In dieser Arbeit wird der Forschungsfrage nachgegangen, inwieweit das Fit-Konzept in der sozialpädagogischen Familienhilfe angewandt werden und zu einer Unterstützung der Familienmitglieder beitragen kann. Die sozialpädagogische Familienhilfe gehört zu den häufigsten professionellen erzieherischen Hilfen, die der deutsche Sozialstaat für junge Menschen und deren Familien zur Verfügung stellt. Die Forschungsmethode beruht auf einer Auswertung verschiedener Quellen aus der Fachliteratur.
Die Quintessenz des Fit-Konzepts besagt, dass jeder Mensch einmalig ist und seine Individualität in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben möchte, indem er seine Grundbedürfnisse befriedigt und seine Kompetenzen realisiert. Eine hohe Übereinstimmung bewirkt, dass der Mensch einen starken Selbstwert entwickelt und Wohl-befinden empfindet. Diese Kernaussage lässt sich auf die Mitglieder einer Familie übertragen und kann in der sozialpädagogischen Familienhilfe genutzt werden, indem eine Analyse der Familiensituation durchgeführt wird, um festzustellen, in welchen Bereichen mangelnde Übereinstimmungen mit der Umwelt, sogenannte Misfits, vor-liegen. Daraus kann in Zusammenarbeit mit der Familie ein Familienkonzept als Selbsthilfeplan entwickelt werden, welches die individuellen Maßnahmen zur Auflösung der Misfits beinhaltet. Das Konzept kann umfassend eingesetzt werden, um Familien in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu stärken.
In dieser Arbeit wird eine Verknüpfung zwischen Fit-Konzept und Familienhilfe hergestellt, wodurch eine Erweiterung des methodengeleiteten sozialpädagogischen Handlungsrahmens ermöglicht wird. Vor diesem Hintergrund können die Erkenntnisse der Thesis sowohl für Studierende als auch für Fachkräfte, die bereits in sozial- oder kindheitspädagogischen Bereichen tätig sind, von Interesse sein.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1 Einleitung
2 Hilfen zur Erziehung in der Kinder- und Jugendhilfe
2.1 Begriffsklärung
2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
2.3 AdressatInnen
2.4 Der Hilfeplan: ein zentrales Steuerungsinstrument
2.5 Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte
3 Die sozialpädagogische Familienhilfe
3.1 Grundprinzipien in der Arbeit mit Familien
3.1.1 Freiwilligkeit und Partizipation der Familie
3.1.2 Vertrauensvolle Beziehungsgestaltung
3.2 Ansätze und Methoden
3.2.1 Lebensweltorientierung
3.2.2 Empowerment
3.2.3 Systemischer Ansatz
3.2.4 Resilienzförderung in der Familie
3.3 Familienziele formulieren: Umsetzung und Evaluation
3.4 Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte
4 Das Fit-Konzept nach Remo Largo
4.1 Grundbedürfnisse und Bindungsverhalten des Kindes
4.2 Fit: Die Übereinstimmung des Kindes mit seiner Umwelt
4.2.1 Die drei Hauptkomponenten für das kindliche Wohlbefinden
4.2.2 Die Bedeutung einer kindgerechten Umwelt
4.2.3 Kindorientierte Erziehungshaltung der Eltern
4.3 Misfit: Ungenügende Passung zwischen Kind und Umwelt
4.3.1 Risiko- und Schutzfaktoren
4.3.2 Auswirkungen von Misfits
4.3.3 Behebung von Misfits
4.4 Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte
5 Unterstützungsmöglichkeiten des Fit-Konzepts in der Familienhilfe
5.1 Zwischen Autonomie und Gemeinsamkeit: Anerkennung der individuellen Bedürfnisse in der Familie
5.2 Spannungsfelder und Misfits aufdecken
5.2.1 Innerhalb der Familie
5.2.2 Im Sozialraum
5.3 Erstellung eines Familienkonzepts
5.3.1 Was funktioniert gut - geht fit
5.3.2 Wo gibt es Änderungsbedarf - Misfit
5.3.3 Änderungsprozesse definieren und einleiten
5.3.4 Das Selbstbild der Familie
5.4 Die Rolle der Familienhilfe
6 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abstract
Die vorliegenden Bachelor-Thesis trägt den Titel „Familien in ihrer Individualität wahrnehmen und stärken - Unterstützungsmöglichkeiten des Fit-Konzepts nach Remo Largo in der sozialpädagogischen Familienhilfe“.
In der Thesis wird der Forschungsfrage nachgegangen, inwieweit das Fit-Konzept in der sozialpädagogischen Familienhilfe angewandt werden und zu einer Unterstützung der Familienmitglieder beitragen kann. Die sozialpädagogische Familienhilfe gehört zu den häufigsten professionellen erzieherischen Hilfen, die der deutsche Sozialstaat für junge Menschen und deren Familien zur Verfügung stellt. Die Forschungsmethode beruht auf einer Auswertung verschiedener Quellen aus der Fachliteratur.
Die Quintessenz des Fit-Konzepts besagt, dass jeder Mensch einmalig ist und seine Individualität in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben möchte, indem er seine Grundbedürfnisse befriedigt und seine Kompetenzen realisiert. Eine hohe Übereinstimmung bewirkt, dass der Mensch einen starken Selbstwert entwickelt und Wohlbefinden empfindet. Diese Kernaussage lässt sich auf die Mitglieder einer Familie übertragen und kann in der sozialpädagogischen Familienhilfe genutzt werden, indem eine Analyse der Familiensituation durchgeführt wird, um festzustellen, in welchen Bereichen mangelnde Übereinstimmungen mit der Umwelt, sogenannte Misfits, vorliegen. Daraus kann in Zusammenarbeit mit der Familie ein Familienkonzept als Selbsthilfeplan entwickelt werden, welches die individuellen Maßnahmen zur Auflösung der Misfits beinhaltet. Das Konzept kann umfassend eingesetzt werden, um Familien in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu stärken.
In der vorliegenden Bachelor-Thesis wird eine Verknüpfung zwischen Fit-Konzept und Familienhilfe hergestellt, wodurch eine Erweiterung des methodengeleiteten sozialpädagogischen Handlungsrahmens ermöglicht wird. Vor diesem Hintergrund können die Erkenntnisse der Thesis sowohl für Studierende als auch für Fachkräfte, die bereits in sozial- oder kindheitspädagogischen Bereichen tätig sind, von Interesse sein.
Schlüsselwörter: Erziehung, sozialpädagogische Familienhilfe, Fit-Konzept, Familie, Misfit, Selbstwert, Individualität
1 Einleitung
„Unsere Welt ist komplizierter geworden. Immer mehr Eltern schaffen es nicht alleine, ihre Kinder auf dem Weg in ein selbstständiges Leben zu begleiten. Sie brauchen Hilfe! [...] Die Qualität der Familienbeziehung entscheidet auch über Integration oder Isolation. Soziale Ausgrenzung ist ein häufiger Grund für kriminelles Verhalten. Daher ist jeder von der Qualität der familienorientierten Hilfe abhängig - denn
Wir sitzen alle in einem Boot!“
Diesen solidarischen Appell an unsere Gesellschaft formuliert Prof. Dr. Marga Rothe in dem Vorwort zu ihrem Arbeitsbuch „Sozialpädagogische Familien- und Erziehungshilfe“ (Rothe 2015, S. 5). Die Familie ist nicht nur die „Keimzelle“ der Gesellschaft, sie bildet zugleich auch das Fundament für den Erhalt der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 9). In der Familie werden grundlegende Werte für das Zusammenleben vermittelt. Hier zeigt sich, ob die Erziehungsberechtigten als Vorbilder für ein Miteinander handeln oder ein Gegeneinander erzeugt wird, konstruktives oder destruktives Verhalten ausgeübt wird, Motivation oder Interessenlosigkeit vorliegen (vgl. ebd.). Für das Weiterbestehen einer humanen Gesellschaft spielen die Grundwerte, die an die heranwachsende Generation weitergegeben werden, eine entscheidende Rolle. Daher stellt sich die Frage, ob und in welcher Form junge Familien bei dieser bedeutsamen und zukunftsweisenden Aufgabe unterstützt werden können (vgl. ebd.). Die entsprechenden Hilfen zur Erziehung sind ein sozialstaatliches, professionelles Angebot für junge Menschen und ihre Familien. Sie stehen den Personensorgeberechtigten zu, die besondere Unterstützung bei der Erziehung benötigen. Erzieherische Hilfe ist eine der Kernaufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie zielt darauf ab, die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von jungen Menschen zu sichern und soll für mehr Chancengerechtigkeit sorgen, um eine bessere soziale Teilhabe ermöglichen.
Eine der häufigsten erzieherischen Hilfen wird von der sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) erbracht. Die SPFH geschieht familienergänzend und -unterstützend in ambulanter Form, d.h. sie findet in der Regel in der Wohnung und im Lebensumfeld der jeweiligen Familien statt. Sie strebt eine intensive Betreuung und Begleitung der AdressatInnen an, die präventiv wirksam werden soll, bevor potentielle Gefährdungen des Kindeswohls eintreten.
Die Verfasserin dieser Bachelor-Thesis ist seit längerer Zeit in der sozialpädagogischen Familienhilfe tätig. Während ihres Studiums hat sie sich mit verschiedenen Methoden und Ansätzen der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt, um herauszufinden, welche theoretischen Erkenntnisse sie in die eigene berufliche Praxis übertragen kann, um das professionelle Handlungswissen kontinuierlich zu erweitern. Im Zuge einer Literaturrecherche hat die Verfasserin das Fit-Prinzip des Schweizer Kinderarztes und Bestseller-Autors Remo H. Largo kennengelernt, dessen Buch „Das passende Leben“ der Inspirationsfunke für die vorliegende Bachelor-Thesis war. Largos Fit-Konzept beruht darauf, dass jeder Mensch seine Individualität in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben möchte. Je besser ihm dies gelingt, desto höher ist die Übereinstimmung und desto glücklicher fühlt sich der Mensch. Mangelnde Übereinstimmung, sogenannte Misfits, führen zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Die Ursachen für Misfits können sehr vielfältig sein und müssen genauer analysiert werden, damit diese behoben werden können.
Die Bachelor-Thesis beschäftigt sich mit der Fragestellung, inwieweit Remo Largos Fit-Konzept in der sozialpädagogischen Familienhilfe angewandt werden kann, um Familien mit ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen zu stärken. Es soll analysiert werden, welche Faktoren die elterlichen Erziehungskompetenzen positiv beeinflussen können, um die Familiensituation zu entlasten und das Wohlbefinden der Familienmitglieder anzuheben.
Neben der Einleitung (Kapitel 1) und der Schlussbetrachtung (Kapitel 6) ist die Thesis in vier Hauptkapitel unterteilt. In Kapitel 2 werden zunächst die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und die verschiedenen Formen der Hilfen zur Erziehung dargestellt. Im Verlauf werden die rechtlichen Grundlagen und die konkrete Umsetzung mittels Hilfeplangestaltung in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern und den AdressatInnen der erzieherischen Hilfe näher beleuchtet. Das dritte Kapitel befasst sich mit den Aufgaben und Anforderungen der sozialpädagogischen Familienhilfe. Es erläutert die Grundprinzipien in der Arbeit mit Familien und führt verschiedene Methoden und Ansätze auf, die für die professionelle Arbeit der sozialpädagogischen Fachkraft von Bedeutung sind. Das Fit-Konzept nach Remo Largo wird in Kapitel 4 ausführlich vorgestellt. Abschließend werden in Kapitel 5 die Unterstützungsmöglichkeiten des Fit-Konzepts analysiert und in Bezug auf die Anwendung in der sozialpädagogischen Familienhilfe ausgewertet.
Die theoretischen Erkenntnisse der Thesis basieren auf einer umfangreichen Literaturrecherche anhand der ausgewählten einschlägigen Fachliteratur.
2 Hilfen zur Erziehung in der Kinder- und Jugendhilfe
Die essenzielle Aufgabe der Kinder-und Jugendhilfe besteht darin, die Entwicklung und Erziehung junger Menschen zu fördern (vgl. Wiesner 2014, S. 46). Dies erfolgt in erster Linie dadurch, dass sie die elterliche Erziehungsverantwortung stärkt, unterstützt und ergänzt. Die Hilfen zur Erziehung sind in diesem Kontext eine Kernaufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, weil sie die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von jungen Menschen sichern sollen (vgl. Kreft/Mielenz 2005, S. 422). Bei dieser Hilfeform handelt es sich um ein frühzeitiges, niedrigschwelliges Angebot, das eine familienunterstützende Funktion ausübt (vgl. Hammer/Hermsen/Macsenaere 2015, S. 36). In der Regel verbleibt das Familiensystem in seinem Sozialraum und wird von sozialpädagogischen Fachkräften bei der Bewältigung seines Alltags unterstützt.
Der 15. Kinder-und Jugendbericht sieht in den Hilfen zur Erziehung vor allem einen Ausgleich von sozialen Benachteiligungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 434). Bedingt durch mitunter prekäre Lebenskonstellationen haben viele Heranwachsende bereits Einschränkungen ihrer persönlichen Rechte erfahren und Begegnungen mit Machtmissbrauch oder Gewalt erlebt. Mittels der Hilfen sollen sozialpädagogische Umgebungen geschaffen werden, in der die jungen Menschen soziale, emotionale und materielle Unterstützung erfahren können. Sie sollen die gleichen sozialen Chancen erhalten wie gleichaltrige Jugendliche, um Diskriminierungen und soziale Ausgrenzungen abzubauen und mehr soziale Teilhabe zu erwirken (vgl. ebd.) In den folgenden zwei Kapiteln wird eingehender beschrieben, was unter Hilfen zur Erziehung zu verstehen ist und auf welchen rechtlichen Grundlagen diese beruhen.
2.1 Begriffsklärung
Erziehungshilfe, oder auch „Hilfe zur Erziehung“ als zusammengesetzter Begriff umfasst zwei verschiedene Sachverhalte (vgl. Macsenaere/Esser 2015, Kapitel 1). Zum einen ist Erziehung im eigentlichen Sinn gemeint, zum anderen geht es um rechtlich und institutionell organisierte Hilfe zur Erreichung erzieherischer Aufträge und Ziele.
Bei den Hilfen zur Erziehung handelt es sich um ein sozialstaatliches, professionelles Angebot, das an junge Menschen und ihre Familien gerichtet ist, wenn eine Erziehung zum Wohle des jungen Menschen in der Familie nicht gewährleistet werden kann (vgl. Moch 2018, S. 632). Die Hilfen zur Erziehung stehen denjenigen Personensorgeberechtigten zu, die besondere Unterstützung bei der Erziehung benötigen. Die Hilfe muss notwendig und für die Entwicklung des jungen Menschen geeignet sein. Sie bietet Leistungen, die den jungen Menschen unterstützen, anregen und fördern sollen, sowie Hilfen für dessen Eltern, bzw. die sorgeberechtigten Personen, in den Bereichen, wo diese eine kindeswohlentsprechende Erziehung nicht erbringen können (vgl. ebd.). Die Inanspruchnahme der Hilfen ist freiwillig, wenn jedoch eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, kann sie vom Familiengericht angeordnet werden (vgl. Wabnitz 2015, S. 22). Die erzieherischen Hilfen sind in verschiedene Hilfearten aufgeteilt, deren rechtliche Verankerung im achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) aufgeführt wird, wie das nächste Kapitel zeigt.
2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
Die gesetzlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe sind im SGB VIII festgelegt. Dies wird auch als KJHG - Kinder- und Jugendhilfegesetz bezeichnet. § 1 Abs. 1 SGB VIII verleiht jedem jungen Menschen das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer Persönlichkeit, die eigenverantwortlich handeln kann und gemeinschaftsfähig ist (vgl. Marburger 2019, S. 13).
Im zweiten Absatz von §1 wird das Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat beschrieben. Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und zugleich ihre vorrangige Pflicht, über deren Ausübung die staatliche Gemeinschaft wacht (vgl. ebd., S. 70). Dieses Elternrecht ist verfassungsrechtlich geschützt - es findet sich wortgleich in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG wieder, das laut Wabnitz (2015, S. 20) die „ranghöchste innerstaatliche Rechtsquelle“ darstellt. Dies bedeutet, dass der Staat grundsätzlich nicht in das Elternrecht eingreifen darf, außer bei drohender Kindeswohlgefährdung. In diesen Fällen greift das „staatliche Wächteramt“: zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung ist das Familiengericht befugt, besagte Elternrechte einzuschränken. Mögliche gerichtliche Maßnahmen werden im Familienrecht des BGB in § 1666 konkretisiert (vgl. ebd., S. 22).
Als wesentliche Aufgaben der Jugendhilfe werden im dritten Absatz des § 1 SGB VIII vier Hauptziele aufgeführt:
1. „junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“
2. „Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen“
3. „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen“
4. „dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“
An diesen Leitzielen sollen sich die Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe vornehmlich ausrichten.
Die Zusammenarbeit der öffentlichen Jugendhilfe (Jugendämter und -behörden) mit der freien Jugendhilfe (Wohlfahrtsverbände, kirchliche und private Träger) wird in § 4 SGB VIII geregelt. Das Gesetz verweist auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit unter Achtung der Selbstständigkeit der freien Träger. Die Gesamtverantwortung der Jugendhilfeplanung obliegt nach § 79 SGB VIII den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe.
Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung ist in § 27 Abs. 1 SGB VIII festgelegt. Diese kann jedoch nur gewährt werden, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet werden kann (vgl. Marburger 2019, S. 30). Zudem muss die Hilfe für die Entwicklung des Heranwachsenden geeignet und notwendig sein.
§§ 28-35 SGB VIII befassen sich mit den verschiedenen Formen der Hilfe zur Erziehung: Erziehungsberatung, soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand und Betreuungshelfer, sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.
Abbildung 1: Hilfe zur Erziehung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Marburger 2019, S. 31
2.3 AdressatInnen
Laut § 2, Abs. 1 SGB VIII umfasst die Kinder- und Jugendhilfe Leistungen und andere Aufgaben zugunsten junger Menschen und deren Familien. Die hauptsächlichen AdressatInnen sind vor allem Kinder und Jugendliche, die als Minderjährige noch unter der Sorge ihrer Eltern stehen (vgl. Wiesner 2014, S. 46). Da die elterliche Erziehungsverantwortung als vorrangig gilt, besteht die primäre Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe darin, die Entwicklung des jungen Menschen zu fördern und dessen Wohl vor Gefahren zu schützen, indem sie den verantwortlichen Eltern Leistungen anbietet. Deshalb kommt die Hilfe nicht einer einzelnen Person zugute, sondern vielmehr der Lebensgemeinschaft von Eltern oder Elternteilen sowie deren Kindern.
Junge Menschen können die Hilfen zur Erziehung ab der Geburt bis zum 18. Lebensjahr in Anspruch nehmen. In begründeten Fällen ist eine Verlängerung möglich, höchstens jedoch bis zum 27. Lebensjahr (vgl. Moch 2018, S. 632). Demnach können auch junge Volljährige AdressatInnen von individueller Förderung sein, da die Persönlichkeitsentwicklung zum Zeitpunkt der juristisch festgelegten Volljährigkeit noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Wiesner 2014, S. 47). Die Verselbstständigung junger Menschen erfolgt aufgrund längerer Schul- und Ausbildungszeiten zunehmend später, zudem sind die Ablösung von den Eltern und der Eintritt in die Berufswelt häufig mit besonderen sozialen Schwierigkeiten verbunden.
Junge Menschen anderer Staatsangehörigkeit können in Deutschland ebenfalls Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe erhalten, wenn sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nachweisen (vgl. Wiesner 2014, S. 47).
Das statistische Bundesamt gab in der Pressemitteilung Nr. 424 vom 31.10.2019 bekannt, dass 2018 erstmals über eine Million erzieherische Hilfe für junge Menschen unter 27 Jahren gewährt wurden. Dies entspricht einer Steigerung der Inanspruchnahme von rund 25 Prozent innerhalb von 10 Jahren (vgl. Destatis 2019). Wabnitz (2018, S. 41) sieht Gründe für die steigenden Zahlen in zunehmend schwieriger gewordenen sozioökonomischen Lebensbedingungen von Familien und brüchiger werdenden Familienkonstellationen.
Abbildung 2: Erzieherische Hilfen 2018
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Destatis 2019
Tatsächlich wurden rund 42 Prozent, also annähernd die Hälfte aller erzieherischen Hilfen, von Alleinerziehenden in Anspruch genommen (vgl. Destatis 2019). Eine weitere hohe Inanspruchnahme erwies sich bei Transferleistungsbezug: in 39 % aller Fälle von gewährter Hilfe lebte der junge Mensch oder die Familie ganz oder teilweise von Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe. Rund 26200 erzieherische Hilfen erfolgten im Anschluss an eine Inobhutnahme junger Menschen aufgrund unbegleiteter Einreise nach Deutschland.
Das nächste Kapitel befasst sich mit der konkreten Hilfeplanung für die AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe. Dabei dient der Hilfeplan zur Koordination aller Beteiligten und ist ein wichtiges Instrument zur gezielten Lenkung der erzieherischen Hilfen.
2.4 Der Hilfeplan: ein zentrales Steuerungsinstrument
Das Jugendamt in seiner Funktion als Dienstleistungsbehörde soll Leistungen zum Wohl des jungen Menschen kooperativ mit den Kindern, Jugendlichen und deren Eltern in Vernetzung mit den beteiligten Organisationen zur Verfügung stellen (vgl. Rätz-Heinisch/Schröer/Wolff 2009, S. 16). Dadurch soll ein netzwerkendes Helfersystem mit vielgestaltigen Ressourcen zur Unterstützung der Familien entstehen. Die Intention der Hilfeplanung besteht darin, zunächst die Beteiligten des Helfernetzwerkes in einem Hilfeplangespräch an einen Tisch zu bringen, wobei junge Menschen, ihre Familien sowie ihr soziales Lebensumfeld mit einbezogen werden (vgl. Matzner/Munsch 2014, S. 211). Die jeweiligen Familienmitglieder sollen ihre Wünsche und Erwartungen in den Planungsprozess mit einbringen können und auch eventuelle Bedenken und Ängste äußern dürfen, damit sich die Ausgestaltung der Hilfe möglichst nah an den Bedürfnissen der Familie orientieren kann. Das Hilfeplangespräch wird vor allem als eine wesentliche Möglichkeit der Partizipation betrachtet, daher haben die Jugendämter verschiedene Formen von Beteiligung in ihre unterschiedlichen Standards aufgenommen (vgl ebd.). Die Pflicht der öffentlichen Jugendhilfeträger zur Partizipation von Minderjährigen und Personensorgeberechtigten wird in § 36 Abs. 1 SGB VIII ausdrücklich hervorgehoben.
Das Einbeziehen kann schon bei der Auswahl des Gesprächsortes beginnen, wobei die Familienmitglieder entscheiden, ob das Hilfeplangespräch bei ihnen zu Hause stattfinden soll, wo sie sich auf sicherem und vertrauten Terrain befinden. Dies kann ihnen einen „Heimvorteil“ erbringen, so dass Hilfemaßnahmen auf eine höhere Akzeptanz und mehr Verständnis bei den AdressatInnen treffen. Wenn die Familie jedoch vor vollendete Tatsachen gestellt wird und keine Möglichkeit der Mitbestimmung hat, legt dies bereits zu Beginn der Hilfe eine höhere Hürde sowohl für die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), als auch für die Familie. Der weitere Verlauf der Hilfe kann unter Umständen ungünstig beeinflusst werden, da die Fachkräfte auf Widerstände seitens der Familienmitglieder stoßen, da diese nicht an den Entscheidungen mitwirken konnten.
Damit die Hilfeplanung als positiv wirkendes Instrument zur Steuerung der Hilfeplanung genutzt werden kann, bedarf es neben der Partizipation der Familie auch einer guten Vorbereitung vonseiten der Fachkräfte des Helfernetzes. Um Informationen zu gewinnen und zu strukturieren, werden in der Phase des Falleingangs beispielsweise biographische Interviews mit der Familie geführt, Genogramme angefertigt, Netzwerk- und Ressourcenkarten erstellt sowie Fragebögen ausgefüllt und ausgewertet (vgl. Matzner/Munsch 2014, S. 214). In kollegialen Fallbesprechungen werden die Informationen analysiert und bewertet, um den erzieherischen Bedarf zu erkunden und die Ziele der Hilfe zu fixieren. In diesen Prozess der Informationsgewinnung und -auswertung sollten die Perspektiven und die Vorstellungen der Familienmitglieder möglichst umfassend erfragt werden und in den Maßnahmenkatalog mit einfließen, damit die Umsetzung der Hilfeplanung passend zu den Bedürfnissen der Familie erfolgen kann. In der Regel besteht das Helfer-Netzwerk im engeren Kreis aus den zuständigen Fallverantwortlichen des Jugendamtes sowie den sozialpädagogischen FamilienhelferInnen, da diese den Einblick in die Problematiken des Familiengeschehens haben. Abhängig vom Lebensumfeld der Familie können diverse andere Personen oder Personengruppen des Sozialraums an dem Hilfeprozess beteiligt sein. Dazu gehören unter anderem medizinische und therapeutische Fachkräfte, SchulsozialarbeiterInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen, Sport- und Jugendvereine sowie Bekannte oder Verwandte, welche die Familie in der Bewältigung der Alltags- und Erziehungsaufgaben unterstützen.
Der Hilfeplan sollte die Art und den Umfang des erzieherischen Bedarfs und die darauf bezogene, notwendige und geeignete Hilfe sowie die sich daraus ergebenden Leistungen enthalten (vgl. Hechler 2011, S. 28). Er bildet die Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe und ist ein zeit- und zielgerichtetes Planungsinstrument für die Zusammenarbeit der Fachkräfte. Das Verfahren der Hilfeplanung zeichnet sich durch Techniken, Methoden und Verfahrensstandards aus, die für ein strukturiertes Vorgehen sorgen, welches für die Beteiligten transparent und einsehbar ist und somit ein gewisses Maß an Sicherheit und Ordnung schafft (vgl. Matzner/Munsch 2014, S. 214) Wesentliche Funktionen der Hilfeplanung bestehen somit darin, beteiligte Personen und vorhandene Ressourcen des Sozialraums zu koordinieren sowie den Prozess der erzieherischen Hilfe gezielt zu steuern. Die Hilfeplanung wird dokumentiert und stellt Informationen für eine Evaluation der durchgeführten Hilfemaßnahmen zur Verfügung. Dies sichert nicht zuletzt auch die Qualität der pädagogischen Arbeit in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.
2.5 Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte
Hilfen zur Erziehung sind ein sozialstaatliches Dienstleistungsangebot, das über öffentliche und freie Träger professionelle Unterstützung für Heranwachsende und deren Familien bereitstellt. Sie beruhen auf einer freiwilligen Mitarbeit der Familien mit der Absicht, das Kindeswohl zu sichern, Familien zu entlasten und soziale Ungleichverhältnisse zu entschärfen, so dass mehr Chancengerechtigkeit für junge Menschen entsteht. Die rechtlichen Grundlagen bilden das SGB VIII im Einklang mit dem Grundgesetz und dem Familienrecht des BGB. Hauptsächliche AdressatInnen sind minderjährige Kinder und Jugendliche, sowie die sorgeberechtigten Personen, deren Erziehungskompetenz gestärkt werden soll. Die Hilfeplanung vollzieht sich unter Partizipation der AdressatInnen. Sie koordiniert die Maßnahmen sowie das Helfersystem der jeweiligen Familie und gilt als ein wichtiges, methodisch abgesichertes Instrumentarium zur Steuerung einer zielgerichteten und effizienten Hilfe.
Im nächsten Hauptkapitel wird das Aufgabengebiet der sozialpädagogischen Familienhilfe in den Vordergrund gerückt. Es wird dargestellt, auf welchen Prinzipien die Zusammenarbeit mit den Familien beruht und wie eine professionelle Beziehungsgestaltung erfolgen kann. Desweiteren wird eine Auswahl von Ansätzen und Methoden vorgestellt, die in der Familienhilfe zum Tragen kommen. Das Kapitel schließt mit der Formulierung von Familienzielen, beschreibt wie diese umgesetzt werden können und mit welchen Mitteln eine Evaluation des Hilfeprozesse vollzogen wird.
3 Die sozialpädagogische Familienhilfe
Die sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) ist neben der Erziehung in Tagesgruppen diejenige ambulante erzieherische Hilfe, die am weitesten verbreitet ist (vgl. Richter 2018, S. 385). Mithilfe der SPFH soll eine intensive Betreuung und Begleitung der Familien ermöglicht werden. § 31 des SGB VIII beschreibt dies als Hilfe bei den Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, Lösung von Konflikten und Krisen sowie Unterstützung im Kontakt mit Ämtern und Institutionen. Die SPFH soll der Familie Hilfe zur Selbsthilfe geben, indem sie deren Ressourcen anregt und der Familie unterstützend und beratend bei der Bewältigung der jeweiligen Themen zur Seite steht. Die Hilfe ist darauf ausgerichtet, soziale Probleme zu lösen und die Familien zu befähigen, ihre Konfliktthemen sowie ihre Erziehungs- und Fürsorgeaufgaben besser zu bewältigen. Sie erfolgt immer in sozialen Interaktionen zwischen den Familien und den sozialpädagogischen Familienhilfen und ist geplant, durchdacht und zielgerichtet (vgl. Uhlendorff/Euteneuer/Sabla 2013, S. 12).
Sichergestellt werden muss, dass die Fachkräfte der SPFH die erforderliche berufliche Qualifikation gemäß § 72 SGB VIII (einschließlich kontinuierlicher Fortbildung und Supervision) sowie die persönliche Eignung aufweisen (vgl. Nonninger/Meysen 2012, S. 95). Im Rahmen der erzieherischen Hilfen werden die Leistungen überwiegend von MitarbeiterInnen der Profession Soziale Arbeit erbracht, das KJHG geht davon aus, dass es sich um ein sozialpädagogisches Aufgabenfeld handelt (vgl. Seithe/Heintz 2014, S. 60). Aus der Professionsvorstellung der Sozialen Arbeit ergeben sich fachliche Anforderungen und ein spezifisches, berufliches Selbstverständnis: Hilfe zur Erziehung lässt sich thematisch nicht begrenzen. Sie muss in der Lage sein, auf die vielfältigsten Problemlagen der Familien angemessen und qualifiziert einzugehen. Sie beschäftigt sich nicht ausschließlich damit, was in der Psyche ihrer KlientInnen vor sich geht, sondern muss die Lebenswelten und die gesellschaftlichen Hintergründe für die Problemlagen erkennen und in ihr Arbeitskonzept einbinden (vgl. ebd., S. 61). Typisch für die Fachkräfte der Soziale Arbeit ist das Merkmal der „Allzuständigkeit“, da sie im Gegensatz zu anderen sozialen Berufen kein eigenes Arbeitsgebiet haben, in dem nur sie zuständig sind (vgl. Seithe 2012, S. 49). Sozialarbeitende sind SpezialistInnen für den vielschichtigen menschlichen Alltag in seiner Ganzheit, ihre Professionalität macht sich gerade darin bemerkbar, dass sie sich nicht auf eine klar abgrenzbare Zuständigkeit innerhalb eines Spezialgebietes beschränken.
Bei der professionellen Ausübung ihrer Tätigkeit müssen die sozialpädagogischen Fachkräfte besonders darauf achten, die Vertraulichkeit ihrer KlientInnen zu wahren und die Grundsätze des § 8a SGB VIII zum Schutz von Kindern und Jugendlichen einzuhalten.
Die erzieherische Hilfe ist auf eine längerfristige Zusammenarbeit angelegt und bedingt das Engagement und die Mitarbeit der Familie. Die Sozialpädagogische Familienhilfe muss einen multiperspektivischen Blick auf das Familiensystem entwickeln und dabei sowohl die Eltern- und Paarbeziehung, die Eltern-Kind-Beziehung als auch die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen als individuelle Personen berücksichtigen (vgl. Hechler 2011, S. 31). Diese umfassende Blickrichtung eröffnet ein breit gefächertes Aufgabenspektrum für die sozialpädagogische Familienhilfe. Wichtige Themenbereiche sind Erziehungsberatung, Strukturierung des Familienalltags und Gestaltung von Familienregeln, schulische Unterstützung für die Kinder, Haushaltsführung und Regelung von finanziellen Angelegenheiten, Unterstützung bei Ausbildung, Arbeitssuche sowie im Umgang mit Ämtern und Behörden. Die SPH ist eine ambulante, aufsuchende Form der Hilfe und findet zumeist in der Wohnung und im Lebensumfeld der Familien statt. Vor diesem Hintergrund gilt sie als ein intensives Jugendhilfeangebot, das die familieneigenen Kräfte stärken soll unter Zuhilfenahme von notwendigen externen Ressourcen (vgl. Richter 2018, S. 383). Die Familienhilfe ist als eine präventiv wirkende Hilfeform angedacht, die ihre Wirksamkeit entfalten soll, bevor es möglicherweise zu einer Gefährdung des Kindeswohls kommt.
Eine Familiensituation kann sich dahingehend negativ entwickeln, dass ein Elternteil oder beide Eltern nicht mehr erziehungsfähig sind oder schlimmstenfalls ihre gesamte Lebensbewältigung gefährdet ist. Wenn Eltern ihren Erziehungsaufgaben nicht mehr nachkommen können oder wollen, müssen alternative Hilfeformen für die Kinder gefunden werden. Diese können in stationäre Maßnahmen wie Fremdunterbringung in Pflegefamilien, Kinderheimen oder Jugendwohngruppen münden, was eine temporäre oder sogar dauerhafte Trennung der Familie bedeuten würde. Um diesen einschneidenden Schritt zu vermeiden, wird die ambulante erzieherische Hilfe eingesetzt, die sich sehr nah in das Familiengeschehen in der Lebenswelt der Familie begibt. Durch diese intensive Zusammenarbeit mit der Familie befinden sich die Fachkräfte der SPFH auf einer Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, die sie professionell bewältigen müssen. Ein weiteres Spannungsfeld eröffnet sich zwischen der Unterstützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben und der Verpflichtung zur Gewährleistung des Kindeswohles. Richter (2018, S. 383) umschreibt diese Konstellation als „Herausforderung, der konstitutiven Gleichzeitigkeit aus Hilfe und Kontrolle zu begegnen und eine für die Familien transparente Umgangsweise damit zu finden“.
Um diesen Balanceakt gut bewältigen zu können, müssen die Fachkräfte über die Fähigkeit zur professionellen Selbstreflexion verfügen und gewisse Grundprinzipien in ihrer Arbeit mit den Familien beherzigen, die im nächsten Kapitel näher erläutert werden.
3.1 Grundprinzipien in der Arbeit mit Familien
„Wer heute von Familie spricht, muss plurale Lebensformen im Blick haben“ (Rätz-Heinisch/Schröer/Wolff 2009, S. 109). Die Lebensmodelle, an denen Familien sich ausrichten, werden zunehmend individueller, da die Toleranz für unterschiedliche Lebensformen in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen ist. Trotz dieser Heterogenität bleibt die Familie eine zentrale Sozialisationsinstanz, die emotionale Geborgenheit bietet und eine wichtige Voraussetzung für das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen darstellt. Die moderne Gesellschaft mit ihren individualisierten und pluralisierten Strömungen kann jedoch etliche Gefährdungsfaktoren für Familien bereithalten (vgl. Jordan/Maykus/Stuckstätte 2015, S. 14). Die Lebenslagen von Familien sind derart komplex geworden, dass Probleme und Bewältigungsanforderungen entstehen, die potenziell alle jungen Menschen und Familien betreffen und zu sozialer Benachteiligung führen können. In diesem Punkt kann Familienhilfe eine wichtige präventive Rolle erfüllen, die eine Verschlimmerung der Lebensumstände verhindern kann. Das Augenmerk der Fachkräfte, die in den Familien tätig sind, muss sich explizit darauf richten, benachteiligende Umstände aufzudecken, damit diese verbessert oder wenn möglich, ausgeglichen werden können. Gemeinsam mit den jungen Menschen und ihren Eltern sollen neue Zugänge zur sozialen Teilhabe erschlossen werden, damit die Familien weniger Hindernisse zu bewältigen haben und mehr Lebenszufriedenheit entfalten können.
Helming (2016, S. 24) skizziert das Risiko, dass sich die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und die Erwachsenen in den Familien zu stark aufeinander beziehen, so dass die Kinder und Jugendlichen aus dem Blickfeld geraten. Die Frage, ob eine Hilfe erfolgreich verläuft, orientiert sich dann nicht mehr an den tatsächlichen Belangen der Heranwachsenden, sondern wird nur auf der Ebene der Erwachsenensicht behandelt. Es besteht die Gefahr, dass sich die Hilfen im oftmals chaotischen Alltag der Familien auf instrumentelle und alltagspraktische Hilfen beschränken, obwohl eine systematische und strukturierte Förderung der Erziehungsfähigkeit und der Interaktion zwischen Eltern und Kindern erforderlich wäre. Zwar müssen Veränderungsprozesse der familialen Strukturen und Interaktionen von den Eltern ausgehen, dennoch muss das Wohl des Kindes stets im Fokus des Geschehens stehen. Kinder sind diejenigen Familienmitglieder, die am verletzlichsten sind, da sie aufgrund ihres jungen Alters den Handlungen der Erwachsenen und deren Folgen ausgesetzt sind. Dies impliziert, dass bei allen Hilfemaßnahmen zunächst überprüft werden muss, ob sie dem Kindeswohl dienen. In der Arbeit mit den Familien steht der Schutzauftrag - die Sicherung des Kindeswohls - als wichtiges Grundprinzip an oberster Stelle.
Die voranschreitende Individualisierung der Gesellschaft und der Familien stellt wachsende Anforderungen an die Fachkräfte der SPFH. Sie müssen über eine Vielzahl an Kompetenzen verfügen und so flexibel sein, dass sie in der Lage sind, sich in die verschiedenartigsten Lebenswelten der zu betreuenden Familien einzufinden. „Wenn die Welt bunt und vielfältig ist, werden auch die Hilfen für Menschen in Notlagen diese Buntheit und Vielfalt repräsentieren müssen“ (Hansen 2016, S. 95). Die FamilienhelferInnen benötigen die Fähigkeit, unterschiedlichste Formen pädagogischen Handelns situativ und für die jeweilige Familie passend einsetzen zu können. Um dies tun zu können, muss der Blick auf die Familie unverstellt sein, was nur möglich ist, wenn eigene Wertvorstellungen und vorschnelle Beurteilungen in den Hintergrund rücken. So wird Raum geschaffen für eine vorbehaltlose Zusammenarbeit auf Augenhöhe, in einer Atmosphäre von Offenheit, Akzeptanz und Wertschätzung. Zugleich müssen die Fachkräfte genügend Standhaftigkeit haben, um unbequeme Themen anzusprechen und eventuelle Widerstände der Familienmitglieder auszuhalten, ohne diese persönlich zu nehmen. Damit eine Zusammenarbeit gelingen und die Erziehungshilfe sich wirksam entfalten kann, ist eine freiwillige Partizipation der Familie erforderlich. Veränderungsprozesse, die auf eine Verbesserung der Familiensituation abzielen, können nicht aufgezwungen werden, sondern müssen gemeinsam erarbeitet werden.
3.1.1 Freiwilligkeit und Partizipation der Familie
Unter dem Sammelbegriff der Partizipation finden sich demokratisch begründete Formen der Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung wieder (vgl. Wolff 2014, S. 437). In unserer demokratischen Gesellschaft wird Partizipation als ein Recht aller Menschen unabhängig von ihrem Lebensalter betrachtet. Dabei kann Partizipation eine große Spannbreite aufweisen, die verschiedene Abstufungen zwischen den beiden Polen der Selbst- und der Fremdbestimmung in sich trägt. In den Institutionen der Erziehungshilfe müssen auf sämtlichen Ebenen Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitwirkung eingeräumt werden, die für alle geltend sind - für Kinder, Jugendliche, Eltern und Fachkräfte. Strukturell verankerte Partizipationsmöglichkeiten finden in verschiedenen Gremien statt und gelten als ein Bürgerrecht. In den Hilfen zur Erziehung sind jedoch besonders die Beteiligungschancen in den Alltagssituationen relevant (vgl. ebd., S. 439). Die Mitbestimmung bei Entscheidungen, Planungen oder Aktivitäten wird in professioneller Beziehungsarbeit ausgehandelt. In Entscheidungssituationen zeigt sich besonders deutlich, welches Partizipationsniveau pädagogische Fachkräfte zulassen können. Die Zusammenarbeit mit den Familien sollte größtenteils auf einer freiwilligen Mitarbeit basieren, die der Familie auch Freiraum zur Selbstverantwortung lässt. Die SPFH kann bei Entscheidungen beratend zur Seite stehen, Vorschläge unterbreiten und Lösungsmöglichkeiten mit den Familienmitgliedern erarbeiten, sollte aber nicht so weit in die Familiendynamik eingreifen, dass sie einzelnen Familienmitgliedern Entscheidungen aus der Hand nimmt. Angestrebte Veränderungsprozesse lassen sich am ehesten verwirklichen, wenn die Veränderung von dem gesamten Familiengefüge mitgetragen wird. Deshalb sollten bei Themen, die die gesamte Familie angehen, alle Familienmitglieder mit einbezogen werden, indem die einzelnen Punkte erörtert und diskutiert werden und jeder Gelegenheit hat, seine Gedanken und Meinungen zu äußern. Selbst kleinere Kinder zeigen mehr Motivation und Bereitschaft zur freiwilligen Beteiligung, wenn sie merken, dass auch ihre Ansichten und Anliegen wichtig sind und in der Familie ernst genommen werden. Frühe Erfahrungen mit Selbstbestimmtheit können die Entwicklung von Heranwachsenden positiv beeinflussen, da sie sich als eigenständige, selbstwirksame Persönlichkeiten erkennen können, denen man etwas zutraut und die einen anerkannten Platz in ihrem sozialen Gefüge einnehmen. Beteiligung ist eine Kompetenz, die im geschützten Raum gelebt und ausprobiert werden darf (vgl. Wolff 2014, S. 440). Im oftmals hektischen Familienalltag kommt die Entwicklung eben dieser Kompetenz häufig zu kurz, weil die Zeit oder die Geduld dafür fehlen, Vernachlässigungsbedingungen herrschen oder die Eltern selber einen Mangel an Beteiligung und Partizipation erlebt haben und sich eher als Opfer der Umstände empfinden denn als selbstwirksame Gestalter ihrer Lebenswelt.
Die Partizipationskompetenz der Familie sollte im Hilfeprozess kontinuierlich ausgeweitet werden. Das Fundament der Beteiligung wird dabei durch die interaktive Beziehungsgestaltung zwischen SPFH und Familie gelegt.
3.1.2 Vertrauensvolle Beziehungsgestaltung
Sozialpädagogische FamilienhelferInnen haben unmittelbaren Zugang zum Leben der Familien. Dieser Zugang wird ihnen aufgrund ihrer offiziellen Funktion als VertreterInnen einer Organisation gewährt (vgl. Wolf 2015, S. 152). Sie sind mit einer besonderen Autorität ausgestattet und ihnen obliegt die Aufgabe, Abweichungen festzustellen, sozialpädagogische Interventionen einzuleiten und regelmäßige Entwicklungsberichte über die Fortschritte ihrer Arbeit mit den AdressatInnen zu verfassen. Die Berichte gelangen in die Akten des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) der Jugendämter, wo sie ohne ihr Zutun an anderer Stelle verwendet werden können. Im privaten Lebensbereich sind die Ansprüche an das Vertrauen besonders hoch, dies betrifft vor allem Interventionen, die von den Familien nicht selbst initiiert wurden und nur eingeschränkt freiwillig erfolgen (vgl. ebd., S. 154). Der Vertrauensschutz lässt sich sozialpädagogisch begründen, desweiteren sind Aspekte des juristisch festgelegten Datenschutzes relevant. Daher kann kein ungehinderter Informationsfluss von der Fachkraft zu den Sozialen Diensten erfolgen, da dieser die Privatsphäre der Familie verletzen könnte. Die freien Träger und mithin auch die FamilienhelferInnen, die die ambulante Hilfe durchführen, tragen hier eine besondere Verantwortung. Sie müssen Chancen und Risiken ihres pädagogischen Handelns und Kommunizierens unter ethischen Gesichtspunkten sorgfältig abwägen und dürfen nicht zum verlängerten Arm des ASD werden.
Die Hilfeplanung kennzeichnet sich durch ein strukturelles Machtgefälle zwischen den sozialpädagogischen Fachkräften und den AdressatInnen, was durch eine partizipative Ausrichtung in ein besseres Gleichgewicht gebracht werden soll. Dies erfordert von den Fachkräften eine offene und respektvolle Grundhaltung und die Fähigkeit, die Perspektive ihrer KlientInnen einnehmen zu können. Jede Familie hat ihre individuellen Ressourcen der Beteiligung, ihre eigenen Ausdrucksformen und sogar ihre eigenen Kommunikations- und Sprachmuster. Wenn es den Fachkräften gelingt, den Familienmitgliedern auf diesen Ebenen auf Augenhöhe zu begegnen und sie als gleichwertige PartnerInnen in der Zusammenarbeit anzuerkennen, kann eine vertrauensvolle und einander wohlgesonnene Beziehung entstehen. In einer Atmosphäre des Vertrauens werden die Familienmitglieder eher bereit sein, ihre schützenden sozialen Masken abzunehmen und ihre tatsächlichen Probleme zu offenbaren. Ein ehrliches Offenlegen kostet Mut und Überwindung, es kann nur dort stattfinden, wo keine Angst vor Verletzung, Kontrollverlust und Vertrauensmissbrauch herrscht. Um an den Punkt zu gelangen, wo die Probleme unverhüllt gezeigt werden können, braucht es Zeit für einen stetigen und geduldigen Beziehungsaufbau, in dessen Verlauf sich die Themen zeigen können. Wenn die Probleme offen gelegt werden, besteht die Möglichkeit, sie an der Wurzel anzupacken, um sie Stück für Stück lösen zu können. Ernsthafte, tiefgehende Probleme, die von der Familie aus Scham oder Angst verdeckt werden, sind manchmal schwer zu packen und können nur symptomatisch behandelt werden, ohne dass die tatsächlichen Ursachen erkannt werden. Dies schwächt die Wirksamkeit der Hilfe ab, da die eigentlichen Probleme im Untergrund weiterhin schwelen. Fröhlich-Gildhoff (vgl. 2014, S. 112) beschreibt, dass es für die Beziehungsgestaltung oftmals hilfreich sein kann, wenn direkt zu Beginn der Hilfe eine größere Herausforderung (z. B. Umzug der Familie oder Schulwechsel eines Kindes) erfolgreich bewältigt werden kann, da konkretes, gemeinsames Handeln zu einer Festigung der Beziehung beiträgt. Das Element der „Passung“ zwischen pädagogischer Fachkraft und Familie ist ein bedeutsamer Wirkfaktor in der erzieherischen Hilfe und kann sich als hilfreich für einen gelingenden Beziehungsaufbau erweisen (vgl. ebd.). Zur Passung gehören Aspekte wie gegenseitige Sympathie, gemeinsame Interessen oder Erfahrungshintergründe als Eltern.
Wenn das Jugendamt Fallanfragen an die Träger der Jugendhilfe richtet, sollten diese ein besonderes Augenmerk darauf haben, dass die Fachkraft, die die Betreuung der Familie übernehmen soll, gut zu den Lebensbiographien und den Strukturen der Familie passt. Nach Esser (vgl. 2014, S. 599) kann eine Passung Brüche zwischen den Lebenswelten des Kindes/Jugendlichen und seiner Familie vermeiden und die Anschlussfähigkeit zwischen der biographischen Vorgeschichte und den Unterstützungsangeboten der FamilienhelferInnen sichern.
Die vertrauensvolle Beziehungsgestaltung ist eine elementare Prämisse in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Deren Fachkräfte beschäftigen sich jedoch nicht nur mit zwischenmenschlichen Belangen, sondern benutzen ein umfangreiches Portfolio (sozial)wissenschaftlicher Ansätze und Methoden, um die Fachlichkeit und die Qualität ihrer Arbeit zu sichern.
In der Hilfeplanung werden Verantwortlichkeiten, Ziele, zeitliche Dauer und Methoden der Hilfe genau umrissen. Die dort genannten Maßnahmen müssen für den Alltag konkretisiert werden, damit sie in der Arbeit mit den Familien umgesetzt werden können. Das nächste Kapitel beleuchtet den Aspekt des sozialpädagogischen Wirkens im Alltag und beschreibt ausgewählte Ansätze und Methoden, die in der erzieherischen Hilfe angewandt werden, um wirksame pädagogische Settings zu schaffen.
3.2 Ansätze und Methoden
Nach Galuske steht sozialpädagogisches Handeln im Alltag unter einer strukturellen Spannung, weil es der Komplexität des Alltags und seinen situativen Anforderungen ausgesetzt ist (vgl. 2013, S. 147). Dieser Alltag ist nicht nur komplex, sondern hält auch Widersprüchlichkeiten bereit, die Verunsicherung auslösen können. Aus diesem Grund benötigen pädagogische Fachkräfte methodisches Handeln zu ihrer Entlastung, um Verstehen zu sichern und um ihr professionelles Handeln dahingehend planbar zu gestalten, dass Erfolge und Misserfolge besser kontrolliert werden können. Müller (2017, S.17, mit Verweis auf Hörster 2005, 2015, Müller 2011) betont, dass „Konzept“ oder „Methode“ im Feld der Sozialen Arbeit nicht technologische Theorieanwendung meint, sondern auf einen selbstreflexiven „kasuistischen“ Diskurs verweist, durch welchen Fachkräfte der Sozialen Arbeit das fallspezifische notwendige Wissen hervorbringen und überprüfbar machen. Sie wenden keine vorgegebene Methode an, sondern sind selbst konstruktiv tätig (vgl. ebd., S. 18). Das theoretische Fachwissen der Fachkräfte ermöglicht ihnen ein besseres Verständnis in der Praxis ihres professionellen Handelns.
Standardisierte Methoden und Verfahren, wie sie in vielen anderen Arbeitsfeldern eingesetzt werden, lassen sich in der sozialpädagogischen Arbeit nicht bestimmen, da Interventionsziele und Wege der Zielerreichung Aushandlungsprodukte zwischen den Fachkräften und den KlientInnen sind (vgl. Galuske 2013, S. 65). „Ein Verständnis von sozialpädagogischen Methoden als Instrumente gezielter Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderung ist weder sinnvoll noch machbar“ (ebd., S. 74). Galuske sieht Kernbereiche methodischen Handelns zum einen in der Konstruktion von Lebensräumen und Situationen, die Beziehungen und gemeinsames Erleben ermöglichen, zum anderen in einem hohen Maß an biographischer Sensibilität und situativer Intelligenz. Beide Faktoren sind wissensbasiert und theoretisch fundiert (vgl. ebd.).
In der sozialpädagogischen Arbeit geht es oftmals nicht um die Umsetzung komplizierter Spezialkonzepte, sondern um die bewusste pädagogische Nutzung von Themen, die im Alltag ohnehin vorkommen (vgl. Köck 2014, S. 344), daher beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel zunächst mit dem Ansatz der Alltags- und Lebensweltorientierung.
3.2.1 Lebensweltorientierung
Das Konzept der Lebensweltorientierung wurde von Hans Thiersch in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts begründet und hat sich zunehmend als einer der maßgeblichen Ansätze in der theoretischen Diskussion herausgestellt. Auch in der Praxis konnte sich die Lebensweltorientierung durchsetzen, sie bestimmt die Standards der Sozialen Arbeit bis in die neueren Entwicklungen hinein (vgl. Grunwald/Thiersch 2016, S. 24). Lebensweltorientierung rückt den Alltag der Familien als den ursprünglichen Ort sozialpädagogischen Handelns in den Fokus (vgl. Galuske 2013, S. 146). Die Lebenswelt ist der Ort, wo die Familie ihr Leben lebt, dort entstehen die Probleme und dort werden auch „mehr oder minder angemessene Strategien“ der Lebensbewältigung entwickelt.
Lebensweltorientierung zielt demnach auf die vorhandenen Lebensverhältnisse der AdressatInnen, in denen Hilfe zur Lebensbewältigung gewährt werden soll. Dies vollzieht sich unter Einbeziehung der individuellen, sozialen und politischen Ressourcen sowie der sozialen Netze und der jeweiligen lokalen und regionalen Strukturen. In diesem Kontext bezeichnet Thiersch (2016, S. 13) die Familienhilfe als „ein spezifisches Arrangement einer Hilfe in der alltäglichen Lebenswelt, in dem ein/e Sozialarbeiter_in ihre/seine professionellen Kompetenzen nutzt, um mit der Familie zusammen und an ihrem Leben teilnehmend, in den Problemen, Ressourcen und Möglichkeiten ihrer alltäglichen Lebenswelt nach Wegen zu einem gelingenderen Alltag zu suchen“.
Alltag ist nach Thiersch (2014, S. 43) eine spezifische Art, die Realität zu erfahren, sich in ihr zu orientieren und sie zu gestalten. Alltäglichkeit ist ein Handlungsmodus in verschiedenen Konstellationen wie z.B. der Familie, der Schule, der Arbeitswelt und der Öffentlichkeit, die unterschiedliche soziale Settings von Alltagswelten bilden. Die Handlungsorientierung ist gesichert durch Typisierungen und Routinen, die sich auf die kleinen, unscheinbaren und immer wiederkehrenden Dinge fokussieren, die das Alltagsleben ausmachen (vgl. ebd., S. 45). Die Nähe zum Alltag erlaubt den SozialpädagogInnen mit den Familien an Problemen zu arbeiten und die Auswirkungen ihrer Interventionen zu beobachten (vgl. Winkelmann 2014, S. 112). Die Lebensweltorientierung soll den Familien eine bessere Bewältigung ihres Alltags und ihrer Lebensumstände ermöglichen mit dem Ziel eines gelingenden Lebens.
Der Alltag von Familien kann ein vielschichtiger Lernort sein und stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für Entwicklungs- und Bildungsprozesse dar. In den erzieherischen Hilfen nutzen Fachkräfte den Alltag nicht nur, um Defizite der AdressatInnen zu beheben, sondern vor allem auch, um die Ressourcen ihres Klientels zu fördern, damit eine tragfähige Plattform für die Verbesserung der Lebenschancen entstehen kann. Die Familien sollen letztendlich befähigt werden, die Gesamtheit ihrer Möglichkeiten zu nutzen, um ein gelingendes Leben zu verwirklichen.
3.2.2 Empowerment
Das Empowerment-Konzept wird auf zwei unterschiedlichen Ebenen diskutiert: Zum einen vor dem Hintergrund seiner Entstehung als Emanzipationsbewegung sozial benachteiligter Menschen - zum anderen als Arbeitsansatz professioneller Fachkräfte in der Sozialen Arbeit (vgl. Sohns 2009, S. 76).
Unter Empowerment in der sozialpädagogischen Erziehungshilfe ist ein ressourcenorientierter Ansatz zu verstehen. Gemeint ist die Befähigung von AdressatInnen, einen eigenen Beitrag zur Problemlösung zu erbringen, indem sie lernen, die sozialräumlichen Möglichkeiten zu nutzen, die in ihrem Lebensumfeld zur Verfügung stehen (vgl. Böhnisch 2008, S. 294). Empowerment ist demgemäß ein Schlüsselbegriff der „Hilfe zur Selbsthilfe“, da es auf die Selbstermächtigung und Ausprägung der eigenen Kompetenzen bei den AdressatInnen gerichtet ist.
Bei der Ermittlung des Hilfebedarfs soll es nicht ausschließlich um die Problemlagen der Familien drehen, vielmehr sollen die Lösungsansätze im Vordergrund stehen (vgl. Esser 2014, S. 601). Sowohl materielle und persönliche Ressourcen (finanzielle Mittel, besondere Fähigkeiten, Stärken, Bewältigungsstrategien etc.) als auch die Ressourcen, die im Sozialraum zur Verfügung stehen (gute Kontakte in den peer-groups, Ausübung von Hobbies und sportlichen Aktivitäten usw.) können als protektive Faktoren in der Hilfe genutzt werden. In Zusammenarbeit mit den Klienten kann eine Ressourcenkarte mit den wichtigsten Unterstützungsmitteln erstellt werden. Dieser Prozess kann den Familienmitgliedern verdeutlichen, über welche Mittel sie eigentlichen verfügen und wie sie diese am besten nutzen könnten, um die familialen Problemlagen zu lösen. Darauf aufbauend kann ein Befähigungsplan für die Familie erstellt werden mit individuellen Zielen für die Beteiligten. Auswertungen von erzieherischen Hilfen zeigen, dass ressourcenbezogene Ziele eher erreicht werden und nachhaltigere Wirkung besitzen als defizitbezogene Ziele. (vgl. ebd. S. 602).
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