Einfluss institutioneller Tagesbetreuung auf die Mutter-Kind-Bindung bei Kindern


Diplomarbeit, 2008

71 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung
1.1 Darstellung der Thematik
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Struktur der Arbeit

2. Bindungsbegriff und Bindungstheorie
2.1 Definition des Bindungsbegriffs
2.2 Die Bindungstheorie
2.3 Bindungsverhalten
2.4 Die Mutter- Kind- Interaktion
2.5 Methoden zur Beobachtung von Bindungsverhalten
2.5.1 Der Fremde- Situations- Test (FST)
2.5.2 Der Attachment Q – Sort (AQS)
2.6 Bindungsqualität

3. Kindertagesbetreuung in Deutschland
3.1 Verschiedene Tagesbetreuungsformen im Vergleich
3.2 Versorgungsquote des institutionellen Betreuungsangebots
3.3 Inanspruchnahme des institutionellen Betreuungsangebots
3.4 Zur Qualität der Tagesbetreuungsangebote
3.5 Der Eintritt in die Fremdbetreuung – Ein Eingewöhnungsmodell
3.6 Auswertung der Situationsanalyse

4. Einfluss der Fremdbetreuung auf die Mutter- Kind- Bindung
4.1 Die NICHD Studie
4.1.1 Die Teilnehmer und der allgemeine Aufbau der Studie
4.1.2 Messzeitpunkte und Themenbereiche der Studie
4.1.3 Messzeitpunkte und eingesetzte Instrumente der Studie
4.1.4 Weitere Faktoren der Studie
4.1.5 Grundthesen der Studie
4.1.6 Aussagen über die Fremdbetreuung
4.2 Forschungsergebnisse
4.2.1 Quantität der Betreuungszeit
4.2.2 Qualität der Betreuung
4.2.3 Bedeutung von Familienfaktoren
4.2.4 Individuelle Unterschiede
4.2.5 Auswertung

5. Fazit

Literatur- und Abbildungsverzeichnis

1. Einführung

1.1 Darstellung der Thematik

Viele Frauen, nicht nur in Deutschland, haben heute bestimmte Berufsziele und möch- ten diese auch neben ihrer Mutterschaft nicht mehr selbstverständlich aufgeben. So konnte man bereits in den letzten zwei Jahrzehnten beobachten, dass immer mehr Frauen nach der Geburt eines Kindes rasch wieder in den Beruf zurückkehrten. Die stärkste Erhöhung der Erwerbsquote zeigte sich dabei bei Müttern, deren Kinder zwischen 3 und 6½ Jahre alt waren.

Zunehmend mehr Mütter mit jüngeren Kindern streben in den Beruf zurück und die maximal zustehende Elternzeit wird immer seltener vollständig in Anspruch genommen.[1] In den USA beispielsweise lag bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts die Quote aller Mütter mit Kindern im Altern von unter 12 Monaten, die berufstätig waren, bei 58%.[2]

In Deutschland entwickelt sich die Lage mit einer ähnlichen Tendenz. Eine Untersu- chung ergab, dass während der vergangenen 50 Jahre eine deutliche Steigerung der Anzahl erwerbstätiger Mütter stattgefunden hat. Diese Entwicklung wird in Tabelle 1 dargestellt. Während 1961 etwa 34,7% aller Mütter mit Kindern im Alter unter 18 Jahren berufstätig waren, so ist die Zahl bis 1991 auf fast 60% angestiegen. Allein in den Jahren 1990 bis 1991 stieg die Anzahl erwerbstätiger Müttern um fast zehn Prozent an. Auch der Zeitpunkt des Wiedereintritts in die Erwerbstätigkeit liegt heute deutlich früher. 1961 waren 29,7% aller Mütter mit Kindern unter 6 Jahren erwerbstätig, 1991 waren es bereits 50,1 %.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung1: Erwerbstätigkeit von Müttern[3]

Im Jahr 2000 lag die Zahl der erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter drei Jahren in den westlichen Bundesländern bei etwa 29%, im Osten waren sogar mehr als 40% der Frauen wieder berufstätig.[4]

Besonders interessant ist die Entwicklung in Deutschland, da hier gespaltene Entwick- lungen und Einstellungen in Ost- und Westdeutschland festzustellen sind. Lieselotte Ahnert befasste sich in ihrem Buch „Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren - Theorien und Tatsachen“ eingehend mit dieser Entwicklung und befand, dass in den alten Bundesländern die institutionelle Tagesbetreuung von unter Dreijährigen eher ablehnend behandelt wird, während diese in den neuen Bundesländern schon seit Jahrzehnten integriert ist.[5] Dennoch befanden sich im Jahr 2005 etwa 39% aller Kinder unter drei Jahren in Deutschland in einer Kindertagesbetreuung.[6]

Mit dieser Tendenz kommt der Frage, ob die mütterliche Berufstätigkeit und der damit verbundene frühe Eintritt in die Fremdbetreuung ein Risiko für die Entwicklung des Kindes darstellt, eine wachsende sozialpolitische Bedeutung zu.

Die Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren stellt dementsprechend ein in den Medien und psychologischen Untersuchungen vielfach diskutiertes Thema dar. Das Bild, wel- ches in den vergangenen Jahren entstanden ist, basiert unter anderem auf den diskrepanten gesellschaftlichen Positionen und Wertungen bezüglich der Vereinbarkeit von Elternschaft und beruflicher Tätigkeit sowie den unterschiedlich definierten Kindheitskonzepten und Sozialisationstheorien. Diese Theorien haben im Laufe der Zeit zu zwei gegensätzlichen Grundthesen geführt.

Demnach kann einerseits die außerfamiliäre Tagesbetreuung zu Entwicklungsrisiken und sozialen wie emotionalen Störungen führen. Da der frühe Eintritt in eine Fremdbetreuungssi- tuation für Kinder heutzutage oft in die Entwicklungszeit der ersten Bindungsbeziehung eines Kindes fällt, besteht die Sorge, dass im Sinne der Hospitalismusforschung der Eintritt in eine

Fremdbetreuungssituation, wie beispielsweise der Einritt in eine Kinderkrippe, umso schädli- cher für die psychosoziale Entwicklung sein kann, je früher dieser stattfindet.[7] Andererseits kann sie aber auch insbesondere die sozialen und kognitiven Entwicklungsmög- lichkeiten der Kinder fördern.[8]

Vor allem im angloamerikanischen Raum wurden in vergangenen 25 Jahren vor dem wissenschaftlichen Hintergrund eine Reihe von Studien durchgeführt, um sich ein Bild vom Einfluss der Fremdbetreuung auf die frühkindliche Entwicklung des Kindes machen zu kön- nen. Eine Studie ist dabei besonders hervorzuheben: Sowohl Befürworter als auch Gegner des frühen Krippeneintritts berufen sich im Wesentlichen auf die Forschungsergebnisse der so genanntenNational Institute of Child Health an Human Development– kurz NICHD Studie. Diese Längsschnittuntersuchung wurde im Zeitraum von 1991 bis 2005 in den USA durchge- führt. In zehn US- amerikanischen Bundesstaaten wurden über 1300 Kinder und deren Mütter von der Geburt an bis einschließlich der sechsten Schulklasse begleitet und beobachtet. Wäh- rend der ersten von insgesamt vier Phasen untersuchte die NICHD Studie schwerpunktmäßig den Einfluss von Fremdbetreuung auf die Bindungssicherheit der Kinder.

1.2 Ziel der Arbeit

Die Tatsache, dass in der heutigen Zeit und unter den derzeitigen gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen, denen Familien in Deutschland und in vielen anderen westlichen Ländern ausgesetzt sind, Kinder immer früher und für immer längere Zeit außer- familiär betreut werden, gibt Anlass dazu, die vorherrschende Situation der Kinder unter drei Jahren näher zu betrachten und auch den derzeitigen Forschungsstand zu untersuchen.

Diese Arbeit beschreibt die internationale Diskussion um die Chancen und Risiken der außerfamiliären Betreuung. Dazu soll einerseits die derzeitige Situation des Tagesbetreuungs- angebots in Deutschland ausführlich dargestellt werden, andererseits sollen die entwicklungs- psychologischen und sozialen Folgen eingehend anhand der wichtigsten Forschungsstudien und deren Ergebnisse betrachtet werden. Die vorhandenen Studien werden dabei besonders im Hinblick auf den Einfluss der institutionellen Tagesbetreuung auf die Mutter- Kind- Bindung untersucht. Die Grundfrage, die sich dabei stellt, ist, ob sich die oft- mals extensive Fremdbetreuung negativ auf die Entwicklung des Kindes und seine Beziehung zu seiner Mutter auswirken kann.

1.3 Struktur der Arbeit

Die vorliegende Diplomarbeit ist in insgesamt 5 Hauptkapitel untergliedert. In dem vorliegenden ersten Kapitel wird der Leser in die Thematik eingeführt. Außerdem werden Ziel und Struktur der Arbeit dargestellt.

Das folgende Kapitel 2 führt den Bindungsbegriff und die Bindungstheorie ein und gliedert sich dabei in vier Unterkapitel. Das erste Unterkapitel beschäftigt sich mit der Bin- dungstheorie im Allgemeinen. Es wird kurz erläutert, was unter dem Begriff Bindung zu verstehen ist, woran man diese erkennt und wie sie sich entwickelt. Das Kapitel 2.2 baut auf dem vorangegangen Begriff von Bindung auf und geht speziell auf die Mutter- Kind- Interak- tion und die spezielle Bedeutung der Mutter für die Entwicklung einer Bindungsbeziehung ein. Die Bindungsforschung hat verschiedene Methoden entwickelt, mit deren Hilfe Bindung erfasst werden kann. Zwei der bedeutendsten Methoden sollen in Kapitel 2.3 erläutert werden. Abschließend werden im vierten Unterkapitel die vier verschiedenen Bindungstypen vorge- stellt, welche sich durch die vorgestellten Methoden bestimmen lassen.

Basierend auf den im zweiten Kapitel erarbeiteten Grundlagen behandelt das dritte Kapitel die Kindertagesbetreuung in Deutschland. Dabei gliedert es sich in fünf Unterkapitel. Das erste Unterkapitel geht auf die verschiedenen Formen von Tagesbetreuung ein, die Kindern unter drei Jahren in Deutschland zur Verfügung stehen. Danach wird in Kapitel 3.2 beschrieben, wie sich das Versorgungsangebot in Deutschland für Kinder unter drei darstellt. Hierzu werden diverse statistische Untersuchungen herangezogen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der unterschiedlichen Entwicklung zwischen Ost- und Westdeutschland. Das dritte Unterkapitel beschreibt, wie das deutsche Fremdbetreuungssystem in Anspruch genommen wird. Das Kapitel 3.4 beschreibt Qualitätsmerkmale, die eine gute Tagesbetreuungsform aus- machen. Abschließend zu diesem Themenkomplex beschreibt das Kapitel 3.5 ein Modell, welches in Deutschland primär für den Eintritt in die Kindertagesbetreuung eingesetzt wird, um den Kindern den Eintritt zu erleichtern. Das sechste Unterkapitel fasst die wichtigsten Aspekte des dritten Kapitels noch einmal kurz zusammen.

Das vierte Kapitel dieses Themas ist in drei Unterkapitel gegliedert und geht genauer auf den Einfluss der Fremdbetreuung auf die Mutter- Kind- Bindung ein. Dabei wird auf ver- schiedene Studien, insbesondere jedoch auf die amerikanische NICHD- Studie zurückgegrif- fen. Die Rahmenbedingungen der Studie werden in Kapitel 4.1 detailliert vorgestellt. Die NICHD Studie hat in den vergangenen 16 Jahren die Forschung im Bereich der frühkind- lichen Entwicklung im Zusammenhang mit früher Fremdbereuung maßgeblich beeinflusst und ist somit eine wichtige Grundlage dieser Arbeit. In Kapitel 4.2 werden im Wesentlichen die soziographischen Daten der Probanden vorgestellt. Dabei wird gleichzeitig ein Bild über die Betreuungssituation amerikanischer Kinder unter drei Jahren vermittelt. Das dritte Unter- kapitel ist in weitere vier Unterkapitel gegliedert und geht auf die Forschungsergebnisse

sowohl der NICHD Studie, als auch anderer internationaler Studien ein. Dabei lassen sich verschiedene Aspekte der Fremdbetreuung, wie z.B. der Quantität der Betreuungszeit, der Qualität der Betreuung, verschiedene Familienfaktoren und individuelle Unterschiede zwischen den Kindern, unterteilen. Diese werden im Einzelnen vorgestellt und zuletzt in einer Auswertung zusammengestellt.

Im abschließenden Kapitel 5 werden die in den Kaptiteln 2 bis 4 dargestellten Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und kritisch betrachtet.

2. Bindungsbegriff und Bindungstheorie

Der BegriffBindungsteht mit weiteren Begriffen, wie z.B. Bindungsverhalten,BindungstheorieundBindungsqualitätin Zusammenhang. Um sich ein Bild dieses Zusam- menhangs machen zu können, sollen die einzelnen Begriffe und deren Entwicklung im Folgenden zweiten Kapitel näher beschrieben werden. Vor allem der Mutter- Kind- Bindung, deren Entwicklung und den verschiedenen Bindungstypen, welche sich durch unterschiedliche Bindungserfahrungen ergeben, werden in diesem Abschnitt besondere Be- deutung beigemessen.

2.1 Definition des Bindungsbegriffs

Der Begriff „Bindung“, aus dem Englischen „attachment“ ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen zwei Menschen. Eine besondere Form der Bindung ist jene, die ein Neugeborenes zu seinen Eltern, insbesondere zur Mutter, oder ähnlichen Bezugspersonen aufbaut. Dabei hat sich die Bindung im Laufe der Evolution entwickelt, um das Überleben der Spezies zu sichern. Das Bindungsverhalten sorgt dafür, dass sich ein Kind nicht in Gefahr begibt oder verloren geht, indem es das Fürsorgeverhalten des Erwachsenen aktiviert.[9] Die menschliche Bindung hat somit auch die Funktion dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, wenn es unter emotionaler Belastung an die Erschöp- fung seiner eigenen Ressourcen gelangt und auf die Unterstützung und Fürsorge einer stärke- ren Person angewiesen ist.[10]

Besonders treffend haben Ainsworth & Bell den Bindungsbegriff folgendermaßen be- schrieben:„Bindung kann definiert werden als das gefühlsmäßige Band, welches eine Person oder ein Tier zwischen sich selbst und einem bestimmten anderen knüpft – ein Band, das sie räumlich verbindet und das zeitlich andauert. Kennzeichnend für Bindung ist ein Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, einen bestimmten Grad an Nähe zu dem Objekt der Bindung herzustellen und aufrechtzuerhalten, was, je nach den Umständen, von nahem körperlichen Kontakt bis zur Kommunikation über größere Entfernungen reichen kann. Bindungsverhal- tensweisen sind solche Verhaltensweisen, die Nähe oder Kontakt fördern. Beim menschlichen Kind umfasst ein solches Verhalten aktive Nähe wie Annäherung, Nachfolgen und Anklammernsowie Signalverhalten wie Lächeln, Weinen und Rufen (Ainsworth & Bell, 1970, S. 50).“[11]

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll der Bindungsbegriff entsprechend dieses Defi- nitionsvorschlages verstanden und bearbeitet werden.

2.2 Die Bindungstheorie

Das Phänomen der Bindung und im Speziellen die frühen Bindungsbeziehungen, welche ein Kind während der ersten drei Jahre durch die Interaktion mit den Personen in seiner unmittelbaren Umwelt erfährt, sind besondere, oftmals sehr intensive Beziehungen. Mit diesen besonderen Beziehungen und deren Entwicklung beschäftigt sich die Bindungstheorie. Diese wurde in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts von dem Psychoanalytiker John

Bowlby begründet.[12] Die Bindungstheorie untersucht physiologische Prozesse als Folge un- terschiedlicher Bindungserfahrungen sowie die Entwicklung der verschiedenen inneren Arbeitsmodelle und die psychische Veränderung der Wahrnehmung von Ereignissen und Personen, welche intensive Gefühle hervorrufen.[13] Dabei wird Bindung als ein hypothetisches Konstrukt angesehen, dass nicht unmittelbar beobachtet werden kann, sondern ein inneres Arbeitsmodell darstellt, welches das Bindungsverhalten und die damit einhergehenden Gefühle organisiert.[14]

Das Bindungsverhalten hingegen besteht aus Variablen, bedingt austauschbaren Verhaltensweisen und Signalen wie Weinen, Klammern, Rufen, Protestieren, usw.[15] Diese Verhaltensweisen sind genetisch vorgeprägt und bei allen Primatenkindern aber besonders beim Menschen zu finden. Das Bindungsverhalten lässt sich in den ersten drei Lebensjahren meist direkt beobachten.[16]

Das Bindungssystem wird als offenes phylogenetisches präadaptiertes Programm (um- weltstabil) gesehen, welches verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten in natürlichen Grenzen eröffnet (umweltlabil). Bindung ist in gewisser Weise umweltstabil, da sich das Kind an jede Mutter bindet, auch wenn sich diese wie eine „Rabenmutter“ verhält. Allerdings ist in diesem Fall die Ausbildung einer sicheren Bindung nicht zu erwarten. Fürsorgliche und investierende Bindungspersonen helfen dem Kind seine Gefühle und Verhaltensweisen zielgerichtet zu koordinieren und innerlich zu integrieren. Diese Fürsorge ist jedoch nicht unbedingt von der Person der Mutter anhängig. Ebenso kann der Vater, aber auch eine Pflege-/ Adoptivmutter oder eine andere Ersatzperson diese Rolle ausfüllen. Die Bindungsqualiät ist umweltlabil, also abhängig von der Qualität der Interaktionen mit der Bindungsperson.[17] Die Hauptbindungs- person, nach Bowlby in der Regel die Mutter, unterstützt das Kind, erkennt die Bindungsbe- dürfnisse indem sie das Verhalten des Kindes empathisch interpretiert und entsprechend darauf reagiert.

2.3 Bindungsverhalten

Bindung ist zwar genetisch vorgeprägt, jedoch nach der Geburt zunächst personen- unabhängig. Erst durch die Interaktion mit den Personen in seiner Umgebung entwickelt sich im Laufe der ersten drei Jahre eine Personenspezifische Bindung. Dies geschieht in folgenden drei Etappen:[18]

1. In der ersten Phase ist das Kind noch nicht an eine bestimmte Person gebunden. Es richtet seine Signale allgemein an seine Umwelt.
2. Durch die Interaktion mit verschiedenen Personen lernt das Kind diese zu unter- scheiden und sendet etwa ab dem dritten Monat seine Signale an eine oder wenige bevorzugte Personen.
3. In der dritten Phase beginnt im Alter von etwa sieben Monaten, mit dem Entwick- lungsschritt der Lokomotion und der einsetzenden Objektpermanenz, ist das Kind in der Lage seine bevorzugten Personen, wie Mutter oder Vater, auch während deren Abwesenheit zu vermissen. Außerdem kann es nun aktiv die Entfernung zu seinen Bindungspersonen regulieren. Zwischen dem 12. und 18. Monat erreicht diese Phase, mit dem Erwerb der Sprache, ihren Höhepunkt. Von nun an zeigt das Kind konkretes Bindungsverhalten.

Wenn mit der zweiten Phase die Unterscheidung zwischen vertrauten und fremden Personen getroffen werden kann, tritt erstmals eine Furchtreaktion auf, wenn das kleine Kind mit einem Fremden konfrontiert wird. Erklärung für diese so genannte Fremdelreaktion ist unter anderem, dass das Kind das bzw. den Fremden nicht in die eigenen Schemata einordnen kann. Dies führt zu Kontrollverlust und unangenehmen Gefühlen.

Diese Fremdelreaktion tritt umso stärker auf, je unähnlicher, unvertrauter und näher die Person dem Kind ist. Die Abbildung 2 zeigt anhand der Ergebnisse einer Studie von Lewis aus dem Jahr 1974[19], dass positive Reaktionen dann auftreten, wenn das eigene Spiegelbild oder die Mutter sich nähern. Relativ neutrale Reaktionen treten auf, wenn sich ein anderes Kind, also eine Person die relativ hohe Ähnlichkeit zu dem Kind selbst aufweist, nähert. Wenn sich ein fremder Erwachsener dem Kind näherte wurden jedoch deutlich negati- ve Reaktionen beobachtet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung2: Ausmaß der Fremdelreaktion[20]

Konkretes Bindungsverhalten, wie Weinen, Schreien oder Festklammern, wird in Stresssituationen aktiviert, beispielsweise wenn eine Bezugsperson zu weit entfernt ist oder ganz weggeht. Mit diesem Bindungsverhalten versucht das Kind auf sich aufmerksam zu machen und Sicherheit zu bekommen. Bindungsverhaltensweisen können auch bei der Rück- kehr der Bindungsperson beobachtet werden. Hierbei sucht das Kind Blick- oder Körperkontakt zu der Bezugsperson oder hält sich in der Nähe der Bezugsperson auf. Durch die Nähe der Bindungsperson beruhigt sich das Kind in der Regel nach kurzer Zeit und beendet das Bindungsverhalten.[21]

John Bowlby beschrieb Bindungsverhalten folgendermaßen:„Kein Verhalten wird von stärkeren Gefühlen begleitet als das Bindungsverhalten. … Solange das Kind sich in uneingeschränkter Verfügbarkeit seiner Hauptbindungsperson oder in einer geringen Entfernung von dieser befindet, fühlt es sich sicher. Die Gefahr eines Verlustes ruft Angst hervor, der tatsächliche Verlust Trauer, und beide lösen meistens außerdem Ärger aus.

(Bowlby,1979; dt. 2001, S.160)“[22]

Fühlt das Kind sich bindungssicher, wagt es sich von der Bezugsperson weg und erkundet Gegenstände und Personen in seiner Umgebung. Allerdings versichert es sich während der Exploration häufig durch Blicke, ob die „sicheren Basis“, also die Bezugsperson, noch da ist und ob diese sich alarmierend verhält. Das explorative Verhalten bildet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Autonomie des Kindes.

2.4 Die Mutter- Kind- Interaktion

Das individuelle Bindungsverhalten eines Kindes entsteht, wie in Kapitel 2.3 be- schrieben, durch die Anpassung an das Verhalten der Bindungspersonen. In Interaktion mit der Bindungsperson entwickelt das Kind ein Bindungsverhalten, welches, nachdem es sich gefestigt hat, weitgehend stabil bleibt. Allerdings kann sich dieses Verhalten und die Qualität der Bindung sich im Verlauf der Kindheit und Jugend ändern.[23] Wesentlich dabei ist die Interaktion zwischen Mutter und Kind, die im Folgenden vorgestellt wird.

Ausdruck und Mitteilung der kindlichen, emotionalen Bedürfnisse werden je nach Feinfühligkeit der Bindungsperson gegenüber dem Kind erkannt und interpretiert. In jeder Interaktion lernt das Kind ob seine Bedürfnisse anerkannt oder ignoriert werden. Subtile, prompte und angemessene Reaktionen, begleitet von Vokalmelodien und Worten, stellen die reichhaltigste Kommunikationsform für den Säugling dar. Interpretiert die Bindungsperson, z.B. die Mutter, die Signale des Kindes richtig und handelt entsprechend, fühlt sich das Kind verstanden. Die Feinfühligkeit der Mutter kann nur dann gelingen, wenn sie in der Lage ist aus der Sicht des Kindes zu handeln.

Ainsworth et al. definierten die mütterliche Feinfühligkeit anhand folgender vier Kriterien:

1.Die Mutter muss„das Kind aufmerksam im Blick haben und darf keine zu hohe Wahrnehmungsschwelle haben, damit der Säugling erfährt, dass sie ihn bemerkt, und muss
2.die richtige Interpretation der Äußerungen des Säuglings aus seiner Lage und nicht nach ihren Bedürfnissen anwenden – damit der Säugling weiß, dass er sozia- le Wirkungen erzielen kann. Weiterhin sind wichtig:
3.die prompte Reaktion – damit der Säugling eine Verbindung zwischen seinem Ver- halten und dem Spannung mildernden Effekt der mütterlichen Handlung in seinem Gedächtnis knüpfen kann, die ein erstes Gefühl der eigenen Effektivität im Gegen- satz zur Hilflosigkeit vermittelt und
4.die Angemessenheit der Reaktion – damit der Säugling die Qualität der Wirkung seiner Signale differenziert einzusetzen lernt, die im Einklang mit seinen Bedürf- nissen und Entwicklungsprozessen steht.
5.DieUmsetzungdieser Charakteristika der Feinfühligkeit verlangt eine hohe geis- tige Flexibilität und Kompromissbereitschaft der Bindungspersonen.“)[24]

Um Feinfühligkeit nicht mit Überbehütung zu verwechseln, sollte darauf geachtet werden, dass die Bindungsperson dem Kind nicht Dinge abnimmt, die es selbst tun könnte.[25]

2.5 Methoden zur Beobachtung von Bindungsverhalten

Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass mütterliche Feinfühligkeit unterschiedliche Auswirkungen hat. So geht hohe Feinfühligkeit von Seiten der Mutter oftmals mit vielen posi- tiven Verhaltensweisen des Kindes einher. Diese Kinder „weinten seltener, zeigten eine ausgewogeneund harmonische Balance zwischen selbstständigem Spiel und Freude am Kontakt mit er Mutter“[26] und waren kooperativer. Kleinkinder weniger feinfühliger Mütter hingegen wiesen entweder eine auffällige Unabhängigkeit oder Ängstlichkeit auf, welche je- doch oft an unvermittelten Ärger und Unzufriedenheit gekoppelt waren. Diese Kinder ließen sich auch weniger gut von ihren Müttern beruhigen und waren unkooperativer. Seifer et. al stellten fest, dass mütterliche Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr etwas über die Bindungs- qualität im zweiten Lebensjahr voraussagt.[27] Das Kind entwickelt durch die Erfahrung der Zuverlässigkeit der Bindungsperson eine gewisse Erwartungshaltung.[28]

Im Folgenden werden zwei Tests detailliert vorgestellt, welche zur Einschätzung von Bindungsqualität eingesetzt werden können.

2.5.1 Der Fremde- Situations- Test (FST)

Mary Ainsworth entwickelte ein standardisiertes Untersuchungsverfahren, mit dessen Hilfe das Bindungsverhalten von 12 - 24 Monate alten Kindern beobachtet werden kann. In acht Phasen, die sich jeweils über einen Zeitraum von drei Minuten erstrecken, erfährt das Kind in zunehmendem Maße Unvertrautheit, Fremdheit und zwei kurze Trennungsphasen, durch die das Bindungsverhalten aktiviert werden sollen.

Dieser Fremde- Situations- Test, kurz FST, wird in einem Raum durchgeführt, dessen Fußboden in schwarze und weiße Quadrate (zur Erleichterung von Entfernungsmessungen) eingeteilt ist. Außerdem befinden sich Spielzeug und zwei Stühle im Raum. Eine schemati- sche Darstellung findet sich in der Abbildung 3. Die Versuchsbeobachter können das Gesche- hen durch versteckte Kameras verfolgen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung3: Schematische Darstellung eines Raumes beim FST

Der Versuchsablauf stellt sich wie folgt dar:

1. Die Mutter (M) setzt das Kind im Raum ab.

2. Dann setzt sich die Mutter auf einen Stuhl und liest in einer Zeitschrift, siehe auch Abbildung 4. Nach spätestens zwei Minuten erfolgt ein Klopfsignal, woraufhin das Kind von der Mutter zum Spielen animiert werden soll, falls dieses noch nicht spielt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung4: Zweite Phase des FST[29]

3. Kurz darauf betritt eine fremde Frau (S) den Raum und setzt sich auf den anderen Stuhl – sie schweigt etwa 1 Minute und beginnt dann ein Gespräch mit der Mutter. Dann beschäftigt sich die fremde Frau mit dem Kind.

4. Die Mutter verlässt den Raum und lässt ihre Handtasche dabei zurück Sollte das Kind weinen, beschäftigt sich die fremde Frau mit ihm, ansonsten bleibt sie auf dem Stuhl sitzen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung5: Fünfte Phase des FST - Wiedervereinigung[30]

5. Die Mutter spricht vor der Tür, kommt herein, nimmt das Kind hoch und begrüßt es, siehe auch Abbildung 5. Danach setzt sie es wie in der Abbildung 6 dargestellt wieder zum Spielzeug und versucht es zum Spielen zu animieren. - Die fremde Frau hingegen verlässt Raum. Drei Minuten später verlässt auch die Mutter den Raum, lässt jedoch wieder die Handtasche zurück.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung6: Fünfte Phase - Spielanimation[31]

6. Nun ist das Kind für ca. drei Minuten allein.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung7: Sechste Phase des FST[32]

7. Die fremde Frau spricht vor der Tür und betritt dann den Raum – Sie passt ihr Verhalten dem des Babys an (z. B. trösten oder mitspielen).

8. Die Mutter öffnet Tür, bleibt kurz stehen, hebt dann das Kind hoch und begrüßt es (vgl. Abbildung 8), während die fremde Frau den Raum verlässt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung8: Mutter Achte Phase des FST[33]

[...]


[1] DJI, Zahlenspiegel 2005 – Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik, S.110

[2] Merrill- Palmer- Quarterly Vol. 43, S. 341

[3] Nave- Herz, R.: Familie heute, S. 31

[4] DJI, Zahlenspiegel 2005 – Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik, S.110

[5] Ahnert, L.: Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren; S. 9-10

[6] DJI, Zahlenspiegel 2005 – Kindertagesbetreuung im Spiegel der Statistik, S.110

[7] Ahnert, L.: Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren; S. 82

[8] Ahnert, L.: Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren; S. 9-10

[9] Oerter, R.; Montada, L.: Entwicklungspsychologie S. 197 ff.

[10] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.33

[11] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.243

[12] Internetquelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bindungstheorie&oldid=37043632

[13] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 28 ff.

[14] Scroufe, L.A.; Waters, E.: Child Development, 1977, Vol. 48, S. 1184 ff.

[15] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.33

[16] Internetquelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bindungstheorie&oldid=37043632

[17] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 28 ff.

[18] Oerter, R.; Montada, L.: Entwicklungspsychologie

[19] Lewis, M. / Brooks, J.: Self, Other and Fear: Infants’ Reactions to people

[20] Lewis, M. / Brooks, J.: Self, Other and Fear: Infants’ Reactions to people

[21] Internetquelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bindungstheorie&oldid=37043632

[22] Zitat: Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.33

[23] Internetquelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bindungstheorie&oldid=37043632

[24] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 32

[25] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 32

[26] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 33

[27] Seifer, R; Schiller, M.; Sameroff, A.J.: Developmental Psychology, 1996, Vol. 32, S. 12 ff.

[28] Ahnert, L.: Frühe Bindung , S. 33

[29] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.117

[30] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.121 & 122

[31] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.121 & 122

[32] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.123

[33] Grossmann, K.; Grossmann, K.E.: Bindung und menschliche Entwicklung, S.124

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Einfluss institutioneller Tagesbetreuung auf die Mutter-Kind-Bindung bei Kindern
Hochschule
Universität zu Köln
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
71
Katalognummer
V116243
ISBN (eBook)
9783640182961
Dateigröße
981 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Einfluss, Tagesbetreuung, Mutter-Kind-Bindung, Kindern
Arbeit zitieren
Elfriede Dingel (Autor:in), 2008, Einfluss institutioneller Tagesbetreuung auf die Mutter-Kind-Bindung bei Kindern , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116243

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