Mariologie von Martin Luther in seiner Maganificat-Auslegung von 1521


Diplomarbeit, 1985

37 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Mariologie im Vorfeld von Luthers Magnificat-Auslegung
1.1. Kurzer Abriss der Geschichte der Mariologie
1.2. Mariologie und Marienverehrung im 15. und 16. Jahrhundert
1.2.1. Mitwirkung Marias am Erlösungswerk
1.2.2. Verdienst Marias
1.2.3. Die Eva -Maria -Parallele
1.2.4. Anrufung Marias
1.2.5. Maria als Milderung des strengen Richters Christus
1.3. Zwei Theologen im Umfeld Luthers
1.3.1. Mariologie bei Johann von Paltz
1.3.2. Mariologie bei Johann von Staupitz
1.4. Mariologie und Marienverehrung bei Martin Luther vor

2. Luthers Darstellung Marias in der Auslegung des Magnificat
2.1. Maria als Jungfrau
2.2. Maria, die Mutter Gottes
2.3. Maria als Vorbild und Beispiel ‑ Luthers neuer Akzent
2.3.1. Maria als Beispiel in Niedrigkeit
2.3.2. Maria als Vorbild im Glauben
2.3.3. Maria als Beispiel der übergroßen Gnade Gottes
2.4. Andeutung von Konsequenzen für die Marienverehrung

3. Mariologie und Rechtfertigungslehre
3.1. Die Rechtfertigungslehre als „articulus stantis et cadentis ecclesiae“
3.2. Die Rechtfertigungslehre Martin Luthers
3.2.1. Das Geschehen der Rechtfertigung
3.2.2. Rechtfertigung allein durch Christus
3.2.3. Rechtfertigung allein aus Glauben
3.3. Die Lehre von der Rechtfertigung in der Magnificat-Auslegung
3.3.1. Der Glaube Marias
3.3.2. Die Niedrigkeit‑Marias
3.3.3. Gott wirkt allein
3.3.4. „Evangelium“ als der Kern der Rechtfertigungstheologie und als der entscheidende Inhalt des Magnificat
3.4. Die praktische Unterordnung der Mariologie unter die Christologie

4. Luthers Mariologie aus heutiger katholischer Sicht
4.1. Die veränderte Ausgangssituation in der katholischen Dogmatik
4.2. Gemeinsamkeiten mit Luther
4.2.1. Die Verbindung der Mariologie mit Soteriologie und Ekklesiologie
4.2.2. Jungfrau und Mutter Gottes
4.2.3. Niedrigkeit und Glaube Marias
4.2.4. Maria als vollkommen Erlöste
4.2.5. Maria als Typos der Kirche
4.2.6. Zusammenfassung
4.3. Protestantische Stimmen – Ökumenisches Gespräch

Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Mariologie im Vor­feld von Lu­thers Magnificat-Auslegung

Die Mario­logie Martin Lu­thers, die in dieser Arbeit unter­sucht werden soll, ist nur dann zu ver­ste­hen, wenn man sie als kon­krete histo­rische Äuße­rung eines Theo­logen ver­steht, die in einer be­stimm­ten Situa­tion ge­sche­hen ist. Für diese Unter­su­chung, die sich an der Magnificat-Aus­legung Lu­thers orien­tiert, be­deutet das, dass als ers­tes der Kon­text dar­zu­stel­len ist, aus dem heraus Luther so ge­dacht und ge­schrie­ben hat.

So soll nun in Kürze ver­sucht werden, die Mario­logie in ihrer ge­schicht­lichen Ent­wick­lung dar­zu­stel­len; danach soll dies spezi­ell auf Martin Luther und dessen persön­lichen Werde­gang be­zogen werden.

1.1. Kurzer Ab­riss der Ge­schich­te der Mario­logie

Schon im NT ist eine ge­wisse Ent­wick­lung des Marien­bildes er­kenn­bar, die sich später dann fort­setzt. Bei Paulus findet sich eine Be­mer­kung, die aber Maria nicht nament­lich er­wähnt: „Als aber die Zeit er­füllt war, sandte Gott seinen Sohn, ge­boren von einer Frau und dem Ge­setz unter­stellt … „ (Gal 4, 4). Über diese die­nende Funk­tion hinaus spielt Maria keine wei­tere Rolle für Paulus; er redet allein von Chris­tus, dem Sohn Gottes, der die Er­lösung brach­te.

Im Mk-Evangelium wird Maria eini­ge Male, dabei auch nament­lich er­wähnt. Er nennt sie „seine Mutter“ (3, 31), Jesus be­zeich­net er als „Sohn der Maria“ (6, 3). Da­rüber hinaus widmet aller­dings auch er Maria kein weite­res Inte­resse.

Mat­thäus ge­braucht für Maria die Be­zeich­nung Jung­frau (parthenos), wie in der LXX das hebräi­sche Wort 'almah (Jes 7, 14) wieder­ge­geben ist. Damit sieht er die Weis­sagung des Pro­pheten er­füllt.

Die aus­führ­lich­ste Würdi­gung er­fährt Maria in der „Kind­heits­geschich­te“ des Lk-Evangeliums. Söll er­klärt dies mit der Eigen­art des Werkes und den be­sonde­ren Zielen des Autors[1]. Die An­kündi­gung der Ge­burt Jesu (1, 26-38) und der Be­such Marias bei Elisa­beth (1, 39 ff) mit dem Lob­ge­sang Marias, dem „Magnificat“ (1, 46-55) sind die wesent­lichen Texte, die Maria her­vor­heben.

Maria wird hier mit Be­zeich­nungen be­nannt, die bis­her noch nicht zu finden waren: kecharitomene - die Be­gna­dete (1, 28), womit die Gnade Gottes, die an Maria in be­sonde­rer Weise wirkt, her­vor­geho­ben wird.

Auch die Verse 1, 26 b. 30 b drü­cken diese außer­ordent­liche Begna­dung aus. In 1, 38 nennt Maria sich selbst „dule kyriu“ - Diene­rin des Herrn, um damit ihr Ver­hält­nis zu Gott aus­zu­spre­chen. Elisa­beth schließ­lich nennt sie „die Mutter meines Herrn“ und hebt be­son­ders ihren Glau­ben her­vor (1, 43-45).

Im Magnificat spricht Maria wieder ähn­lich von sich wie be­reits vor­her: tapeinosis (Nied­rig­keit) und wie­derum dule sind die Stich­worte; Luther greift später ge­rade diese Be­griffe auf. Der Blick ist deut­lich auf Marias Er­niedri­gung und Gottes Größe ge­rich­tet; nur weil Gott an ihr wirkt, wird Maria ge­lobt werden (1, 48 f).

Die Be­deu­tung Marias liegt für Lk aber auch in der Er­fül­lung des Alten Bundes, wie Be­züge zu Jes 7, 14; Zeph 3, 14 ff; Ex 40, 34 zeigen[2]. Fest­zu­halten ist, dass im NT noch keine aus­gepräg­te und tief reflek­tierte Mario­logie zu finden ist.

Im Laufe der Kir­chen­geschich­te sind diese Texte jedoch An­lass, das Ge­heim­nis Marias tiefer zu be­leuch­ten. Schon im 2. Jhd. be­ginnen Theo­logen, die Be­deu­tung Marias in der Heils­geschich­te zu be­denken. Im Laufe des 3. und 4. Jhd. be­ginnt eine Ver­ehrung Marias sich aus­zu­brei­ten, die bei zahl­rei­chen Kir­chen­vätern nach­zu­weisen ist.[3] Mehr und mehr wird Maria eine Sonder­stel­lung vor allen ande­ren Heili­gen ein­ge­räumt, die schließ­lich zur Defini­tion des Titels „theotokos“ führt. Damit wird ihre Stel­lung Gott gegen­über in Er­wägung ge­zogen; das ist es, worin Maria einen Vor­zug hat. Spätes­tens seit dem 5. Jhd. gibt es ein Marien­fest im Kir­chen­jahr, dem bald wei­tere Feste folgen. Schon im 6. Jhd. gibt es meh­rere Marien­feste, die sich an Er­eig­nisse aus dem Leben Marias an­schlie­ßen.

„Zwi­schen 431 und 1200 wird über die ver­gan­gene geschichtsimmanente Wirk­sam­keit Marias als Mutter Jesu hinaus mehr und mehr eine gegen­warts­aktu­elle, trans­zendente Rolle der himmli­schen Herrin und Köni­gin, der geist­lichen Mutter aller Chris­ten mit für­bit­tender All­wirk­sam­keit ge­sehen und mit ver­trau­ens­voller Hin­gabe be­ant­wortet.“[4]

In immer größe­rem Masse nehmen die Marien­feste auch in der west­lichen Kirche einen festen Platz ein, wenn sie auch meist in der Ost­kirche ent­stan­den sind und dort zu­erst ge­pflegt wurden.

Das Be­denken von Er­eig­nissen um Maria, die nicht in der Schrift über­lie­fert sind, nimmt einen immer größe­ren Platz ein und be­schäf­tigt die spekula­tiven Theo­logen der Scho­lastik. Be­son­ders die Fragen der Erb­sünden­frei­heit und der leib­lichen Auf­nahme in den Himmel stehen im Mittel­punkt mario­logi­scher Kontro­versen.[5]

1.2. Mariologie und Marien­vereh­rung im 15. und 16. Jahr­hun­dert

Um Lu­thers An­liegen zu ver­stehen, ist es un­erläss­lich, sich mit der kon­kreten Ge­stalt der Mario­lo­gie sei­ner Zeit zu be­fassen. Einige von Lu­thers Äuße­rungen stel­len deut­lich eine Aus­einan­der­set­zung mit theo­logi­schen Werken dar, die er nicht selten sogar beim Namen nennt. Luther hat sich auch mit den großen Schul­fragen der Theo­logie be­schäf­tigt, doch be­han­delt er sie nicht in der Magnificat-Aus­legung. Daher sollen sie hier aus­ge­spart werden. Die meist weit ver­brei­teten An­sich­ten der Ver­kündi­gung sind es, die Luther in der Aus­legung des Lob­gesan­ges kriti­siert. Die Ver­kündi­gung und der Glaube der Chris­ten sei­ner Zeit sind die Adres­saten seines Werkes, nicht die diffi­zil den­kenden Theo­logen.

1.2.1. Mitwirkung Marias am Er­lö­sungs­werk

Die Lehre, die Maria eine Mit­wir­kung an der Er­lösung, die durch Chris­tus ge­sche­hen ist, zu­schreibt, ist schon in früher Zeit ent­stan­den. So wurden die Titel „redemptrix“ (seit dem 10. Jhd.) und „corredemptrix“ (seit dem 15. Jhd.) für Maria ein­ge­führt. Ge­meint war, dass Maria, in­dem sie Gottes Sohn jung­fräu­lich ge­boren hat und ihn in seinem irdi­schen Leben be­glei­tet hat, nun an des­sen Werk der Er­lösung mit­wirkt. Maria wird daher eine Sonder­stel­lung unter den Men­schen zu­ge­bil­ligt, da diese nicht an der Er­lösung direkt mit­wirken. „Ihre er­lö­sende Tätig­keit habe darin be­stan­den, 'die mensch­liche Natur so rein zu ge­stal­ten, dass sie zur Ver­eini­gung mit der gött­lichen in Chris­to fähig wurde'.“[6] Das macht sie höchst be­deut­sam für die Chris­ten­heit, denn ihre Heils­wirk­sam­keit liegt nicht nur in der Ver­gangen­heit.

Man be­trach­tete Maria als Für­spre­che­rin, die bei Gott macht­voll das Heil der Men­schen wirken könne. So wird ihr, mehr als den ande­ren Heili­gen, die Macht zu­ge­schrie­ben, als Mitt­le­rin den Men­schen, die sich ihr an­ver­trauen, Gnade zu­kommen zu lassen. Sie wird ge­feiert als Wein­stock, als Born des Lebens­was­sers, als Quelle des Lich­tes, als Weg des Heils, als Siege­rin über den Satan.“[7]

Diese, aber auch der zu­vor ge­nannte Titel, sind ur­sprüng­lich chris­to­logi­sche Titel. Er ist der ei­ne Mitt­ler (Hebr. 8, 6), er ist der Wein­stock (Joh 15, 1), er ist der Quell des leben­digen Was­sers (Joh 4, 7 ff). Diese Titel, die Jesus Chris­tus als den einen Er­löser be­zeich­nen, wurden unter­schieds­los auch von Maria ge­braucht. Zum Teil treibt das solche Blüten, dass Theode­rich Vrie eine Pre­digt­samm­lung mit der Formel be­ginnt: „In nomine domini et gloriosae virginis matris ejus“[8]. Der Herr und Maria - nicht Vater, Sohn und Geist!

In der fol­genden Ein­lei­tung wendet Vrie sich an Maria, die der ein­zige Ziel­punkt seiner Pre­digten zu sein scheint. Maria will er predi­gen, damit sie ihren Sohn bitte. So weit scheint Marias Mitt­ler­schaft zu gehen, dass man sich nicht direkt an Gott wendet, wenn man betet, son­dern aus­schließ­lich an Maria. Düfel, der dies er­wähnt, sieht in Vrie keinen Einzel­fall, son­dern er ver­bindet dies mit dem mario­logi­schen Pro­gramm des Augus­tiner­ordens.[9]

Gott­schalk Hollen, eben­falls ein Augus­tiner, sieht allein in den Heili­gen, vor al­lem aber in Maria den sicher­sten Schutz vor dem Ver­lust des Heils[10]. Mögen diese Auto­ren, da sie Augus­tiner sind, nicht das ganze Spek­trum der Theo­logie repräsen­tieren, so ist doch die Ten­denz der Äuße­rungen zu er­kennen: Gott und Chris­tus, so glaubt man, wirken nur über die Ver­mitt­lung von Heili­gen. Nur wenn sie Für­spra­che ein­legen, scheint Gott gnädig ge­sonnen zu sein.

1.2.2. Verdienst Marias

Die im aus­gehen­den Mittel­alter immer wieder disku­tierte Frage nach mensch­lichen Ver­diens­ten spielt auch für die Mario­logie eine Rolle. Es wurde unter­schie­den zwi­schen meri­tum de congruo und meri­tum de condigno. Wäh­rend das meri­tum de condigno[11] nur von pelagianischen Syste­men (etwa Thomas Bradwardine im 14. Jhd.) akzep­tiert werden kann, ist die Frage nach einem meri­tum de congruo[12] um­strit­ten. Immer wurde ver­sucht, Gottes Frei­heit im Schän­ken der Gnade zu wah­ren. Ga­briel Biel, der ein meri­tum de congruo für mög­lich hält[13], stellt jedoch die Heili­gen über die an­deren Men­schen. Sie gelten ihm „tamquam media­tores … propter nostram inopiam in merendo“.[14] Maria ist dabei noch­mals her­vor­geho­ben, sie kann mehr als alle ande­ren das Heil der Men­schen be­wirken, sie wird daher Mitt­le­rin der Gnaden ge­nannt.

Die Ge­fahr, wenn so von mensch­lichen Ver­diens­ten ge­spro­chen wird, ist, dass die Allein­wirk­sam­keit Gottes ein­ge­schränkt wird. Dann glaubt der Mensch, er könne sein Heil selbst wirken oder es Maria, die aber auch Mensch ist, an­ver­trauen.

1.2.3. Die Eva -Maria -Parallele

Die Auf­stel­lung der Paral­lele Eva - Ma­ria ist ein Ge­danke, der in der geist­lichen und theo­logi­schen Lite­ratur häufig be­gegnet. Der ers­te Zeuge dafür ist Justi­nus der Märty­rer, der in seinem Dia­log mit Tryphon schreibt: „Eva, welche eine un­verdor­bene Jung­frau war, ge­bar, nach­dem sie das Wort der Schlan­ge emp­fangen hatte, Sünde und Tod. Die Jung­frau Maria da­gegen war voll Glaube und Freude.“[15] Nach ihm greift Ire­näus von Lyon den Ge­danken auf.[16] Augus­tinus formu­liert dann: „Die Stolze hat er ver­achtet und die De­mütige an­gese­hen: das, was die Stolze ver­loren hat, er­hielt die De­mütige zu­rück.“[17] Noch deut­licher ist fol­gendes Zitat von ihm: „Durch eine Frau der Tod, durch eine Frau das Leben.“[18] Auch in der späte­ren Ent­wick­lung der Theo­logie lassen sich immer wieder Be­lege für diese Lehre finden.[19]

Eras­mus von Rotter­dam schließ­lich schreibt 1535 in einem Ge­bet: „Ge­grüßet seist du, Maria, wei­se­ste Köni­gin der Jung­frauen, die du uns den Fluch der törich­ten Jung­frau Eva in Segen ge­wendet hast, …“[20]

Es gilt als selbst­ver­ständ­lich, dass Maria hier mit ihrem Ver­dienst an der Er­lösung des Men­schen mit­wirkt, sie allein scheint es zu sein, die die Sünde Evas über­windet. Eine Krö­nung er­reicht das bei dem Augustiner-Eremiten Johann von Paltz, der schreibt: „Sie stand bei dem Kreuz, aber Eva stand bei dem ver­bote­nen Baum der Wol­lust. Die Töch­ter Evas stehen noch bei den ver­bote­nen Bäumen, die Töch­ter Marias stehen bei dem Baum der Pein. 0 Maria, du aller getreueste Mutter, er­lös uns von der ersten Mutter, die bei dem ver­bote­nen Baum stand.“[21]

Er­lösung ist damit zur Sache Marias ge­worden, Chris­tus scheint in Ver­gessen­heit ge­raten zu sein. Die Paral­lele Adam – Chris­tus (Röm. 5, 12 ff), in der Chris­tus als der neue Adam die Er­lösung von der Sünde des ersten Men­schen be­wirkt, spielt für Paltz keine Rolle. Selbst wenn man be­rück­sich­tigt, dass diese Theo­logen ex­treme Ver­treter ihrer Zeit sind, so ist doch fest­zu­halten, dass die pau­li­nische Paralleli­sierung von der Eva-Maria-Parallele ­in den Hinter­grund ge­drängt wurde.

1.2.4. Anrufung Marias

Die Ver­ehrung und An­rufung Marias ge­hört zu den großen Selbst­ver­ständ­lich­keiten der dama­ligen kirch­lichen Fröm­mig­keit. Düfel nennt dies das „Herz­stück aller Fröm­mig­keit“.[22]

Ga­briel Biel schreibt: „Die Kirche hat drei Arten, Hei­lige zu ver­ehren, in­dem sie an den Festen der Heili­gen deren Tugen­den mit Freude und Jubel preist, ihre Lehren und Bei­spiele ihren Söhnen zur Nach­ahmung vor­trägt und ihr Ein­schrei­ten und ihre Hilfe an­ruft.“[23] In be­sonde­rem Maß gilt das von Maria, von deren An­rufung man sich si­chere Gnaden ver­sprach. Auch Luther ruft zu­erst Maria an, als er 1503, 20-jährig, sich schwer ver­letzt. 1531 be­rich­tet er in einer Tisch­rede davon: „Ubi in periculo mortis fuit et di­xit: 0 Maria hilff! Da wer ich, inquit, auf Mariam dahin­gestor­ben! - deinde noctu in lecto vulnus disruptum ESt; ibi defecit et in­voca­vit quoque Mariam.“[24] Zeug­nis davon geben die ver­schie­denen An­rufun­gen Marias, die sich in mario­logi­schen Schrif­ten finden. Als Bei­spiele seien hier ge­nannt: „Gloriosa virgo, mater Domini, … Muli­er pulcherrima … o margarita nobilis … o Jaspis peramabilis … o rosa venera­bilis“[25] ; „De Beata Virgine“[26] ; „Gott­glei­che“[27] ; Johan­nes Schipphauer, ein Augus­tiner, wird „Beatae Virginis Mariae sine labe conceptae sum­mus amator“[28] ge­nannt.

Eduard Jacobs be­rich­tet in seiner Arbeit über das Augus­tiner-Eremitenkloster Him­mels­pforte: „Wir sehen für das durch eine ewige Lampe er­leuch­tete hei­lige Marien­bild, zu dem man wallfahrtete, Stif­tungen ge­macht; die Feier der Himmel­fahrt Mariae, von deren Für­bitte der fromme Stif­ter Trost und Gnade er­hofft, wird hier 1470 durch be­son­dere Stif­tungen ein­ge­führt.“[29]

Johann von Paltz ver­fasste seine Werke „zum Lob der Seli­gen Jung­frau“ und gilt als „höchs­ter Ver­ehrer der Seli­gen Jung­frau Maria“.[30] Ge­rade Paltz ist ein glü­hender Marien­ver­ehrer, der Maria immer wieder um die Zu­wen­dung der Gnade an­ruft.[31]

Maria hat in der An­rufung und Ver­ehrung durch die Kirche einen Stel­len­wert, der in extre­men Fäl­len über dem von Chris­tus steht. Dann ist sie al­leine es, von der der Christ sich gnä­dige Hilfe er­hofft, nicht mehr Chris­tus.

1.2.5. Maria als Milde­rung des stren­gen Rich­ters Chris­tus

Nicht selten geht die Be­vor­zugung Marias soweit, dass Maria als die barm­her­zige Mutter an­geru­fen wird, die den stren­gen Rich­ter Chris­tus be­sänf­tigen kann. So wird es zum Bei­spiel von Ambro­sius Autpertus (+784) ge­sagt: „Ich wage zu be­haup­ten, Brüder, dass wir keinen von den Heili­gen ge­funden haben, der mit seinen Ver­diens­ten so gut in der Lage ge­wesen wäre, den Zorn des ewi­gen Rich­ters zu be­sänf­tigen, wie die, die ver­diente, die Mutter eben­di­eses Er­lösers und Rich­ters zu werden.“[32] Auch Petrus Damiani, Anselm von Canter­bury und Bern­hard von Clair­vaux äußern solche Ge­danken, die von einem Mitt­ler spre­chen, der das Heil, das der ei­ne Mitt­ler Chris­tus ge­wirkt hat, ver­mit­telt.

Auch im Jahr­hun­dert der Refor­mation finden wir ent­spre­chende Aus­sagen, be­son­ders bei Johan­nes Cochlaeus und in einem Werk von Petrus Canisius. „Ob­wohl wir auf Gottes Gnade und Chris­ti Barm­herzig­keit hoffen, so ist Gott doch so über­aus erha­ben, und ein ver­zeh­rendes Feuer und Chris­tus ist der Rich­ter, der gegen die Sünder die rich­ter­liche Ge­walt aus­übt; da tun wir wohl sehr gut, zu den Heili­gen, und be­son­ders zur Mut­ter Gottes die Zu­flucht zu nehmen, damit sie Chris­tus, den Rich­ter ver­söhne und gnädig stimme.“[33]

Hier ist die Ge­fahr nicht zu über­sehen, dass Chris­tus nicht mehr als der Er­löser ge­sehen wird. Ein über­stei­gerter Marien­kult ver­schlei­ert die Rolle Chris­ti in der Er­lösung. Von daher sind die hefti­gen Reak­tionen der Refor­mation zu ver­stehen.

1.3. Zwei Theo­logen im Um­feld Lu­thers

Martin Luther trat 1505 in den Orden der Augus­tine­r-Eremiten ein. Dieser Orden hatte sich die be­son­dere Förde­rung der Marien­vereh­rung zum Ziel ge­setzt. Ver­treter des Ordens stan­den an vor­der­ster Front in der theo­logi­schen Kontro­verse um die un­be­fleckte Emp­fäng­nis Marias. Unter den Ordens­theo­logen, die Luther unter­rich­teten, sind auch Männer, die für die Prä­gung der Mario­logie Lu­thers mit­ver­ant­wort­lich sind, im posi­tiven wie im nega­tiven Sinne.

Wenn auch hier die Zu­sammen­hänge der Theo­logie und Mario­logie Lu­thers mit diesen Theo­logen nicht näher unter­sucht werden können, so sollen doch exempla­risch zwei von ihnen be­han­delt werden: Johann von Paltz und Johann von Stau­pitz. Die beiden Bei­spiele sollen zeigen, wie mario­logi­sche Äuße­rungen inner­halb des Ordens ver­schie­den sein konn­ten. Beide haben wohl einen Ein­fluss auf Lu­thers Denken ge­habt, sowohl Paltz, der von Luther heftig ab­ge­lehnt wird, als auch Stau­pitz, der Lu­thers Ge­danken sehr na­he steht.

1.3.1. Mario­logie bei Johann von Paltz

Johann von Paltz (ca. 1440 - 1511) war nach seiner Promo­tion Magis­ter Regens am Stu­dium Gene­rale des Augus­tiner-Eremitenordens ­gewor­den. In dieser Funk­tion war er mög­licher­weise in den Jahren 1506/7 Lehrer Lu­thers.

Mit Sicher­heit ist Paltz ein sehr extre­mer Ver­treter der von den Augustiner-Eremiten geförderten Mario­logie. Er gilt als „sum­mus B. V. Mariae cultor“ und Os­singer regis­triert seine Werke unter der Über­schrift: „Composuit in laudem B. virginis“.[34] Der mario­logi­sche Akzent des Ordens ge­langt hier zu einer außer­ordent­li­chen Aus­prä­gung. Hier wird deut­lich, wie die Ge­fahr einer zu stark be­tonten Mario­logie zu sehen ist. Paltz kommt zu Äuße­rungen wie der fol­genden, die das Leiden Marias in der Pas­sion be­han­delt: „Aber weil die Seele der Mutter im Leib des Sohnes war, daher emp­fing allein die Mutter den Schmerz dieser Wunde. Denn die Seele Marias war mehr im Leib des Soh­nes als im eige­nen Leib. … Denn die Seele ist nach Hugo von St. Victor dort mehr, wo sie liebt als wo sie lebt.“[35] Das Leiden am Kreuz ist also zur Sache Marias ge­worden, die Paltz auch als Er­lö­se­rin an­ruft, wie wir oben (1.2.3) ge­sehen haben.

Für unser Thema ist be­son­ders Paltz’ Stel­lung zu dem Be­griff „humi­lit­as“ von Inte­resse. Eine sei­ner Marien­pre­digten steht unter dem Thema „De Humi­li­tate glo­riose virginis Marie, qua Deum tra­xit de celis …“[36] Hier ist humi­lit­as für Paltz die Tugend der De­mut, deren Be­fol­gung Gott be­lohnt. Die Men­schwer­dung Gottes wird so allein von Maria ab­hängig ge­macht, sie ist Ver­dienst ihrer De­mut. Die Gnade ist nur inso­weit inte­ressant, als Maria durch Gnade zu dieser Tugend be­fähigt wird. Gottes Mensch­wer­dung bleibt aber Werk eines Men­schen.

Die aus­gepräg­te Hal­tung dieses Ordens­theo­logen zur Eva-Maria-Parallele ­habe ich oben (1.2.3) schon er­wähnt.

Ob nun Paltz wirk­lich Lehrer Lu­thers war oder nicht[37], spielt hier weni­ger eine Rolle. Mit Sicher­heit hat Luther Paltz ge­kannt und von seinen Auf­fas­sungen ge­wusst; damit war ihm auch diese ex­treme Mario­logie be­kannt und kann einen ge­wissen Ein­fluss auf sein theo­logi­sches Denken ge­habt haben.

1.3.2. Mario­logie bei Johann von Stau­pitz

Stau­pitz (1468–1524) war der Gene­ral­vikar der Observanten-Kongregation des Augustiner-Ere­miten-Ordens. 1522 wurde er Benedik­tine­r-Abt in Salz­burg. Einen star­ken theo­logi­schen Ein­fluss hat er auf Luther wohl nicht ge­habt, doch war er sein Seel­sorger und stand Luther so recht nahe.

Was die Mario­logie be­trifft stand Stau­pitz weit hinter Paltz zu­rück. Maria hat in seinen Werken kei­nen so heraus­ragen­den Platz. Diese Zu­rück­hal­tung übt Stau­pitz jedoch, ohne gro­ßes Auf­sehen auf sich zu ziehen. Maria scheint bei ihm deut­lich unter Chris­tus an­gesie­delt zu sein. Sie ist die Mutter des Herrn, die dem Wort ihres Sohnes ge­horsam folgt und so zur Mutter der Kirche wird.

Zum Teil steht Stau­pitz ganz in der Tradi­tion sei­ner Zeit, zum Teil geht er neue Wege, in­dem er Über­trei­bungen kriti­siert. Zum Ver­halten Marias in der Pas­sion, das von eini­gen Theo­logen als hef­tige, ver­zwei­felte Um­armung des Sohnes be­schrie­ben wird, in der Maria an der Er­lösung teil­nimmt, sagt er: „Darum soll ein jeg­licher Lieb­haber Mariae diese mehr wegen ihrer Be­schei­den­heit, Tugend und De­mütig­keit als wegen dieser Un­schick­lich­keit und Un­beschei­den­heit rühmen.“[38] Nicht ihr Werk, ihre Mit­wir­kung im Mit­leiden, son­dern ihre De­mut, in der sie sich Gott be­reit hält, soll der Christ sehen.

Noch deut­licher sagt er 1525: „ … wir wissen nicht, ob wir er­hört werden, wenn wir schon alle Heili­gen an­geru­fen haben, sind aber ganz und gar ge­wiss, dass wir er­hört werden, wenn wir an Chris­tus glau­ben, den Vater auch ohne Für­bitte bitten. Das eine ist löb­lich und zeigt den de­müti­gen Bit­ter, das andere ist ver­werf­lich und zeigt den ge­walti­gen Er­werber. Denn selbst wenn alle Heili­gen für dich bitten soll­ten, und du hät­test den Glau­ben an Chris­tus nicht, so wäre es ver­gebens.“[39]

Der Geist dieser Äuße­rungen und sogar ihre Be­griff­lich­keit stehen ohne Zwei­fel dem sehr nahe, was Luther in der Magnificat-Auslegung ­zeigen will. Sei das Werk von Stau­pitz eine di­rekte Be­ein­flus­sung Lu­thers oder nicht, mit Sicher­heit be­steht hier eine tiefe Nähe dieser beiden Theo­logen.

1.4. Mario­logie und Marien­vereh­rung bei Martin Luther vor 1521

Luther ist in einer ein­fachen Berg­manns­fami­lie auf­gewach­sen. Die Fami­lie war sicher reli­giös ge­prägt, be­son­ders durch die Ver­ehrung der Heili­gen Anna, die die Patro­nin der Berg­leute war. 1523 sagt Luther dazu: „S. Anna erat meum idolum.“[40] Er hatte sich in jungen Jahren in einem Moment der Todes­gefahr direkt an die Hei­lige ge­wandt, die als Schüt­ze­rin in Ge­fahr des Lebens galt. Weit be­deu­tender war aber der Rang, den Maria im Leben des jungen Luther hatte. Sie stand im Mittel­punkt der Ge­bete, die man immer wieder sprach, des „Ave Ma­ria“, des Rosen­kran­zes und des Magnificat, das in jeder Vesper ge­sungen wurde. Wohin immer Luther kam, gab es Kir­chen, die Maria ge­weiht waren. In der Stu­dien­stadt Erfurt gab es die „Marien­knech­te“, die die An­dacht zu den 7 Schmer­zen Mariens pfleg­ten. An der Uni­versi­tät und in den Bursen, in denen die Stu­denten wohn­ten, war die enge Ver­knüp­fung von Stu­denten­leben und kirch­licher Fröm­mig­keit eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Das ganze Leben eines Stu­denten ist so mit der Marien­vereh­rung ver­knüpft.[41]

Einen Höhe­punkt er­reicht die Ent­wick­lung mit Lu­thers Ein­tritt in den Orden der Augus­tiner-Eremi­ten. „In dem Leben des Ordens, dem Luther sich ver­schrie­ben hatte und für den Maria neben Augus­tin die be­son­dere Schutz­hei­lige war, spiel­te der Marien­dienst die be­herr­schende Rolle.“[42] Zwei Ver­treter des Ordens wurden schon be­han­delt; sie zeigen, wie sehr Maria im Mittel­punkt der Theo­logie der Augus­tiner-Eremiten ­stand. Es kann, wie zu sehen war, alle theo­logi­sche Arbeit auf Maria ge­grün­det werden. Kriti­sche Stim­men dazu blei­ben eher im Hinter­grund, auch wenn sie für Luther sicher nicht fremd und un­bedeu­tend waren.

Mit seiner Ein­klei­dung und Pro­fess wird dem jungen Luther immer wieder aus­drück­lich diese Haupt­auf­gabe an­ver­traut: Maria zu ver­ehren. Er ver­spricht dem all­mäch­tigen Gott, der seli­gen, all­zeit jung­fräu­lichen Maria und dem Prior des Klos­ters den Ge­horsam.[43] Maria, so wird ge­betet, soll ihn würdig machen, sie zu loben.

Im Stun­den­gebet des Klos­ters finden sich täg­lich meh­rere große Ab­schnit­te, die sich an Maria wenden. Sie ist die allei­nige Hoff­nung der Sünder. Auch das Stu­dium theo­logi­scher Stan­dard­werke (die Sen­tenzen des Petrus Lombardus, Werke von Ga­briel Biel und von Augus­tinus) steht ganz im Zei­chen Marias. Immer wieder wird Maria be­han­delt, wird sie den Gläu­bigen ge­pre­digt. Auch bei seiner Rom­wall­fahrt 1510 ist Maria das Haupt­ziel für Luther.

In Lu­thers Lehr­tätig­keit zeich­net sich zum ers­ten Mal ab, wie sich seine Ein­stel­lung zur traditi­onel­len Mario­logie ändert. In der Psal­men­aus­legung von 1513/15 legt Luther gro­ßen Wert darauf, Gottes Wirken durch nichts ab­zu­werten. „Hier wird (1513/15!) Lu­thers Hal­tung zur Marien­vereh­rung … in nu­ce er­kenn­bar.“[44]

Mehr und mehr wird das Magnificat der Text, auf den er seine neue mario­logi­sche Sicht be­zieht. Be­son­ders das Stich­wort „humi­lit­as“ wird für ihn der Aus­gangs­punkt, das Zu­rück­treten mensch­li­cher Leis­tung im Angesicht Gottes zu themati­sieren. Er äu­ßert sich in seiner Römer­brief-Vor­lesung schon ganz ähn­lich wie später in der Magnificat-Auslegung.[45] „Man hat … das Ge­fühl, dass hier eine Welt zu­sammen­bricht. Es ist ein Augen­blick, in dem etwas neues her­vor­springt.“[46]

Schon hier ge­schieht in der Aus­legung der Verse des Magnificat zweier­lei: Das theo­logi­sche Bild Marias wird korri­giert, zu­gleich wird Gottes Han­deln er­läu­tert. Dass ge­rade die Römer­brief-Vorle­sung, die den Kern der reformato­rischen Theo­logie be­rührt, mit Hil­fe des Magnificat vor­geht, ist kein Zu­fall.

Luther ge­langte in seinem theo­logi­schen For­schen immer mehr zu mario­logi­schen An­sich­ten, die mit der herr­schenden Mei­nung nicht leicht ver­ein­bar waren. Die Ver­ehrung Marias soll zurückge­nommen werden, man soll da­gegen Chris­tus, in dem Gott sein Heil wirkt, mehr ehren. Die Äuße­rungen, die Luther vor 1521 zu diesem Thema macht, fasst er in seiner Magnificat-Auslegung zusammen. Sie wird nicht zum mario­logi­schen Stan­dard­werk, wie das bei ande­ren Theo­logen der Fall war, son­dern be­han­delt in ihrer Mitte das Heils­werk Gottes.

2. Luthers Darstellung Marias in der Auslegung des Magnificat

Die Magnificat-Auslegung von 1521 ist eines der großen Werke Luthers aus den Jahren der Reformation. In ihr wird Maria ganz anders gezeigt, als dies in der damaligen Kirche sonst üblich war. Für Luther ist das Magnificat ein Lied, in dem Maria zurücktritt und Gott zur Geltung kommt. Wenn Luther hier Maria erwähnt, so meistens, um ein Bild von ihr, das die Gläubigen haben, zu korrigieren. Sie soll nicht um ihrer selbst willen behandelt werden, sondern im Blick auf Gottes Heilswirken, das an ihr offenbar wird.

Im Folgenden geht es darum, das Bild zu zeigen, das Luther von Maria vermittelt. Immer deutlicher wird dabei der Bezug zum eigentlichen Kern der Theologie aufscheinen.

2.1. Maria als Jungfrau

Der Glaube, dass Maria zeit ihres Lebens Jungfrau war und blieb, ist ein Gedanke, den Luther nie aufgab. Er stützt sich dabei vorwiegend auf die Schrift, die Maria eine Jungfrau (parthenos) nennt. Er verteidigt auch heftig die Übersetzung des hebräischen 'almah in Jes 7, 14 als parthenos, wie es in LXX geschieht. Luther ist davon überzeugt, dass damit eine Jungfrau in unserem heutigen, biologischen Sinne gemeint sei.[47]

Diese aus der Schrift hergeleitete Lehre dient bei Luther ganz der Christologie. Durch diese Art der Geburt soll Jesus vor der Sünde bewahrt werden. Daher musste die Mutter des Messias eine Jungfrau sein, „propter honorem filii“[48]. Luther geht dabei von einer Variation der augustinischen Erbsündenlehre aus, die Erbsünde werde im Geschlechtsakt der Zeugung weitergegeben[49]. Auch in der Magnificat-Auslegung schreibt Luther solches: „Zweitens folgt daraus, dass dieser Same Abrahams nicht auf natürliche Weise von Mann und Weib geboren werden durfte; denn diese Art der Geburt ist verflucht und gibt lauter verfluchte Frucht.“[50]

Da gemäß der Weissagung ein „Same Abrahams“ als Messias erscheinen sollte, bedarf es einer natürlichen Geburt. In der Wahl Marias wird von Gott beides berücksichtigt: Sie empfängt ohne Geschlechtsakt, also ohne die Erbsünde weiterzugeben, und doch wird ihr Kind vollkommen natür­lich als Nachkomme Abrahams geboren[51]. Luther begibt sich damit schon in theologische Erwä­gungen, die nicht mehr allein die Schrift zur Grundlage haben.

Bei dem Bekenntnis der Jungfrauengeburt geht es Luther darum, die natür­liche Geburt wie die wahre Jungfräulichkeit festzuhalten. Eine Auslegung, die diese Aussage der Schrift rein kerygma­tisch versteht, ohne dass ein historisches Faktum zugrundeliegt, ist für Luther undenkbar[52].

Luther hebt hervor, dass diese Jungfrauschaft Marias nicht ihre Tugend oder ihre Leistung ist. „Sie hat sich weder ihrer Jungfrauschaft noch ihrer Demut gerühmt, sondern einzig des göttlichen Ansehens.“[53] In einer Predigt, die Luther 1521 während der Arbeit an der Magnificat-Auslegung hielt, sagt er‑ „Auch die heilige Mutter Gottes ist mit ihrer Jungfrau­schaft oder Mutterschaft nicht fromm oder selig geworden, sondern durch den Willen des Glaubens und durch die Werke Gottes und nicht mit ihrer Reinheit oder anderen Werken.“[54] Hier wird schon deutlich, wie Luther mehr und mehr diese Aussage in Beziehung zur Rechtfertigungstheologie setzt. Von der damals üblichen katholischen Auslegung des Magnificat entfernt er sich damit; dort war es üblich, die Jungfrau­schaft als Tugend der Reinheit Maria zuzuschreiben.

2.2. Maria, die Mutter Gottes

Für Luther ist der Titel „Mutter Gottes“ ein wesentliches Attribut Marias. Auch wenn die Schrift dazu direkt nichts sagt, so bezieht er sich dennoch auf ihre Autorität, indem er Lk 1, 32.43; 2, 11; Gal 4, 4 heranzieht[55]. Das Konzil von Ephesos (431) hebt Luther lobend hervor, da es den Titel „Theoto­kos“ (Gottesgebärerin) als Anrufung offiziell gestattete[56]. Er begründet so den Titel „Mutter Gottes“ auch noch 1543[57]. Eine Leugnung dieser Lehre kam für Luther nie in Frage. Stakemeier schreibt sogar: „ … hic fundamentum totius Mariologiae omniumque aliarum praerogativarum Beatae Virginis vidit.“[58]

In der Magnificat-Auslegung arbeitet Luther deutlich heraus, warum ihm diese Lehre so wichtig ist[59]. Das was in diesem Titel ausgesagt ist, ist für Luther Grund der höchsten Ehre Marias. Sie ist über alle Menschen erhaben, „weil sie mit dem himm­lischen Vater ein Kind, und zwar ein solches Kind hat.“[60] Die Ehre Marias hat also ihren Grund allein in der Geburt dieses Kindes, welches Gottes Sohn ist. Die Inkarnation ist für ihn das „große Hauptwerk aller Werke Gottes“[61]. „ Durch die Geburt des Gottessohnes gewinnt Maria die einmalige Bedeutung, die ihr unter allen Menschen zukommt.“[62] Da dieses Kind der Erlöser ist, kommt auch ihr Ehre zu.[63]

Luther will diese Ehre nicht isoliert betrachten, sondern richtet den Blick auf ihren Ursprung. „Sie schriebt es auch ganz der Gnade Gottes, nicht ihrem Verdienst zu, … Wie sollte eine Kreatur wür­dig sein, Gottes Mutter zu sein ?“[64]

In der Theologie der Zeit Luthers war es allerdings üblich, von Marias Würdigkeit zu sprechen. Abschätzig meint er, „manche Scribenten“ schwatz­ten davon[65]. Er selbst sieht hier allein Gott am Werk, der ohne Zutun eines Menschen diese Wunder vollbracht hat. Maria zeigt sich als die nied­rige Magd, die sich an Gottes Wirken freut, ohne sich selbst etwas davon zuzuschreiben. Maßgeb­lich ist Maria nur als Vertreterin der Mensch­heit, nicht in ihrer Leistung.

2.3. Maria als Vorbild und Beispiel ‑ Luthers neuer Akzent

Luther lehnt mehr und mehr die traditionelle Mariologie ab. Für diese war es üblich, von den Ver­diensten Marias und ihrer großen Leistung zu sprechen.[66] Luther dagegen behandelt nicht mehr solche Inhalte, sondern er stellt Maria als Vorbild in ihrer Haltung und als Beispiel des gött­lichen Wirkens dar. Im Mittelpunkt steht es, die Wirkung des Heilshandelns Gottes an Maria zu zeigen.

2.3.1. Maria als Beispiel in Niedrigkeit

In der Magnificat-Auslegung greift Luther das Stichwort „humilitas“ (Lk 1, 48 Vg) auf. Er verlässt die reine Textinterpretation und erklärt erst sein Verständnis des Begriffes. Besonders setzt er sich mit den Theologen auseinander, die in der humilitas eine Tugend sehen, die der Mensch als Leistung vor Gott vorweisen kann. Dann erst wird gezeigt, wie Maria, indem sie dieses Lied singt, wahre humilitas zeigt.

2.3.1.1. Humilitas

Im AT bezeichnet der Begriff „Niedrigkeit“ die armen, Jahwe-treuen Kreise Israels. „Arme“ und „Fromme“ wurden fast synonyme Begriffe. Ähnlich begegnet der Begriff auch im NT.

Die Entwicklung des Begriffes im Mittelalter ist für diese Untersuchung besonders interessant, da dies die direkte Voraussetzung der Äußerungen Luthers ist.

Bei Bernhard von Clairvaux ist humilitas die „virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipsi vilescit.“[67] In der Selbsterkenntnis wird dem Menschen seine ganze Schwachheit bewusst. Diese Haltung wird zur Voraussetzung der Gottesschau. „Gereinigt in seinem Herzen durch diese aktive Erkenntnis von sich und jedem Menschen, disponiert sich der Mensch zur Erkenntnis Gottes in der Kontemplation.“[68] Die Gefahr eines solchen Verständnisses wird hier ersichtlich: die Selbster­kenntnis und die Demut können leicht als Leistung des Menschen verstanden werden, mittels derer er sich die Gottesschau erwerben kann.

Thomas von Aquin führt den Gedanken weiter aus und hebt die Unterwerfung unter Gott hervor, die eine Frucht der humilitas ist.[69]

Bei verschiedenen Autoren des ausgehenden Mittelalters, besonders auch bei Anselm von Can­terbury, ist humilitas eine sehr bedeutende Einstellung des Menschen. Für Savonarola (+1498) ist die Unterwerfung unter Gott „le degré suffissant de l'humilité pour le salut.“[70]

Für die mystischen Theologen schließlich wird die humilitas „eine der unaufgebbaren Bedingungen für das kontemplative Leben.“[71] Auch Gerson, den Luther sehr schätzt, stellt humilitas ganz in die­sem Sinne dar. Sie ist Tugend, die der Mensch anstreben soll, um der göttlichen Nähe teilhaft zu werden.

Luther bezieht klar Stellung gegen diese Ansichten. Für ihn ist das Wesentliche an humilitas nicht ein Hinaufsteigen zu Gott, sondern eine Haltung und ein Zustand des Menschen, die von Gott gnädig angesehen werden. Diese Niedrigkeit soll der Mensch willig annehmen.[72]

[...]


[1] Söll 14

[2] Sie werden be­han­delt bei Lau­ren­tin 318 f

[3] Zum Bei­spiel Ire­näus von Lyon, Athana­sius, Ambro­sius u. a. Vgl. LThK² Bd. VII, Sp.78

[4] H. M. Köster, ebd. Sp. 78

[5] Söll 158 – 177

[6] Lansemann 113. Lansemann be­legt die von ihm zitier­ten Stel­len nicht.

[7] Lansemann 113

[8] 32 Marien­pre­digten aus dem Jahr 1414; Düfel 36

[9] Düfel 136 f

[10] Düfel 137

[11] Ge­meint ist mit dem Be­griff ein Ver­dienst des Men­schen, der damit gleich­rangig mit Chris­tus zur Er­lösung bei­trägt.

[12] Dies ist das Ver­dienst, das der Mensch rela­tiv zu seiner Schwä­che vor Gott dem Ver­dienst Chris­ti hin­zufü­gen kann.

[13] Ober­man 265

[14] Lansemann 76

[15] Justi­nus, Dial. 100, 5 (PG 6, 709 C - 712 A)

[16] Dem.evang. 33 (BKV² Iren.II, 606); Adv.haer. V,19,1 (PG 7, 1175); III,22,4 (PG 7, 958 ff)

[17] Augus­tinus, Magnificat-Aus­legung MSL 40, Sp. 1139

[18] De Agone christiano, in: Augustini Opera (Migne), Bd. VI, Sp. 302

[19] Düfel 61

[20] Desiderii Erasmi Roterodami opera omnia, Bd. 5, Sp. 1200

[21] Coelifodina, Augs­burg 1507, Bogen a iiij; sprach­lich adap­tiert vom Ver­fasser.

[22] Düfel 33

[23] Lansemann 74

[24] WA Tisch­reden 1, Nr. 119 vom 30. 11. 1531

[25] An­rufung Marias in der Ein­lei­tung zu den 32 Marien­pre­digten von Theode­rich Vrie (1414)

[26] Titel eines Pre­digt­bandes von Gott­schalk Hollen, um 1500

[27] Düfel 38

[28] Düfel 38

[29] Düfel 38

[30] So Os­singer am Be­ginn seines Ver­zeich­nisses der Werke von Paltz. Düfel 39

[31] Düfel 39 ff

[32] Eine Homi­lie, die Alkuin zu­ge­schrie­ben wurde; heute Ambro­sius Autpertus zu­er­kannt. PL 101, 1306

[33] De Maria Virgine incomparabili et Dei genitrice sacrosancta libri quinque. (Über­setzt von K. Telch. Warnsdorf 1933, 532)

[34] Düfel 39

[35] Coelifodina, Augs­burg 1507, Bogen Jii

[36] ebd., Bogen Hi

[37] Vgl. zu diesem Pro­blem die Aus­füh­rungen und Lite­ratur­hin­weise bei Düfel 43 - 45

[38] Johann von Staupitzens sämt­liche Werke (ed. Knaake), Pots­dam 1867, 34 f

[39] ebd. 128 f

[40] WA 36, 388, 28

[41] Düfel 33 f

[42] Düfel 36

[43] Düfel 57

[44] Düfel 72

[45] Düfel 74 - 76

[46] Georg März, Der vor­reforma­torische Luther, Mün­chen 1928, 53

[47] Stakemeier 429

[48] Stakemeier 428; vgl. 433 zu einer Predigt von 1543

[49] Stakemeier 429; Pesch, Frei sein 146

[50] 598, 23 - 25

[51] 598 f

[52] Vgl. dazu Brederecke 158 mit den Anm. 6a und 7; Helmut Riedlinger, Zum gegenwärtigen Verständnis der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria. In: Theologie und Glaube 69 (1979), 22 - 61

[53] 561, 15 f

[54] WA 7, 809, 10

[55] WA 50, 591 f

[56] DS 252

[57] „Vom Schem Hamphoras und dem Geschlechte Christi“, WA 53, 642

[58] Stakemeier 426

[59] 572 f

[60] 572, 26 - 30

[61] 595, 30

[62] Meinhold 46

[63] Courth 281

[64] 573, 4 - 7

[65] 573, 7 - 15

[66] Vgl. oben die Ausführungen und Belege in Abschnitt ‎1.2 der Arbeit.

[67] Dictionnaire de Spiritualité, „humilité“, Sp. 1164

[68] ebd. 1165

[69] ebd. 1167

[70] ebd. 1171

[71] ebd. 1172

[72] Gerdes 104. Thomas v. Aquin verwahrt sich auch gegen ein Missverständnis des Begriffes humilitas (STh II, 2 q 161 a 1 ad 2)

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Mariologie von Martin Luther in seiner Maganificat-Auslegung von 1521
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Dogmatisches Seminar)
Note
1
Autor
Jahr
1985
Seiten
37
Katalognummer
V11623
ISBN (eBook)
9783638177337
Dateigröße
504 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit ist einer Kirchlichen Prüfungskommission vorgelegt worden, daher die Bezeichnung Zulassungsarbeit zur kirchlichen Hauptprüfung - Studiengang und Prüfung sind gleichwertig mit Diplom.
Schlagworte
Luther Rechtfertigung Maria Ökumene
Arbeit zitieren
Christof Heimpel (Autor:in), 1985, Mariologie von Martin Luther in seiner Maganificat-Auslegung von 1521, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11623

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