dass die Anwendung der logographischen Lesestrategie ohne das Synthe­tisieren von Lauten oder Silben aus Wortsegmenten zu ganzen Wörtern geschieht (vgl. Scheerer- Neumann, 1996, S. 1156f). In der logographischen Phase können Schüler*innen den Schriftzei­chen zwar eine Bedeutung zuordnen, die Erfassung von korrespondierenden Lautverbindungen gelingt jedoch noch nicht hinreichend (Dürscheid, 2016, S. 246). Das Erlesen von semantisch ähnlichen, aber auf Basis ihrer Phonologie unterschiedlichen Wörtern verdeutlicht zudem das Fehlen der Merkmale einer alphabetischen Lesestrategie. Es kennzeichnet jedoch die Lese- und Schreibfertigkeiten logographisch lesender Schüler*innen als erste Annäherung für das Erlernen komplexerer Lese- und Schreibstrategien (vgl. Dürscheid, 2016, S. 246f; Scheerer-Neumann, 1996, S. 1156f.). Ohne erlerntes Wissen um die Lautstruktur von Buchstabenfolgen können Schüler*innen lediglich Wörter identifizieren, deren visuelle Merkmale sie sich zuvor bildlich eingeprägt haben. Der Abruf logographischer Schreibung folgt ausschließlich anhand auswendig gelernter Buchstabenabbildungen (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1156).

Empirische Untersuchungen verorten logographisches Lesen zunächst bei Vorschulkindern und im Verlauf des ersten Grundschuljahres (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1157). Grundsätzlich kann jedoch angenommen werden, dass die logographische Erwerbsphase sogar früher und zwar mit dem Beginn erster Leseversuche einsetzt (vgl. Dürscheid, 2016, S. 246). Heiner Jansen (1992) konnte im Rahmen einer Interventionsstudie am Beispiel der Verteilung korrekter „Transfer­wortlösungen“ (Jansen, 1992, S.113), die ausschließlich über lautsynthetische Verarbeitungs­prozesse möglich waren, zeigen, dass durch eine analytisch-synthetische Ausrichtung des Lese­unterrichtes die logographische Lesestrategie bei deutschen GrundSchüler*innen bereits in der ersten Klassenstufe und nach wenigen Wochen Förderung durch das alphabetische Erlesen von Wörtern ersetzt wird (Jansen, 1992, S. 113f).

6.4. Die Alphabetische Lese- und Schreibstrategie

Im Gegensatz zur logographischen Erwerbsphase beschreibt das phonographische, lautorien­tierte Erlesen von Wörtern durch die Fähigkeit der phonologischen Rekodierung am Beispiel der Zergliederung einzelner Wörter in ihre Buchstaben- und Lautfolgesequenzen einen zentralen Lernfortschritt für die entwicklungsbedingte Ausbildung eines alphabetischen Zugangs und das 22

Erlernen alphabetischer Verarbeitungsstrategien (vgl. Schneider, 2017, S. 18f.). Die analytische Fähigkeit, Graphemsequenzen systematisch rekodieren zu können, bewertet Uta Frith (1985, S. 307) als eine Voraussetzung für die Ausbildung der alphabetischen Lese- und Schreibstrategie. Die kognitive Verarbeitung von Schriftzeichen auf Wortebene während der Anwendung der al­phabetischen Lese- und Schreibstrategie wird derart gesteuert, indem Graphemverbindungen (Buchstabenfolgen) innerhalb von Phonemketten konstitutiv zu Silben und schließlich zu Wör­tern synthetisiert werden (vgl.: Dürscheid, 2016, S. 246). Die phonologische Rekordierung von Buchstabenfolgen erfolgt also sequentiell und immer von Laut zu Laut. Gesprochene und ge­schriebene Sprache gliedert sich demzufolge in Buschstaben- und Lauteinheiten, die über ihre realisierte sprachliche Form auch über eine bedeutungsunterscheidende Funktion verfügen. Diese Buschstaben- und Lauteinheiten werden als Phoneme bezeichnet (vgl. Kocsany, 2010, S. 81). Phoneme bilden dabei insgesamt die abstrakte Gesamtmenge aller möglichen realisierba­ren Lautverbindungen (Phone) in einem Lautsystem mit distinktiver, bedeutungsunterscheiden­der Funktion (z.B.: „Wanne“ - „Wonne“ (Phonem: „a“; „o“)) (Kocsany, 2010, S. 81) und anschlie­ßender graphemischer Übersetzung. Sie können sowohl über Vokale als auch Konsonanten sprachlich realisiert werden („Vokalphoneme“; „Konsonantenphoneme“) (Lüdeling, 2014, S. 56­60). Phone hingegen beschreiben lediglich einfache Laute ohne bedeutungsunterscheidende Funktionen auf Ebene der Semantik (Kocsany, 2010, S. 81).

Des Weiteren bildet die systematische Erfassung von phonologischen Einheiten auf Silben- und Wortebene für eine regelkonforme Schreibung von schriftlichen Einheiten auf Basis der Graphe- matik, also im Zusammenhang der graphemischen Übersetzung von phonologischen Einheiten, eine notwendige Bedingung, um anschließend die orthographischen Regeln einer alphabeti­schen Schriftsprache überhaupt erlernen zu können (Neef, 2005, S. 16). Die kognitiven Verarbei­tungsprozesse für den Erwerb der alphabetischen Verarbeitungsstrategie, die ein regelkonfor­mes Lesen und Schreiben ermöglichen, werden hauptsächlich über die Fähigkeiten der Phonem­analyse und -synthese gesteuert (Scheerer-Neumann, 2018, S. 63). Ab dem Zeitpunkt, wo der indirekte sublexikalische Abruf einer graphemisch realisierten Wortform auf Basis von Phonem­Graphem-Korrespondenzen und ihrer silbischen Struktur lexikalisch direkt aus dem mentalen orthographischen und phonologischen Lexikon abgerufen wird, kann grundsätzlich von einer konstant erworbenen alphabetischen Lese-Schreib-Strategie im Übergang zur orthographischen Stufe ausgegangen werden (Ehri, 2014, S. 9; Coltheart, 2007, S.12).

Im Unterschied zur Ausbildung der logographischen Lese- und Schreibstrategie, bei der das Er­lesen von Ganzwörtern durch die Rezeptionsmerkmale des Wiedererkennens von Hinweisreizen

geprägt ist, erfolgt der Erwerb eines alphabetischen Zugangs für den Schriftspracherwerb in der Grundschule hauptsächlich über praktische und segmentierende Schreibübungen (Frith, 1985, S. 310f). Situative und inhaltliche Hinweisreize treten somit in den Hintergrund. Kennzeichnend ist, dass Schüler*innen mit steigenden Lernanforderungen die Mängel der logographischen Les­art und Schreibung aufgrund der hohen Gedächtnisauslastung, die ohne jegliche Nutzung von Phonem-Graphem-Korrespondenzen entsteht, sehr schnell realisieren (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1155; Dürscheid, 2016, S. 246; Scheerer-Neumann, 2018, S. 116).

Eine weitere zu bewältigende Lernleistung für die Ausbildung eines alphabetischen Zugangs während des Schriftspracherwerbprozess bildet schließlich die Fähigkeit zur phonologischen Be­wusstheit (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1158). Unter dem Begriff der phonologischen Bewusst­heit werden wichtige Vorläuferfertigkeiten subsumiert (DGKJP, 2015, S. 40). Zu diesen gehören bei symptomorientierter Förderung von Lese- und Rechtschreibleistungen beispielweise das Segmentieren (Zergliederung), Diskriminieren (Unterscheidung) und Zusammenschleifen (Zu­sammenführen) von Phonemen zur Wortbildung (DGKJP, 2015, S. 40) Globaler formuliert, bein­haltet die Ausbildung der phonologischen Bewusstheit die lautanalytische Fähigkeit, die Auf­merksamkeit auf die Lautstruktur und Silbengrenzen von Wörtern zielgenau und unabhängig von Wortbedeutungen steuern zu können (Scheerer-Neumann, 2018, S. 137). Der alphabetische Zugriff auf die Lautstruktur von Wörtern bildet zudem die Grundlage, diese im Prozess des Schriftspracherwerbs bewusst manipulieren zu können (Castles & Coltheart, 2004, S. 78f.).

Auch für den deutschen Sprachraum wird für die erfolgreiche Bewältigung der alphabetischen Strategie und für einen normgerechten Verlauf des Schriftspracherwerbs die Fähigkeit zur pho- nologischen Bewusstheit in Prädikationsstudien als wichtige Prädikatorvariable postuliert, wo­bei die Annahme eines kausalen Einflusses auf spätere Lesefertigkeiten eher als umstritten gilt (Gorecki & Karin, 2015, S. 140; vgl. Rißling et. al. 2011, S.232ff.; Müller et. al., 2013, S.134-140; vgl. Landerl & Wimmer, 2008, S. 156-159 & Gorecki & Karin, 2015, S. 141).

6.5. Die Orthographische Erwerbsphase

Während die alphabetische Erwerbsphase der Fertigkeit zur Zuordnung von Lautsequenzen an­hand eines regelkonformen Rekodierens von Buchstabenfolgen zur korrekten Synthese von Gra­phem-Phonem-Korrespondenzen beim Lesen und Schreiben entspricht (vgl. Schneider, 2017, S. 19), so beziehen sich die auszubildenden Verarbeitungsmerkmale der orthographischen Schrift­spracherwerbsphase auf die komplexe Analyse von Wörtern und ihre strukturelle Zergliederung in orthographische Struktureinheiten (Frith, 1985, S. 306). Die Schriftlinguistik bezeichnet die Realisierung dieser kleinsten Laut- oder Graphemeinheiten mit der Zuweisung einer semantischen oder einer grammatischen Funktion, die lautlich und graphemisch realisiert wer­den, als Morphem (Lüdeling, 2014, S. 82). Anders als ein semantisches Wort (Lexem), das als kleinste lexikalische Einheit unabhängig für sich stehen kann, indizieren seine lautlichen und gra- phematischen Einheiten morphologische und lexikalische Funktionen, die auf der Ebene der Grammatik und Wortbildung wirksam werden (Kocsany, 2010, S. 82ff.). Insbesondere lexikali­sche und grammatische Morpheme (Flexionspartikel oder Affixe) bilden somit für den Erwerb orthographischer Schreibfertigkeiten zentral zu erlernende strukturelle Regelmäßigkeiten und orthographische Muster, die eine Anpassung der alphabetischen, lautorientierten Schreibung an diese funktionalen Struktureinheiten erfordern (Scheerer-Neumann, 1996, S. 1159; Lüdeling, 2014, S. 89-93 u. S. 101-105).

Strukturelle Regelmäßigkeiten sind beispielsweise silbische oder innersilbische Strukturmerk­male am Silbenanfangsrand und am Silbenende eines Wortes („Onset“; „Nucleus“ und „Koda“; Lüdeling, 2014, S. 61) wie u.a. Wortpräfigierungen („ver-, zer-“) oder Suffigierungen („-heit,- keit, -en, -er etc“; Lüdeling, 2014, S. 90) sowie der Einschluss von Funktionswörtern und häufig vor­kommende Buchstabengruppen in Form von Di- oder Trigraphen („<st>“, „<pfl>“, „<fr>“) (Dür­scheid, 2017, S.248). Ein weiteres morphologisches Strukturmerkmal bildet beispielsweise die Vokaldauermarkierung (Scheerer-Neumann, 2018, S. 79). Außerdem müssen Schreibregularitä­ten wie zum Beispiel Konsonantendopplungen (ambisyllabische Konsonanten) im Silbengelenk über die Silbenstruktur für einen orthographischen Zugang beim Schriftspracherwerb erlernt werden (Dürscheid, 2016, S.248, Lüdeling, 2014, S. 66). Mit zunehmender Leseerfahrung wird dann die suprasegmentale Gliederung dieser funktionellen Einheiten für ein direktes Widerer­kennen im orthographischen und phonologischen Lexikon als ganze Graphem- und Phonemein­heiten für einen direkten lexikalischen Abruf gespeichert (Castles & Coltheart, 2007, S. 12.), so­dass die zuvor aufgelisteten strukturellen Regelmäßigkeiten als ganze morphematische und or­thographische Einheiten abgespeichert werden (Scheerer-Neumann, 2018, S. 78; Dürscheid, 2017, S.248). Das führt durch eine effektivere Nutzung von Strukturen gespeicherter orthogra­phischer Merkmalsmuster zu einer verbesserten Leseflüssigkeit (vgl.: Scheerer-Neumann, 2018, S. 79). Für Seidenberg und McClelland (1989, S. 560) ist die effiziente Nutzung gespeicherter orthographischer Merkmalsmuster ausschließlich über den Aufbau eines kognitiven Netzwerks von inhaltlich gefüllten Repräsentationen („a network with distributed representations“) mög­lich.

Über die Ausbildung der orthographischen Lese- und Schreibstrategie werden schließlich die Spezifikationen der Wortschreibung im mentalen orthographischen Gedächtnis in Form von phonologisch strukturierten und graphemisch kodierten Repräsentationen von Wörtern und Morphemen abgelegt (Scheerer-Neumann, 2018, S. 78). Diese phonlogischen Einheiten werden auch im mentalen phonologischen Gedächtnis abgespeichert, was zu einer schnelleren Verar­beitung von phonologischen Einheiten beim Lesen führt. Als Folge ist häufig eine Beschleunigung des Wortlernens durch eine beginnende Automatisierung zu beobachten (Ehri, 2014, S. 6; Scheerer-Neumann, 2018, S. 76). Der Erwerb von orthographischen Lese- und Schreibstrategien bildet final den Abschluss eines entwicklungsgesteuerten systematischen Schriftspracherwerbs­prozesses. Unbekannte Wörter können aber weiterhin phonographisch gelesen werden (Dür­scheid, 2016, S. 248). Zeitlich ist die Ausbildung orthographischer Lese- und Schreibstrategien in Abhängigkeit von didaktischen Vermittlungsstrategien und der konkreten Auswahl schulischer Unterrichtsinhalte ab der zweiten Klassenstufe zu beobachten (Dürscheid, 2016, S. 248). Bredel, Fuhrhop & Noack (2011, S. 96) sprechen in diesem Zusammenhang von einer methodenabhän­gigen und institutionellen Steuerung des Schriftspracherwerbs.

6.6. Zusammenfassung

Zusammenfassend liefert das Drei-Phasen-Modell nach Uta Frith (1985) eine entwicklungsbe­dingte (entwicklungs- und kognitionspsychologische) Systematisierung konkret zu erwerbender meta-kognitiver Lernleistungen, die mit dem Erwerb schriftsprachlicher Verarbeitungsfertigkei­ten im Zusammenhang stehen und derart die erfolgreiche Ausbildung kognitiver Verarbeitungs­strategien für den Schriftspracherwerb kennzeichnen. Die im Zusammenhang des Drei-Phasen­Modells auszubildenden alphabetischen und orthographischen Verarbeitungsfertigkeiten sind fernerhin für eine diagnostische Bewertung von schriftsprachlichen Leistungen dahingehend wichtig, da sie phasenbedingte qualitative Fehlerschwerpunkte identifizieren und somit auch pädagogisch auf konkrete Förderschwerpunkte hinweisen können. Zudem konzentrieren sich die Testkonstruktionen psychometrischer Testdiagnostiken bei der operationalisierten Erfas­sung von schriftsprachlichen Leistungen auf die kognitiven Verarbeitungsfertigkeiten alphabeti­scher und orthographischer Lese- und Rechtschreibstrategien. Eine testdiagnostische Erfassung von Lese- und Rechtschreibleistungen mit anschließender schulischer Förderung bedarf aus die­ser Perspektive grundsätzlich immer einem vertieften Verständnis über die kognitionsgesteuer­ten alphabetischen und orthographischen Verarbeitungsstrategien, die die kognitiven Abläufe für erfolgreiches Lesen- und Schreiben-Lernen steuern. Abbildung 4 zeigt in Anlehnung an das Frith'sche Erwerbsmodell eine systematische Zusammenfassung der Schriftspracherwerbspha­sen.

Tab. 1. Entwicklungsverlauf des Schriftspracherwerbs

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

6.7. Das Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien nach Klaus-B. Günther (1986)

K.-B. Günthers (1986) Stufenmodell des Erwerbs kindlicher Lese- und Schreibstrategien berück­sichtigt im Zusammenhang seiner Ausarbeitungen für eine Schriftspracherwerbsdidaktik wich­tige Forschungsergebnisse der psycholinguistischen Spracherwerbsforschung (Dürscheid, 2016, S. 250). In Anlehnung an das Frith'sche Schriftspracherwerbsmodell erweitert K.-B. Günther (1986, S. 33) die logographische Erwerbsphase zunächst durch eine vorgeschaltete präliteral­symbolische Phase, deren Funktionen hauptsächlich darin bestehen, dass durch intuitives Her­vorbringen von bildlichen und symbolischen Darstellungsformen, Gegenstände und Symbole aus einem dreidimensionalen Raum in eine zweidimensionale Darstellungsform übertragen werden (Günther, 1986, S. 34). Mit anderen Worten bildet beispielsweise das Bildmaterial aus Bilderbü­chern häufig eine erste Perzeptionsgrundlage zur Anwendung einer primären präliteral-symbo­lischen Produktionsstrategie und für erste zweidimensionale Zeichnungen von Vorschulkindern (vgl. Dürscheid, 2016, S. 249; vgl. Günther, 1986, S. 34). Der Gebrauch von symbolischen Abbil­dungen („z.B. V für Liebe“; Dürscheid, 2017, S. 249) kennzeichnet bereits die konkrete Anwen­dung der präliteral-symbolischen Lese- und Schreibstrategie und ist symbolisch zu verstehen (vgl. Dürscheid, 2017, S. 249; Günther, 1986, S. 35).

Auf diese Weise bilden symbolische Zeichnungen am Beispiel graphischer Darstellungen eine wichtige Grundlage für den Prozess des Lesen- und Schreiben-Lernens, wobei die Nachahmung von Schreibhandlungen für Kinder in dieser Phase einen weiteren wichtigen Lernprozess steuert, der darin besteht, zu erkennen, das schriftsprachliches Material als literal organisierte Modalität von Sprache mit eigener Struktur von anderen graphischen Darstellungsformen zu unterschei­den ist (Günther, 1986, S. 35). Die Anwendung präliteral-symbolischer Lese- und Schreibstrate­gien dient fernerhin zur konkreten Vorbereitung auf den späteren Schriftspracherwerb (Gün­ther, 1986, S. 34). Der Erwerb schriftsprachlicher Fertigkeiten setzt jedoch konkret erst mit der logographischen Erwerbsphase ein (Dürscheid, 2016, S. 249).

Des Weiteren erweitert Günther (1986) das Frith'sche Basismodell durch eine integrativ-auto- matisierte Phase. Diese Phase dient lediglich zur Festigung bereits erworbener Lese- und Schreibstrategien. Der automatisierte Abruf von morphematischen und orthographischen Ein­heiten erfolgt über den Aufbau des mentalen orthographischen Lexikons und anhand der Kopp­lung von sowohl graphemischen als auch phonologischen Informationen (vgl. Scheerer- Neumann, 2018, S. 60). Möglich wird es, indem im orthographischen Lexikon phonologisch strukturierte Repräsentationen von Wörtern und Buchstabenfolgen gespeichert werden (Scheerer-Neumann, 2018, S. 78). Die Verknüpfung von Buchstabenfolgen mit phonologischen Eigenschaften („relations between letters and sounds“; Ehri, 1980, S. 3132) bezeichnet Ehri als „amalgamation“ (Verschmelzung) (Ehri, 1980, S. 313).

Günther (1986) zur Folge indizieren automatisiert ablaufende Lese- und Schreibhandlungen je­doch keine neu erworbenen Lese- und Schreibstrategien, sondern vielmehr den schriftlichen Sprachgebrauch von kompetent lesenden und schreibenden Schüler*innen, um beim Abruf auf ein funktionsspezifisches und unabhängiges Repräsentationssystem zugreifen zu können (Gün­ther, 1986, S. 43). Durch den direkten lexikalischen Zugriff am Beispiel der lexikalischen Worter­kennung von strukturellen Regelmäßigkeiten werden zusätzlich erweiterte Lesestrategien er­worben (Scheerer-Neumann, 2018, S. 60). Auf diese Weise erwerben Kinder mehr Sicherheit beim Lese- und Schreibprozess (Dürscheid, 2016, S. 249).

Nachdem durch das Dual-Route-Cascaded-Model nach Max Coltheart (2007, S. 8-12) ein vertief­tes Verständnis in die kognitiven Abläufe des Wortlesens herausgearbeitet worden ist und die Ausbildung der zentralen Lese- und Schreibstrategien am Beispiel der Spracherwerbsforschung nach Frith und Günther erläutert wurden, folgt nun die inhaltliche Vorstellung der für die Lese- und Rechtschreibleistung relevanten Inhaltsbereiche aus den Kompetenzvorgaben des Rahmen­lehrplans der Bundesländer Berlin und Brandenburg. Diese gelten als sogenannte „Regelstan­dards“ (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 9 / Teil C) und geben die konkret zu erwer­benden Lese- und Schreibfertigkeiten für den Deutschunterricht für die dritte und vierte Jahr­gangsstufe qualitativ vor. Dabei ist es wichtig, die qualitativen Vorgaben der Kompetenzbereiche im Teil C des Rahmenlehrplans unter Berücksichtigung von testtheoretischen Erfassungskatego­rien, die bei der psychometrischen Erfassung von Lese-, Rechtschreibleistungen relevant sind, zu operationalisieren. Die Operationalisierung erfolgt zunächst anhand der Vorgaben des Algo­rithmus für eine leitliniengerechte Diagnostik nach den Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, die für den Bereich der Lesefertigkeit drei zent­rale Erfassungsbereiche vorgeben: (1.) Lesegenauigkeit, (2.) Lesegeschwindigkeit und (3.) Text-/ Leseverständnis. Die vorgegebenen Erfassungsbereiche für Rechtschreibfertigkeiten werden global unter dem Konstrukt (1.) orthographisches Schreiben und (2.) qualitative Fehleranalyse subsumiert (DGKJP, 2015, S. 71).

Als Erweiterung der S3-Leitlinienempfehlungen des DGKJP's liefern zudem zwei systematische Reviews mit meta-analytischer Auswertung eine Auflistung von testdiagnostisch operationalisierten Erfassungskategorien, die bei der Erfassung von Lese- und Rechtschreibleis­tungen systematisch herangezogen werden. Eine ausführliche Übersicht zu den zentralen kog­nitiv-linguistischen Basisprozessen liefern die meta-analytischen Querschnittsstudien von Ho- skyn und Swanson (2000, S. 104-108) sowie Stuebing et al. (2002, S. 498-504), die sämtliche Leistungsbereiche lese- und rechtschreibgestörter Schüler*innen, die entweder über die Alters­oder Klassennormdiskrepanz oder unter der Anwendung des IQ-Diskrepanzkriteriums diagnos­tiziert wurden, miteinander verglichen. Wichtige operationalisierte Erfassungskategorien stan­dardisierter Testdiagnostiken bilden nach der Auswertung beider systematischer Überblicksar­beiten phonologische Verarbeitungsfähigkeiten, die darin bestehen, mit den formalen lautstruk­turellen Einheiten unterhalb der Wortbedeutung zu operieren (vgl. Hartmann, 2002, S. 50). Zu diesen Fähigkeiten gehören beispielsweise, Phoneme identifizieren und unterscheiden zu kön­nen („Phonemidentifikation/ - diskrimination“ DGKJP, 2015, S. 26). Die Fähigkeit, Phoneme zu­sammen zu führen, bildet einen weiteren testdiagnostischen Erfassungsbereich (Hoskyn & Swanson, 2000, S. 108; DGKJP, 2015, S. 26). Etwas globaler formuliert fallen die Verarbeitungs­fertigkeiten der Phonemidentifikation, bzw. -diskrimination und ihrer Synthese unter dem glo­balen testdiagnostischen Konstrukt der phonologischen Bewusstheit (vgl. Winkes, 2014, S. 51). Des Weiteren bildet die Automatisierungsleistung sowohl beim Lesen (Lesegeschwindigkeit) als auch durch das automatisierte orthographische Schreiben, neben lexikalischen und syntakti­schen Verarbeitungsfähigkeiten, weitere zentrale testdiagnostische Kategorien (Hoskyn & Swanson, 2000, S. 104-108; DGKJP, 2015, S. 26). Schließlich sind noch die Benenngeschwindig­keit sowie die Fähigkeit, Buchstaben zu ordnen und zu unterscheiden (Buchstabenerkennung), der Umfang des Wortschatzes und globale orthographische Verarbeitungsfähigkeiten zu nennen (Hoskyn & Swanson, 2000, S. 104 u. 108; Stuebing et al., 2002, S. 498-504). Die testdiagnosti­schen Erfassungskategorien der Benenngeschwindigkeit sowie der Buchstabenerkennung gehö­ren ebenfalls zu den globalen phonologischen Verarbeitungsfähigkeiten (Hoskyn & Swanson, 2000, S. 104).

Zu den orthographischen Verarbeitungsfertigkeiten gehört das wortspezifische Wissen, das in der orthographischen Differenzierung von Wörtern auf semantisch-lexikalischer Ebene besteht (vgl. Winkes, 2014, S. 65-76). Semantisch-lexikalische Verarbeitungsprozesse beziehen sich nicht nur auf die kognitive Verarbeitung der Wortbedeutung; sie umfassen auch den Abruf von morphologischem Wissen auf lexikalischer Ebene (Winkes, 2014, S. 76), die die Qualität ortho­graphischer Eintragungen im mentalen orthographischen Lexikon mitbestimmen (vgl. Glück, 1999, S.). Neben dem Wortschatzumfang, welcher durch die Quantität der spezifischen Einträge im mentalen Lexikon gekennzeichnet ist, kennzeichnet semantisch-lexikalisches Wissen auch die Qualität „der inneren Struktur von Wörter[n]“ (Dannenbauer, 2000, S. 133). Dazu gehört auch das Wissen über Wortverwandtschaften, die während des Rechtschreibprozesses abgerufen werden (Winkes, 2014, S. 76). Syntaktisches Wissen und Fertigkeiten („syntacital knowledge“) beinhalten neben dem Wissen um morpho-syntaktische Merkmale grammatikalischer Pho­neminformationen wie z. B. die Pluralbildung von Wörtern auch das Wissen um grammatikali­sche Informationen auf Satzebene (Perfetti, 2007, S. 359). Der Erwerb von sowohl semantisch­lexikalischem als auch morpho-syntaktischem Wissen gehört zu den globalen orthographischen Verarbeitungsfertigkeiten. Sie kennzeichnen die kognitiv-linguistischen Verarbeitungskompe­tenzen morphematischer Bewusstheit (vgl. Winkes, 2014, S. 76 - 83).

Nach einer systematischen Vorstellung lehrplanorientierter Kompetenzbereiche werden die Kompetenzvorgaben schulischer Anforderungen im Zusammenhang der entsprechenden Skalie­rung ihrer Kompetenzniveaustufe (A bis D) anschließend systematisch nach den Vorgaben des Algorithmus für eine leitliniengerechte Diagnostik im Kontext der S3-Leitlinienempfehlungen der deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie anhand der oben aufgelisteten testdiagnostischen Erfassungskategorien und unter der Berücksichtigung weiterer testdiagnos­tischer Erfassungskategorien durch die systematischen Reviews von Hoskyn und Swanson (2000, S. 104-108) und Stuebing et al. (2002, S. 498-504) operationalisiert und in eine tabellarische Zu­sammenfassung überführt.

7. Bundeslandinterne Vorgaben zur Kompetenzentwicklung anhand des Rahmenleh­rplans der Bundesländer Berlin und Brandenburg im Zusammenhang des Erwerbs schriftsprachlicher Fertigkeiten

7.1 Kompetenzentwicklung im Land Berlin und Brandenburg

Die Grundlage für schulisch erfolgreich bewältigte Lernprozesse und für eine gelingende Teil­habe am gesellschaftlichen Leben bildet der schulische Erwerb von bildungssprachlichen Kom­petenzen (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 3 / Teil C). Die primäre Aufgabe primarbe- zogener Bildung unterliegt infolgedessen der perspektivischen Heranführung von Schüler*innen an die Besonderheiten von bildungssprachlichen Anforderungen durch die systematische Ent­wicklung von bildungssprachlichen Schriftsprachkompetenzen (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Branden­burg, 2015, S. 3 / Teil C). Dieser bildungsgesteuerte Prozess erfolgt im Deutschunterricht Schritt für Schritt durch die didaktische und inhaltliche Vermittlung von Lese- und Schreibfertigkeiten (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 3 / Teil C).

Die Ausrichtung differenzierter Bildungsangebote für den Erwerb von Lese- und Rechtschreib­fertigkeiten wird in diesem Zusammenhang durch die sogenannten Regelstandards bundes­landintern gesteuert. Je nach Klassenstufe, Lernvoraussetzung und Abschlussart erfolgt eine Un­terteilung von Kompetenzvorgaben für einen fachbezogenen Kompetenzbereich (Lernbereich) an lehrplanbedingte (Kompetenz-)Niveaustufen, die für die Bundesländer Berlin und Branden­burg als Rechtsvorschriften gelten und derart für die Qualitätsentwicklung von schulinternen Curricula rechtsbindend sind (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Mi­nisterium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 9-13 / Teil C). Anders formuliert, konkretisieren Kompetenzbereiche für einen fachlich definierten Lernbereich spezi­fisch zu erwerbende prozess- und fachbezogene Lernanforderungen, die als eine kriteriumsori­entierte Vorgabe den quantitativ zu erbringenden spezifischen Lernleistungen qualitativ vorge­schaltet sind (vgl. Hartig, 2007, S. 86). Unter der Skalierung von (Kompetenz-)Niveaustufen sind fernerhin entwicklungs- und lernbedingte schulische Normanforderungen zu verstehen, die von den Personenfähigkeiten der Schüler*innen je nach Jahrgang und Schulart zu bewältigen sind (Hartig, 2007, S. 85). Die kriteriumsorientierte Unterteilung von Schülerkompetenzen in schwie­rigkeitsabhängige Skalenabschnitte werden als Kompetenzniveaus bezeichnet (Hartig, 2007, S. 86). Anders formuliert, bilden Kompetenzniveaustufen kriteriumsorientierte Lernanforderun­gen, über die Schüler*innen auf einem bestimmten Niveau zu einem bestimmten Zeitpunkt jahr­gangsabhängig während ihrer Kompetenzentwicklung verfügen müssen (vgl. Hartig, 2007, S. 86).

Die festgesetzten Anforderungsrichtlinien in den Regelstandards der bundeslandinternen Rah­menlehrpläne werden somit als Basis für die Evaluation von Lern- und Leistungsstand begriffen, um individuelle Kompetenzentwicklungen von Schüler*innen mit den kriteriellen Vorgaben des Länderrahmenlehrplans abzugleichen. Dieser Vorgang ermöglicht nach der erfolgreichen Been­digung einer Klassenstufe adaptive Übergänge in die nächsthöhere Klassenstufe, die mit stei­genden Lernanforderungen verbunden sind (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 9-14 / Teil C).

Die bundeslandabhängige Einteilung festgesetzter Kompetenzanforderungen in den Bundeslän­dern Berlin und Brandenburg für das Fach Deutsch für die dritte und vierte Klassenstufe unter­scheiden sich lediglich in der Zuweisung von Kompetenzanforderungen der Kompetenzniveau­stufe D für die vierte Jahrgangstufe für Schüler*innen im Land Berlin. Für das Land Brandenburg wird für eine erfolgreiche Bewältigung der vierten Klassenstufe lediglich die Bewältigung der Anforderungsniveaus A bis C für eine erfolgreiche Transition in die fünfte Jahrgangsstufe als Be­wertungsgrundlage herangezogen (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 9-14 / Teil C).

Die Lernleistungen von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind entspre­chend der Lehrplanrichtlinien gesondert zu bewerten (Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie & Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015, S. 10 u. 14 / Teil C).

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Ende der Leseprobe aus 147 Seiten

Details

Titel
Die Messung schriftsprachlicher Leistungen in der 3. bis 4. Klassenstufe. Veränderungssensitivität von diagnostischen Verfahren
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Rehabilitationspsychologie)
Note
1,6
Autor
Jahr
2021
Seiten
147
Katalognummer
V1161066
ISBN (eBook)
9783346561701
ISBN (Buch)
9783346561718
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychometrik LRS Veränderungssensitivität von psychometrischen, Verfahren
Arbeit zitieren
Jens Burmeister (Autor:in), 2021, Die Messung schriftsprachlicher Leistungen in der 3. bis 4. Klassenstufe. Veränderungssensitivität von diagnostischen Verfahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1161066

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