Zwischen Funktionalität und Opportunismus. Was sind Erklärungsansätze für demokratie-dysfunktionales Entscheiden des Bundesverfassungsgerichts durch Nicht-Intervention?


Bachelorarbeit, 2018

54 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Das Bundesverfassungsgericht im politischen System derBundesrepublik Deutschland
a. Die Rolle von Verfassungsgerichten in liberal-rechtsstaatlichen Demokratien
b. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik Deutschland

3. Demokratiefunktionalität als politikwissenschaftlicher Bewertungsmaßstab verfassungsgerichtlicher Urteile

4. Methodik zur Kategorisierung von Urteilen nach Intervention und Demokratiefunktionalität

5. Das Homosexuellen-Urteil (1957) als Beispiel einer demokratiedysfunktionalen Nicht-Intervention

6. Analyse des öffentlichen Umfeldes
a. Die Öffentlichkeit als Machtressource des Bundesverfassungsgerichts
b. Der Einfluss öffentlicher Wertschätzung auf das Entscheidungsverhalten des Bundesverfassungsgerichts
i. Die Intensität medialer Berichterstattung
ii. Das Vorhandensein organisierter Interessengruppen
iii. Die Komplexität des Sachgebietes
iv. Zwischenergebnis
c. Der Einfluss öffentlicher Wertschätzung auf das Entscheidungsverhalten des Bundesverfassungsgerichts: Kritik und Erweiterung

7. Historische und normimmanente Kontextfaktoren

8. Auswertung

9. Fazit

10. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

11. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

„Wir werden das Urteil respektieren, aber es inhaltlich nicht akzeptieren.“ (Süddeutsche Zeitung vom 09.09.1995). In dieser kurzen Aussage des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber verdichtet sich das spannungsreiche Verhältnis zwischen Judikative und Gesetzgeber in liberal-rechtstaatlichen Demokratien. Denn einerseits hat die Judikative den Gesetzgeber in den verfassungsrechtlichen Grenzen zu kontrollieren, andererseits besteht Uneinigkeit, wie weit diese Kontrolle im Einzelfall reichen sollte (vgl. Piazolo, 2006: 293 ff.). Häufig ist in Bezug auf Letzteres von der Justizialisierungsthese (vgl. Hönnige, 2010: 509 ff.) die Rede, die den Verfassungsgerichten einen großen Einfluss auf die Politik attestiert. Dieses Phänomen wurde in zahlreichen Arbeiten diskutiert (vgl. Hirschl, 2004; Stone Sweet, 2002).

In dieser Bachelorarbeit soll anhand eines demokratietheoretischen Maßstabs, der Demokratiefunktionalität, der gegenläufige Weg gegangen werden. Statt einem möglicherweise starken Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf die deutsche Politik nachzugehen, sollen Einflussfaktoren auf Fälle untersucht werden, in denen das Bundesverfassungsgericht mehr oder weniger überraschend nicht eingeschritten ist, seinen „justizialisierenden“ Einfluss auf dem politischen Parkett also zurückhielt. Damit soll der Justizialisierungsthese eine neue Perspektive hinzugegeben werden, indem die seltener beleuchtete gerichtliche Zurücknahme in den Fokus gerückt wird. Denn anstatt pauschal von einer generellen Justizialisierung der Politik auszugehen, scheint es mir ratsam, gerade solche Fälle zu untersuchen, in denen das Bundesverfassungsgericht sich zurückhielt, obwohl es aus demokratietheoretischer Perspektive seinen Einfluss hätte geltend machen müssen.

Aus der bereits bestehenden Forschung sollen Erklärungsansätze für das „Schweigen“ des Gerichts herangezogen und exemplarisch für einen Fall auf ihre Plausibilität hin untersucht werden. Das herangezogene Urteil erfasst einen Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht nicht interveniert,also das in der Entscheidung zur Frage stehende Gesetz, nicht beanstandet hat. Nun ließe sich argumentieren, dass diese Nichtbeanstandung eben genau der einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundlage entsprach und daher normativ geboten war. Dem juristischen Maßstab möchte ich jenen der Demokratiefunktionalität gegenüberstellen. Damit soll also ein Fall untersucht werden, in dem das BVerfG aus demokratiefunktionaler Perspektive hätte intervenieren können und sogar müssen, dies aber dennoch, ob juristisch begründbar oder nicht, unterlassen hat.

2. Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der Bundesrepublik Deutschland

Um sich mit dem Entscheidungsverhalten des Bundesverfassungsgerichts und seiner Bewertung an einem demokratietheoretischen Maßstab zu beschäftigen, sollte man zunächst einen Blick auf die den Verfassungsgerichten abstrakt zugewiesene Funktion in Demokratien werfen. Da es sich bei der Bundesrepublik Deutschland normativ um eine rechtstaatliche Demokratie handelt (vgl. Art. 20 III GG), soll im ersten Schritt eine kurze Betrachtung der den Verfassungsgerichten in solchen Systemen zugedachten Rolle erfolgen.

a. Die Rolle von Verfassungsgerichten in liberal-rechtsstaatlichen Demokratien

Der zugeschriebenen Rolle von Verfassungsgerichten in liberal-rechtstaatlichen Demokratien nähert man sich vorzugsweise über die Begründungsansätze für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Grundsätzlich ist danach zu fragen: Wozu braucht es überhaupt ein Gericht, dass den demokratischen Willen des Volkes und seiner gewählten Vertreter in Einzelfällen beschneiden und hinter andere Erwägungen zurückdrängen kann, ohne von demselben dazu selbst unmittelbar legitimiert zu sein? Die Antworten auf die Frage spalten sich „grob [in] zwei Positionen [...]: eine prozeduralistische und eine eher substanzialistische“ (Kneip, 2006: 261).

Erstere Position hebt die Notwendigkeit eines offenen demokratischen Prozesses hervor, der auch im Fall evidenter Mehrheiten stets zu wahren sei, um Minderheiten „Teil des Systems“ bleiben zu lassen (Bickel, 1986; Ginsburg, 2003). Auch ihnen müssen Einflussmöglichkeiten im politischen Prozess bewahrt bleiben. Um nicht der demokratischen Mehrheit die Kontrolle über den ausreichenden Zugang zum demokratischen Prozess für die Minderheit zu überlassen, wurde deshalb eine dritte unabhängige Instanz in Form eines Verfassungsgerichts geschaffen, welches die Mehrheit im Hinblick auf hinreichend offene Verfahren und politische Partizipationsmöglichkeiten (Bsp.: Art. 38 GG) kontrollieren kann (Kneip, 2006: 262). Ansonsten bestünde die Gefahr, dass durch einmal entstandene Mehrheiten die verbleibenden Minderheiten aus dem politischen Prozess gedrängt und nicht mehr gehört werden könnten. Dies widerspräche dem demokratischen Anspruch einer möglichst auch in ihrer Diversität getreuen Abbildung von Gesellschaft in der Politik. Mit der Wahrung eines offenen demokratischen Prozesses durch die Gerichte wird letztlich die Responsivität des politischen Systems sichergestellt. Die Rolle des Verfassungsgerichts beschränkt sich nach dieser Konzeption demnach auf die Kontrolle des politischen Prozesses.

Die substanzialistische Position erweitert den Aufgabenkreis von Verfassungsgerichten um die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Nach der Lockschen Grundkonzeption hat das Individuum Aufgaben an den Staat delegiert, damit dieser sie auf höherer Ebene effektiver wahrnehmen kann. Diese staatliche Aufgabenausübung ist jedoch nur solange legitimiert, wie der Staat damit die Autonomie seiner Bürger schützt (Kneip, 2006: 262). Regiert eine dominierende Mehrheit in den grundrechtlich geschützten Kern individueller Autonomie restringierend hinein und gefährdet diese somit, ist es nach der substanzialistischen Position die Aufgabe von Verfassungsgerichten zu intervenieren. Ihren Ausdruck findet die individuelle Autonomie verfassungsrechtlich in den Grundrechten des „status negativus“ (Bsp.: Art. 4 GG), die diese für den jeweiligen Rechtskreis bestimmt. Die zumeist abstrakte Formulierung und damit große Auslegungsbedürftigkeit der Grundrechte eröffnet dem Verfassungsgericht einen Auslegungsspielraum, dessen Grenzen im Verständnis der substanzialistischen Position weniger eindeutig als nach der prozeduralistischen Position sind. Das Verfassungsgericht muss letztlich selbst entscheiden, wo die Grenze zwischen dem politischen Prozess überlassener Ausgestaltung und dem änderungsfesten Kernbereich der individuellen Autonomie verläuft (Kneip, 2006: 263).

Eine politikwissenschaftliche Antwort auf das Grenz- und Abgrenzungsproblem des Spielraums von Verfassungsgericht und Gesetzgeber liegt im Maßstab der Demokratiefunktionalität, die im späteren Verlauf der Arbeit (3.) vorgestellt werden soll. Im nächsten Schritt soll zunächst eingeordnet werden, in welche der beiden hier vorgestellten Konzeptionen, prozedural oder substanzialistisch, die deutsche Verfassungsdogmatik und damit die Rolle des Bundesverfassungsgerichts einzuordnen ist.

b. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik Deutschland

Die Entscheidungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts sind in Art. 93 GG zusammenfassend aufgeführt. Sie umfassen zum einen die Entscheidung in staatsorganisationsrechtlichen Fragen wie etwa im Rahmen des Organstreitverfahrens (Art. 93 I Nr. 1 GG) oder des Bund-Länder-Streits (Art. 93 I Nr. 3 GG). In diesen Fällen wird vor allem der prozeduralistische Einschlag im Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Im Organstreitverfahren vermittelt und entscheidet das Gericht im Streit um Kompetenzen etwa zwischen Gesetzgebung, meist vertreten durch die Opposition (vgl. Voigt, 2006: 71), und Exekutive auf horizontaler Ebene. Ähnliches gilt für den Bund-Länder-Streit auf vertikaler Ebene, bei der Abgrenzung zwischen Länder- und Bundeskompetenzen. Gerade in diesen beiden streitigen Verfahren manifestiert sich der Gedanke, dass die institutionellen Akteure des politischen Systems, der Verfassung gemäß, angemessen am politischen Prozess beteiligt werden müssen. Dies zu überprüfen obliegt dem Bundesverfassungsgericht in seiner Rolle als „Schiedsrichter“ (Voigt, 2006: 71).

Darüber hinaus prüft das BVerfG aber auch, ob politische Partizipationsrechte des Bürgers sichergestellt sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Lissabon-Urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht das Recht des Bürgers auf „freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt“ aus dem grundrechtsgleichen Wahlrecht des Art. 38 I 1 GG konkretisiert (BVerfGE 123, 267). Dieses fungiert als Maßstab für die weitere Übertragung von Kompetenzen auf die EU-Ebene und soll die politischen Partizipationsmöglichkeiten der deutschen Staatsbürger im Zuge einer fortschreitenden europäischen Integration sicherstellen.

Die Frage nach der Existenz einer substanzialistischen Ausprägung der deutschen Verfassungsdogmatik lässt sich mit dem Verweis auf ein besonders charakteristisches Rechtsinstitut des Grundgesetzes beantworten (vgl. Gusy, 2006). Die in Art. 93 I Nr. 4a GG angelegte Verfassungsbeschwerde ermöglicht es dem Einzelnen, nach Erschöpfung des vorigen Rechtswegs die Verletzung von Grundrechten geltend zu machen. Daraus resultiert, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur bei Streitigkeiten zwischen den organschaftlichen Einheiten des Staates im politischen Prozess, sondern gerade auch in grundrechtsrelevanten Einzelfällen des jeweiligen Individuums entscheidet. Dabei legt es auch abwehrrechtliche Grundrechte im Verhältnis Staat zu Bürger aus und bestimmt bis zu welchem Grad Eingriffe in die individuelle Autonomie gerechtfertigt werden können. Das BVerfG selbst versteht die Verfassungsbeschwerde als „spezifische[n] Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat“ (BVerfGE 4, 27, 30). Dass die verfassungsrechtliche Zuweisung dieser Kompetenz keineswegs selbstverständlich ist, zeigt der historische Verweis auf die Verfassung der Weimarer Republik. Darin erfasste der Prüfungsmaßstab des Staatsgerichtshofs gerade nicht die Überprüfung von Gesetzen anhand von Grundrechten. Dementsprechend fehlte es auch prozessual an einem mit der Verfassungsbeschwerde vergleichbaren Institut. Damit lässt sich festhalten, dass die deutsche Verfassungsdogmatik einer substanzialistischen Konzeption folgt, die dem Bundesverfassungsgericht ein potentiell breites Entscheidungsspektrum einräumt. Der Bürger wird über das Institut der Verfassungsbeschwerde „für die Durchsetzung des Verfassungsrechts“ mobilisiert (Gusy, 2006: 210) und gibt damit ausreichend Anlässe zu verfassungsgerichtlicher Ausgestaltung und effektivem Schutz der Grundrechte in praxi. Das zeigt auch der Trend der stetig steigenden Anzahl von Verfassungsbeschwerden (vgl. Gusy, 2006: 203). Doch birgt die substanzialistische Konzeption das bereits weiter oben angerissene, grundsätzliche Problem der Begrenzung richterlicher Kompetenz. Dieser in dem Institut der Verfassungsbeschwerde verkörperte Ansatz in Kombination mit der auslegungsbedürftigen Abstraktheit der autonomieschützenden grundgesetzlichen Normen eröffnet dem BVerfG einen weiten Entscheidungsspielraum, den es auch für sich beansprucht (Gusy, 2006: 201). Denn „prinzipiell können alle Streitgegenstände [über die Reichweite autonomieschützender Grundrechte] so interpretiert werden, dass sie zu Prinzipienproblemen [vom Verhältnis von Demokratie und individueller Freiheit] werden und folgerichtig von Gerichten zu entscheiden sind“ (Kneip, 2006: 263).

Der „judicial self-restraint“ (vgl. BVerfGE 36, 1), also die vom Gericht sich selbst auferlegte Zurückhaltung, ist eine Antwort, die sich auf diese Problematik hin entwickelt hat. Daneben hat sich in der deutschen Verfassungsrechtsprechung in ähnlicher Zielrichtung die Idee von der „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“ (BVerfGE 81, 242) etabliert, die dem Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 II 2 GG entspringt (Bachof, 1955). Danach erkennt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum zu, über die Geeignetheit einer grundrechtsbeschränkenden Maßnahme zur Erreichung eines anderen legitimen Zwecks zu entscheiden (BVerfGE 110, 141). Nach dem BVerfG ist eine Maßnahme schon dann als geeignet anzusehen, „wenn sie der Zweckerreichung in irgendeiner Weise dienlich ist“ (Epping, 2007: 19; BVerfGE 30, 250). Das gesetzgeberische Ermessen ist lediglich in einem verfassungskonformen Rahmen auszuüben. Idealiter lässt dieser Rahmen mehrere Gestaltungsoptionen zu. Eine genaue Grenze verfassungsgerichtlicher Kompetenz lässt sich auch hieraus nicht ableiten, sondern ist vielmehr von der verfassungsgerichtlichen Interpretation des Grundsatzes der Gewaltenteilung im Einzelnen abhängig.

Diese Erwägungen zeigen, wie problematisch eine Abgrenzung zwischen judikativer und legislativer Kompetenz aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist. Einen aussichtsreicheren Maßstab zur Abgrenzung und damit zur Beurteilung möglicher verfassungsgerichtlicher Kompetenzüberschreitungen könnte ein politikwissenschaftlicher Zugang liefern. Eine Möglichkeit dazu bietet Sascha Kneip mit dem Begriff der Demokratiefunktionalität (2009), der im Folgenden (3.) kurz vorgestellt werden soll. Freilich kann dieser nicht als bindend für das Bundesverfassungsgericht angesehen werden, dennoch liefert er eine vielversprechende Option, verfassungsgerichtliche Urteile zu untersuchen, politikwissenschaftlich zu bewerten und zu kategorisieren, um Wege zum Umgang mit der hier dargelegten Problematik anhand einer neuen Perspektive zu finden.

3. Demokratiefunktionalität als politikwissenschaftlicher Bewertungsmaßstab verfassungsgerichtlicher Urteile

In einem ersten Schritt soll zunächst der theoretische Hintergrund und damit das Begründungsfundament des Konzepts von Demokratiefunktionalität erläutert werden. Anschließend folgt, auf der Begriffsdefinition aufbauend, die Schilderung der methodischen Vorgehensweise zur Bestimmung von demokratiefunktionalen sowie demokratiedysfunktionalen Gerichtsentscheidungen (4.).

Für den ersten Schritt soll zu Beginn eine semantische Zweiteilung des Begriffs „Demokratiefunktionalität“ in Demokratie und Funktionalität erfolgen. Denn vor allem ersterer Begriff ist keineswegs eindeutig und in der theoretischen Literatur facettenreich ausdefiniert (vgl. Schmidt, 2010). Um eine Definition von Demokratiefunktionalität vorzunehmen, muss sich somit erst darüber verständigt werden, welches Demokratiekonzept zu Grunde gelegt wird. Der „breite“ und der „enge“ Demokratiebegriff bilden zwei entgegengesetzte Pole in der theoretischen Auseinandersetzung (Campbell/Barth, 2009). Während der enge Demokratiebegriff mit der geregelten Abhaltung von Wahlen als zentrales legitimatorisches Verfahren nur eine Voraussetzung formuliert, knüpft der „breite“ Demokratiebegriff mit seinen Anforderungen auch an die Ergebnisebene des politischen Systems an (Kneip, 2006: 264). In diesem Sinne muss der Output des Systems demokratisch sein, indem er etwa auch für die Zukunft demokratische Teilhabe, etwa durch ausreichende ökonomische Ressourcen des Wahlkörpers, sichert. Allein diese Kurzbeschreibung zweier demokratietheoretischer Grundkonzeptionen zeigt die Bandbreite an Demokratieverständnissen (vgl. Schmidt, 2010). Dazwischen, wenngleich deutlich näher an einem „breiten“, als an einem prozeduralistischen Demokratieverständnis angesiedelt, ist das hier zu Grunde gelegte Modell der „eingebetteten Demokratie“ von Wolfgang Merkel (Kneip, 2006: 264). Dieses betrachtet auf der einen Seite „die Output-Dimension wünschbarer Politikergebnisse nicht als definierende Merkmale der rechtstaatlichen Demokratie“, begnügt sich aber auf der anderen Seite auch nicht mit dem Verständnis einer rein „elektoralen Demokratie“ (Merkel, 2004: 8). Gemäß Merkel beschränkt sich dieses Modell auf die Betrachtung des institutionellen Gefüges, welches zur Qualifikation als Demokratie zweifach eingebettet sein muss. Intern durch fünf Teilregime, die einander bedingen und nur im Zusammenspiel zu einem demokratischen Ablauf führen. Hierzu zählt Merkel das Wahlregime im Kern sowie politische Freiheiten, bürgerliche Rechte, horizontale Verantwortlichkeit und effektive Regierungsgewalt. Für jedes Teilregime kann dessen spezifische Wirkung im Gesamtkontext und auf die anderen Teilregime exemplifiziert werden. So bilden politische Freiheiten wie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Versammlungsfreiheit Bausteine für eine freie Willensbildung durch öffentliche Auseinandersetzung, auf dessen Grundlage dann eine Wahlentscheidung getroffen werden kann. Diese ist nur dann von Relevanz, wenn so politische Interessen parlamentarisch gebündelt und im zweiten Schritt zur Herausbildung einer Regierungsgewalt führen, die effektiv Entscheidungen für das Gemeinwesen treffen kann. Diese Dimension gerät im Zuge von Internationalisierung und Globalisierung zunehmend unter Druck. Dieses Beispiel soll genügen, um die Interdependenzen der unterschiedlichen Teilregime deutlich zu machen. Die externe Einbettung bilden drei Bedingungen, durch welche die Teilregime der Demokratie „gegen äußere wie innere Schocks und Destabilisierungstendenzen geschützt werden“ sollen (Merkel, 2004: 7). Hierzu zählen eine gefestigte Form von Staatlichkeit, eine bestehende Zivilgesellschaft sowie grundlegende ökonomische Voraussetzungen, die einerseits die Teilhabe am und andererseits das Funktionieren des institutionellen Gefüges absichern sollen (Merkel, 2004: 10).

Im Sinne der „eingebetteten“ Demokratie muss es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, die zentralen demokratischen Teilregime durch seine Urteilspraxis zu schützen, um so das Funktionieren der Demokratie abzusichern. Die besondere Herausforderung dabei ist, dass dies geschehen muss, ohne den unmittelbar legitimierten Gesetzgeber in seinen eigenen Rechten und damit das Teilregime der horizontalen Verantwortlichkeit zu beschneiden. Nur auf diese Weise werden die zentralen Bestandteile für das Funktionieren einer rechtstaatlichen Demokratie geschützt und wird die Kompetenzordnung, auch unter Legitimationsgesichtspunkten, gewahrt. Interveniert das Bundesverfassungsgericht mit einer Entscheidung in einem Bereich, der nicht zu dem aus den fünf Teilregimen bestehenden Kernbereich der „eingebetteten“ Demokratie zählt, greift es damit aus demokratietheoretischer Perspektive zu weit in den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum ein.

Dieser Rückschluss gilt jedoch nur vorbehaltlich einer Einschränkung. Diese betrifft die Berücksichtigung der Normen des Grundgesetzes, die nicht zwangsläufig mit der Aufteilung nach Funktionsbereichen im Modell der „eingebetteten“ Demokratie übereinstimmen müssen (Kneip, 2009: 309), dem BVerfG juristisch nichtsdestotrotz einen Kontrollauftrag erteilen. Das trifft etwa auf die im Grundgesetz verankerte Sozialstaatlichkeit (Art. 20 I GG) der Bundesrepublik Deutschland zu, die im vorliegenden Modell nur eine externe Voraussetzung, aber keinen Kernbereich der Demokratie selbst verkörpert. Gleichwohl muss das Bundesverfassungsgericht diese Verfassungskonzeption in seinen Entscheidungen als Grundlage mit einbeziehen. Somit wird der Entscheidungsraum des Bundesverfassungsgerichts um die in der Verfassung ausdrücklich niedergelegten Rechte und Prinzipen erweitert, die über die demokratischen Kernfunktionsbereiche hinausgehen. Das BVerfG muss auch dann intervenieren, wenn der Gesetzgeber gegen eine ausdrücklich formulierte Verfassungsnorm verstößt, auch wenn sie nicht zum demokratietheoretischen Kernbereich gehört. Diese Erwägung sollte bei der Beurteilung der Demokratiefunktionalität des Entscheidungsverhaltens des Bundesverfassungsgerichts einschränkend berücksichtigt werden.

Damit ist nachgezeichnet, was unter Demokratiefunktionalität als Maßstab zu verstehen ist. Mit welcher Methodik nun in der Einzelfallanalyse die Einordnung von Urteilen in die Kategorien „demokratiefunktional“ und „dysfunktional“ konkret vorgenommen werden soll, ist Gegenstand des nächsten Kapitels (4.).

4. Methodik zur Kategorisierung von Urteilen nach Intervention und Demokratiefunktionalität

Wie der Untertitel der Arbeit bereits deutlich macht, beschränkt sich die explorative Analyse der Einflussfaktoren anhand des beispielhaften Urteils auf eine Nicht-Intervention. Die Unterteilung in Intervention und Nicht-Intervention folgt dabei im Wesentlichen den Ideen vorangegangener Arbeiten (vgl. Kneip, 2008/2009). Dabei beschreibt der Begriff „Intervention“ Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht ein exekutives, legislatives oder anderes judikatives Handeln für verfassungswidrig erklärt. Im Fall der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann das BVerfG gem. § 31 BVerfGG dieses für nichtig erklären und so den Gesetzgeber beschränken. Dies kann prozessual z.B. im Zuge einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde geschehen, in deren Rahmen ein bestimmtes Gesetz als verfassungswidrig gerügt wurde. Von Interesse für die vorliegende Untersuchung ist jedoch der entgegengesetzte Fall. Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Maßnahme (z.B. ein Gesetz) nicht für verfassungswidrig, lässt diese bestehen und schränkt den Gesetzgeber oder anderen Akteur mithin nicht ein. Die Auswahl an Urteilen, auf die dieses Entscheidungsverhalten zutrifft, kann also relativ eindeutig an der Entscheidung der Verfassungswidrigkeitserklärung bzw. Nichtigkeitserklärung festgemacht werden.

Etwas mehr Erklärungs- und Begründungsaufwand erfordert hingegen die zweite Voraussetzung für die Urteilsauswahl. Die Demokratiedysfunktionalität eines nicht-intervenierenden Urteils ist nach Kneip anhand von vier Fragen zu beurteilen (2009: 313).

Die erste Frage bezieht sich auf die Eindeutigkeit des Wortlautes der im Urteil angeführten entscheidungserheblichen Verfassungsnormen. Die Eindeutigkeit der Verfassungsnorm entscheidet mit der zweiten Determinante, der Betroffenheit des demokratischen Kernbereichs im Sinne der „eingebetteten“ Demokratie, über die demokratietheoretisch vom Bundesverfassungsgericht zu fordernde Prüfintensität. Also letztlich über die Frage, in welchem Maße das Gericht sich im Sinne des „judicial self-restraint“ eher zurückzunehmen oder ausgreifender zum Schutz elementarer demokratischer Rechte zu entscheiden hat.

Fraglich ist damit zunächst, wie wiederum die Eindeutigkeit einer Verfassungsnorm festgestellt werden kann. Generell lässt sich sagen, dass Verfassungsnormen bereits ihrem Wesen nach abstrakter gefasst sein müssen als die hierarchisch unter ihnen angesiedelten Rechtsquellen. Denn sie müssen abstrakt-generell eine Vielzahl unterschiedlicher Fälle abdecken können und bedürfen daher weiterer verfassungskonformer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber und der Konkretisierung in gerichtlichen Entscheidungen. Trotzdem lassen sich die einzelnen Grundgesetznormen in dem Grad ihrer Eindeutigkeit unterscheiden. Eine Norm ist umso eindeutiger, desto weniger „unterschiedliche Schlussfolgerungen, Interpretationen und Ansprüche [sich aus ihr] ableiten“ lassen (Kneip, 2009: 310). Ein Argument für die Unterscheidung nach der Normeindeutigkeit liegt in der Annahme, dass ein verfassungsgerichtliches Urteil auf Basis einer eindeutigeren Verfassungsnorm durch den Verfassungsgeber demokratisch besser legitimiert ist. Hier hat das BVerfG eine klare Vorgabe, welche Entscheidungen der Verfassungsgeber in einer Sache getroffen hat. Anders ist dies bei Entscheidungen, die einer stärkeren Ausformung durch eine gefestigte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bedürfen, weil die entscheidungserhebliche Norm aus sich selbst heraus keine konkrete Entscheidung oder Entscheidungsrichtung vorgibt. Anderseits kann die Entscheidung für eine interpretationsoffenere Formulierung einer GG-Norm durchaus bewusst vom Verfassungsgeber getroffen worden sein, um der verfassungsgerichtlichen Instanz Spielraum und der Verfassung Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche Veränderungen zu verschaffen (vgl. Verfassung als „living instrument“ nach Streinz, 2014: 106). Unabhängig von legitimatorischen Erwägungen, die die Eindeutigkeit eines Verfassungstexts zu implizieren vermag, soll gelten, dass umso interpretationsoffener eine Norm formuliert ist, desto stärker sollen die „Überlegungen zur demokratischen Funktion von Gesetzgeber und Verfassungsgericht hinzutreten [...], desto stärker [soll] also zwischen dem Kernbereich der Demokratie“ und jenseits von diesem liegenden Bereichen unterschieden werden (Kneip, 2009: 310 f.). In diesem Sinne greift das Konzept der Demokratiefunktionalität als Auffangmaßstab zur Abgrenzung verfassungsgerichtlicher und gesetzgeberischer Kompetenz, wenn es an einer klar formulierten Verfassungsnorm fehlt. Dieses Kriterium dient damit auch als Ausschlusskriterium für eine Bewertung einer Entscheidung als dysfunktional. Mit anderen Worten greift das Gericht „dann nicht dysfunktional in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers ein, wenn es sich in seiner Entscheidung auf eine konkrete Verfassungsnorm berufen kann, gegen die der Gesetzgeber verstoßen hat“ (Kneip, 2009: 310). Anhand der Beispiele von Kneip, nach denen Art. 4 II GG eine relativ eindeutige und der Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG eine eher interpretationsoffene Norm darstellt, möchte ich einige Argumente für die Einordnung von Normen nach ihrer Eindeutigkeit skizzieren. Art. 4 II GG hat folgenden Wortlaut: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ In dieser Formulierung befinden sich mindestens zwei interpretationsbedürftige Begriffe. Zum ersten jener der „Religionsausübung“, in dessen Zusammenhang zu ermitteln ist, was als Religion und was anschließend unter deren Ausübung zählt. Dabei ist ein gewisses gesellschaftliches Vorverständnis von Religion, an dem sich die Auslegung des Gerichts orientieren kann, wie etwa ihr transzendentaler Bezug (Epping, 2007: 119; vgl. BVerfGE 12, 1), anzunehmen. Für die Auslegung der Ausübung einer Religion konnte das BVerfG zunächst an das „Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ anknüpfen und fasste darunter nicht nur die religiösen Bräuche, sondern auch karitative Betätigungen (Pieroth/Schlink, 2008: 126). Zum zweiten muss das Gericht konkretisieren, ab welcher Schwelle eine Störung der religiösen Ausübungshandlung vorliegt. Etwa wäre hier zu entscheiden, ob dem subjektiven Empfinden des Betroffenen im Sinne der Grundrechte als klassische Individualrechte oder einem objektiveren Maßstab mehr Gewicht zu verleihen ist. Auch hier hält sich der Interpretationsspielraum in Grenzen. Zum Ersten durch eine gewisse Vorausformung des Religionsbegriffes und der Ausübung von Religion in Anlehnung an die praktizierenden Gemeinschaften und zum Zweiten durch eine relativ geringe Optionenwahl über den vorrangig anzulegenden Maßstab bei der Beurteilung einer vermeintlichen Störung. Um dieser Argumentation zur Bewertung von Eindeutigkeit mehr Trennschärfe zu verleihen, soll in gleichem Sinne auch das Gegenbeispiel von Sascha Kneip einer vergleichsweise interpretationsoffenen Norm (vgl. 2009: 310) behandelt werden.

Der Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Während „Mensch“ und „Gesetz“ relativ eindeutige Begriffe darstellen, birgt die Anforderung der Gleichheit erhebliche Auslegungsbedürftigkeit. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht hierzu eine umfassende Rechtsprechungsdogmatik entwickelt (vgl. Epping, 2007: 295 ff.), die nicht zuletzt in der Herausbildung der „neuen Formel“ (BVerfGE 55, 72) ihren Ausdruck gefunden hat. Dabei stellt sich die Entscheidung darüber, welche Sachverhalte gleich und daher auch gleich zu behandeln sind, und welche Sachverhalte nicht „vergleichbar“ (Epping, 2007: 300) sind, als schwierig und nicht selten in beide Richtungen interpretierbar heraus.

[...]

Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Zwischen Funktionalität und Opportunismus. Was sind Erklärungsansätze für demokratie-dysfunktionales Entscheiden des Bundesverfassungsgerichts durch Nicht-Intervention?
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Sozialwissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
54
Katalognummer
V1161991
ISBN (eBook)
9783346564474
ISBN (Buch)
9783346564481
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bundesverfassungsgericht, Rechtsprechung, Demokratietheorie, Justiz, Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen System, Analyse, Justizialisierungsthese, Homosexuellen-Urteil
Arbeit zitieren
Leonard Wagenbreth (Autor:in), 2018, Zwischen Funktionalität und Opportunismus. Was sind Erklärungsansätze für demokratie-dysfunktionales Entscheiden des Bundesverfassungsgerichts durch Nicht-Intervention?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1161991

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