Flüchtlinge oder Geflüchtete. Umkämpfte Begriffe in der Flucht- und Migrationsforschung

Eignet sich der Flüchtlingsbegriff für eine rassismuskritische Flucht- und Flüchtlingsforschung?


Seminararbeit, 2018

25 Seiten, Note: 1,0

Tobias Hamm (Autor:in)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Flüchtlingsbegriff
2.1 Semantische Dimension
2.2 Rechtliche Dimension
2.3 Politische Dimension

3. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung: Forschungsfeld und Entwicklung

4. Analysemodell: Bewertungskriterien wissenschaftlicher Begriffe
4.1 Wissenschaftstheorie
4.2 Ethik

5. Eignet sich der Flüchtlingsbegriff für eine rassismuskritische Flucht-und Flüchtlingsforschung?
5.1 Wissenschaftstheoretische Eignung
5.2 Ethische Eignung

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im öffentlichen Sprachgebrauch werden Begriffe häufig unbedacht und ohne hinreichende Kenntnisse ihrer tieferen Bedeutung verwendet (Seiler 2001, S.6). Einige sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer Verrohung der Sprache, die sich insbesondere in politischen Debatten um Einwanderung und Flüchtlinge zeigt (Diez 2018). Begriffe forcieren darin zu politischen Instrumenten, werden zu Kampfbegriffen stilisiert und können schließlich höchst diskriminierend gegenüber Menschen wirken, die des Schutzes bedürftig sind.

In den letzten Jahren ist vor allem über den Flüchtlingsbegriff eine breite öffentliche Debatte entfacht, die durch Deutungskämpfe zersetzt ist. Begriffliche Unklarheiten machen dabei selbst vor wissenschaftlichen Standards nicht halt. Denn selbst in der Flucht- und Flüchtlingsforschung, von der man klärende Antworten für die gesellschaftliche Debatte um den Flüchtlingsbegriff erwarten könnte, ist der Flüchtlingsbegriff höchst umstritten (Betts 2009, S.260). Es wird bemängelt, die Flucht- und Flüchtlingsforschung habe den Begriff aus der Politik übernommen und würde damit unbewusst sogar seine diskriminierende Intention verstärken (Turton 2003, S.14). Darin zeigt sich der oftmals schwierige Spagat der Wissenschaft, Phänomene objektiv zu benennen und dabei zwangsläufig auf Begriffe zurückgreifen zu müssen, die eine subjektive Assoziation wecken (Mayer 2013, S.7). Viele verschiedene Autoren haben einzelne weiterführende Argumente gegen und für die Verwendung des Flüchtlingsbegriffs in der Flucht- und Flüchtlingsforschung formuliert. Sie formulieren den Bedarf, die vielen verschiedenen Argumente zusammenzufassen und gegeneinander abzuwägen. Denn bevor die Flucht- und Flüchtlingsforschung von wissenschaftlicher Seite aus einen Beitrag für die gesellschaftliche Debatte um den Flüchtlingsbegriff leisten kann, muss sie die Frage beantworten, der sich diese Arbeit widmet:

Eignet sich der Flüchtlingsbegriff für eine rassismuskritische

Flucht- und Flüchtlingsforschung?

Zunächst wird in Kapitel 2 ein kurzer Überblick über die Geschichte des Flüchtlingsbegriffs gegeben. Es werden darüber hinaus verschiedene Begriffsbedeutungen aus der semantischen, juristischen und politischen Dimension vorgestellt. Sie dienen der Analyse als argumentative Grundlage und stellen nur den für die Forschungsfrage relevanten Ausschnitt vieler möglicher weiterer Begriffsbedeutungen dar. Daran anschließend wird in Kapitel 3 die Flucht- und Flüchtlingsforschung selbst vorgestellt. Es wird das Forschungsfeld benannt, ihre Entwicklungsgeschichte wiedergegeben und schließlich die aktuelle Situation der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland dargestellt, um in der Analyse darauf zurückzugreifen. In Kapitel 4 wird das Analyseraster hergeleitet, das sich hauptsächlich auf die Erkenntnisse von Sabine Müller stützt. Das Analyseraster besteht neben einer wissenschaftstheoretischen Bewertung, die durch die Eignungskriterien Objektivität und Verständlichkeit gekennzeichnet ist, auch aus einer ethischen Bewertung des Flüchtlingsbegriffs. Es bildet damit Eignungskategorien, in denen sich die Argumente für und gegen den Flüchtlingsbegriff in der Flucht- und Flüchtlingsforschung einordnen lassen. In Kapitel 5 werden schließlich die einzelnen Argumente vorgestellt und bewertet. Es stellt sich heraus, dass sich der Flüchtlingsbegriff aus wissenschaftstheoretischer Sicht nicht eignet. Im Zusammenhang mit der ethischen Bewertung des Begriffs wird in Kapitel 5 schlussendlich begründet nachvollzogen, warum die Flucht- und Flüchtlingsforschung dennoch am Flüchtlingsbegriff festhalten sollte.

2. Der Flüchtlingsbegriff

Flucht bewegt die Menschheitsgeschichte seit jeher. Aus diesem Grund müssen in der frühen Geschichtsschreibung immer schon Bezeichnungen für dieses Phänomen gefunden worden sein. Eine erste Verwendung des Flüchtlingsbegriffs lässt sich aber nicht genau datieren. Im 8. und 9. Jahrhundert taucht bereits das Wort fliehen auf (Pfeifer 1989, S.455). Doch erst im Zusammenhang der Hugenottenflucht1 im 17. Jahrhundert und der fortschreitenden Entwicklung des modernen Staates wird von Flüchtlingen nach einem modernen Verständnis gesprochen (Schmalz 2015, S.9).

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den damit verbundenen Fluchtbewegungen in Europa, erlangt der Flüchtlingsbegriff schließlich seinen semantischen Aufschwung und etabliert sich im öffentlichen Diskurs. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands wird dem Begriff eine weitgehend wertneutrale Bedeutung zugeschrieben (Byman 2011, S.50). Doch mit dem Ende des Kalten Krieges und der einsetzenden internationalen Globalisierungs- und Modernisierungswellen, durchläuft der Flüchtlingsbegriff eine kontroverse Phase, die bis heute andauert (Jöris 2015, S.3).

Flucht erscheint im internationalen politischen System mit unterschiedlich ausgeprägter Staatlichkeit, größer werdenden Wohlstandsgefällen bei gleichzeitiger globaler Vernetzung der Lebenswelten als ein komplexes und politisiertes Phänomen, dass durch eine Vielzahl von Interessen beeinflusst wird (Keijzer / Schraven, 2015). Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Was macht einen Menschen zum Flüchtling und was nicht? Was also ist ein Flüchtling und wer entscheidet darüber (Jöris 2015, S.1)? So komplex und umstritten die Fragen anmuten, so unterschiedlich sind die möglichen Antworten, die sich aus verschiedenen Perspektiven formulieren lassen. Je mehr Interessen anstelle von Sachargumenten im Vordergrund stehen und je weniger sich Gemeinsamkeiten bei den Antworten auf die Fragen finden lassen, desto umkämpfter ist der Flüchtlingsbegriff als wirkmächtige Unterscheidungsressource (Göhler / Iser / Kerner 2011, S.8).

Was unter einem Flüchtling zu verstehen ist, kann angesichts der Fülle an Bedeutungen in diesem Kapitel nicht erschöpfend beantwortet werden. Stattdessen werden im Folgenden grundlegende Bedeutungen der für diese Arbeit relevantesten Dimensionen zusammengefasst.

2.1 Semantische Dimension

Als Bedeutungslehre hat die Semantik den Anspruch, Wörter, Sätze und Begriffe neutral zu beschreiben und ihre Bedeutung zu entschlüsseln (Chur / Schwarz 2004, S.15). Insofern kann mit dieser Dimension zunächst ein grundlegendes und noch weitgehend konfliktfreies Verständnis des Flüchtlingsbegriffs vorgestellt werden, bevor in den nachfolgenden Unterkapiteln immer differenziertere und kontroversere Bedeutungen des Flüchtlingsbegriffs hinzukommen.

Weitgehende Einigkeit herrscht in der Fachliteratur darüber, dass der Flüchtlingsbegriff zunächst einmal als Sammelbegriff verstanden werden kann. Unter dem Flüchtlingsbegriff werden Personen zusammengefasst, die den Ort verlassen mussten, an dem sie vorher waren (Schmalz 2015, S.9). Diese weit gefasste Bedeutung des Flüchtlingsbegriffs impliziert also noch keine Fluchtursachen und ist räumlich offen. Viele Kritiker ließen sich womöglich über diese weite Deutung des Flüchtlingsbegriffs zusammenfassen. Doch durch seine Offenheit als Oberbergriff für differenzierte Fluchtphänomene verliert er an Aussagekraft (Jöris 2015, S.1). Daraus lässt sich der Einwand ableiten, der Flüchtlingsbegriff sei als Sammelbegriff inhaltsleer, kontext- und sprecherabhängig. Kurzum: Er sei für eine Verwendung im öffentlichen Leben, der Wissenschaft, wie in der Politik zu unscharf (Scalettaris 2007, S.38-39).

Diese Offenheit hat andererseits zur Folge, dass er für eine Vielzahl von Bedeutungen anschlussfähig ist, die von einem Akteur individuell gesetzt werden können (Cole 2017, S.2). Der Sprecher kann unter Flüchtlingen beispielsweise Menschen meinen, die vor Armut fliehen oder aber Menschen, die vor einem Unrechtsregime auf der Flucht sind. Somit weist der Flüchtlingsbegriff das besondere Merkmal auf, unter einem sprachlichen Zeichen mehrere Bedeutungen parallel zu umfassen. In der Semantik kann der Flüchtlingsbegriff daher als homonymes Wort eingeordnet werden (Pozzo 2011, S.33). Gleichzeitig reiht er sich als Synonym in viele verschiedene sprachliche Zeichen, wie Vertriebene und Geflüchtete, Asylbewerber oder Schutzsuchende, ein, die ähnliche Bedeutungen aufweisen (Mediendienst Integration 2018, S.2-3).

Auch die Dudenredaktion, die seit vielen Jahrzehnten als professionelle Institution zu Fragen der deutschen Sprache versucht, sprachliche Sicherheit zu verleihen (Bibliographisches Institut GmbH 2018a), spricht sich gegen einen weit gefassten Flüchtlingsbegriff aus. Dem Duden nach ist ein Flüchtling eine „ Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz zurückgelassen hat (Bibliographisches Institut GmbH 2018b). Die Definition ähnelt damit auffallend stark der rechtlichen Auslegung des Flüchtlingsbegriffs, die im Anschluss vorgestellt wird.

2.2 Rechtliche Dimension

Die rechtliche Bedeutungsdimension des Flüchtlingsbegriffs lässt sich grundsätzlich auf die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 zurückführen. Hiernach ist ein Flüchtling eine „Person, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann (UNHCR 1951, S.6) .“ Seit 1967 gilt diese Definition sowohl zeitlich als auch räumlich unbegrenzt. Insgesamt tragen 144 Staaten diese Rechtsdefinition mit, die auch für das deutsche Asylrecht maßgebend ist (Jöris 2015, S.1). Sie kann als konventionelle Form des Flüchtlingsbegriffs verstanden werden. Hiernach liegt der Fokus der Definition von Flüchtlingen auf den Lebensverhältnissen in den Herkunftsländern der Menschen, die sich auf die Flucht begeben (Niedrig / Seukwa 2010, S.184).

Im Gegensatz dazu lässt sich eine innovative Form des Flüchtlingsbegriffs formulieren, nach der die Definition von Flüchtlingen nicht von den Verhältnissen im Herkunftsland abhängt sondern von den im Rechtssystem des Ankunftslandes definierten Kriterien, die über die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus entscheiden (Niedrig / Seukwa 2010, S.184). In der Regel ist die rechtliche Auslegung des Flüchtlingsbegriffs deutlich enger zugeschnitten, weil die rechtsetzenden Staaten auch aus Kostengründen ein Interesse daran haben, die Aufnahme von Flüchtlingen zu begrenzen (Chalk 1998, S.154).

In beiden Perspektiven wird der Flüchtling durch rechtliche Kriterien bestimmt, die von den einzelnen Nationalstaaten gesetzt werden. Die unüberwindbare Verbindung von Recht und Staat begründet eine staatszentrierte Sichtweise, die dem Flüchtlingsbegriff in der rechtlichen Dimension zu Grunde liegt (Kleist 2018b, S.6). Im elementarsten staatstheoretischen Sinne ist diese Sichtweise durch die Abgrenzung eines klar benennbaren Staatsgebietes und Staatsvolkes bestimmt. Durch diesen Rahmen werden zunächst all jene exkludiert, die nicht innerhalb dieser festgesetzten Grenzen fallen. Aus dieser prinzipiellen Geschlossenheit von Staatlichkeit heraus, erwächst die Herausforderung für das Rechtssystem, die Aufnahme oder den Ausschluss von Flüchtlingen begründen zu müssen. Damit wird dem Flüchtlingsbegriff in der rechtlichen Dimension unweigerlich eine normative Eigenschaft zugeschrieben, die durch die politischen Verhältnisse in den jeweiligen Nationalstaaten unterschiedlich bestimmt wird (Schmalz 2015, S.10).

Daran lässt sich eine dritte Form anschließen, die als transnationale Perspektive bezeichnet wird und die rechtliche Dimension mit einer politischen verbindet. Hiernach sind Flüchtlinge nicht nur ein Produkt der Lebensverhältnisse im Herkunfts- oder der rechtlichen Verhältnisse im Ankunftsland, sondern der sich ändernden politischen und sozialen Verhältnisse, die weltweit miteinander komplex vernetzt sind (Niedrig / Seukwa 2010, S.184). Letztendlich ist das geltende Recht ein Endprodukt vorrangegangener politischer Prozesse und Diskurse, die nun im nachfolgenden Unterkapitel abschließend betrachtet werden.

2.3 Politische Dimension

Seit der deutlichen Zunahme von Asylbewerbern in den Jahren 2013 und 2014 bestimmt die Flüchtlingspolitik die politische Agenda in Deutschland mit zunehmender Dominanz (BDI 2016, S.3). Gleichzeitig werden öffentliche Debatten über eine Willkommenskultur und dem angemessenen Umgang mit den ankommenden Flüchtlingen angestoßen. In diesem Zusammenhang wird der Flüchtlingsbegriff von den Medien, einzelnen Bürgern, Verbänden und einem Teil der Parteien proaktiv in Frage gestellt.

Dabei erhärtet sich die Kritik, der Flüchtlingsbegriff konstruiere eine Opferrolle (Niedrig / Seukwa 2010, S.184). So sei dem Begriff durch das Suffix –ing grundsätzlich eine passive und schutzbedürftige, überwiegend negative Eigenschaft eingeschrieben (Stefanowitsch 2012). Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die intuitiven Bedeutungen von Wörtern mit ing-Endungen, wie Säugling oder Schädling, auf den Flüchtlingsbegriff übertragen und zu einer Attribution von Schwäche oder Boshaftigkeit führen.

Darüber hinaus begünstige der Flüchtlingsbegriff Stigmatisierungen, indem er als unscharfer Begriff Menschen mit unterschiedlichen Fluchtmotiven zu einer homogenen Gruppe zusammenfasst und pauschalisiert (Jöris 2015, S.1). Er erwecke den missverständlichen Eindruck, die Flucht sei freiwillig geschehen. Häufig wird der Flüchtlingsbegriff in der politischen Auseinandersetzung vor allem durch Akteure aus dem rechten Parteienspektrum mit der Bedeutung überlagert, es handle sich nicht um echte Flüchtlinge, die vor Gewalt und Verfolgung fliehen und damit ein Recht auf Schutz verdienen, sondern um Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen (Bade 2015, S.5). Führt die Stigmatisierung zu Nachteilen und Beschränkungen in der persönlichen Lebensführung und der Teilnahme am gesellschaftlichen Zusammenleben (Fritzsche / Karawanskij / Liebscher 2010, S.27), erwächst der Flüchtlingsbegriff zu einem diskriminierenden Ausdruck (Polzin 2016, S.44-45), der den Kern öffentlicher Debatten um den Flüchtlingsbegriff abbildet.

Einige der Kritiker führen daraufhin neue Begrifflichkeiten ein. Ein Beispiel dafür ist der Begriff der Geflüchteten, der den negativen Konnotationen des Flüchtlingsbegriffs gegenübergestellt wird. Hiernach zielt der Begriff des Geflüchteten darauf ab, die Flucht als Prozess abzuschließen und das Ankommen in den Vordergrund zu rücken (Sueddeutsche Zeitung 2017).

Andere wiederum versuchen, den Flüchtlingsbegriff von seinen negativen Konnotationen zu befreien. So sei gerade der Flüchtlingsbegriff in den 90er Jahren von Vereinen und Verbänden bewusst konstruiert worden, um den abwertenden Asylantenbegriff zu verdrängen. Die gegenwärtige Verwendung des Flüchtlingsbegriffs in der Öffentlichkeit sei daher ein gutes Zeichen dafür, dass dieses Vorhaben gelungen ist. (Kothen 2016, S.24)

3. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung: Forschungsfeld und Entwicklung

Das komplexe Phänomen Flucht begründet ein weites Erkenntnisinteresse, das der Flucht- und Flüchtlingsforschung zu Grunde liegt. Neben Fragen zu „ Bedingungen, Formen und Folgen von Flucht und Vertreibung (Kleist 2018a) auf internationaler, nationaler oder lokaler Ebene (Kleist 2018a), beschäftigt die Flucht- und Flüchtlingsforschung auch Lösungsstrategien, die im Zusammenhang der Fluchtproblematik von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren erarbeitet werden. Im Rahmen einer kritischen Flucht- und Flüchtlingsforschung werden darüber hinaus normative Intentionen abgeleitet, wonach Forschungsergebnisse auch dazu dienen sollen, Fluchtproblematiken in der Praxis besser lösen zu können (Drotbohm / Nieswand 2014, S.6).

Aufgrund der thematischen Nähe ist die Flucht- und Flüchtlingsforschung nicht immer trennscharf von der Integrations- und Migrationsforschung zu unterscheiden (Kleist 2018b, S.6). Die Migrationsforschung untersucht alle weltweiten Bewegungen von Menschen und Menschengruppen (Arens / Mecheril / Melter / Olalde / Romaner 2013, S.8). Ihre Eingliederung in die jeweiligen Gesellschaften und Staaten ist wiederum Gegenstand der Integrationsforschung (Gesemann 2010, S.5-8). Beide Forschungsstränge sind damit thematisch weiter ausgerichtet und deshalb von der Flucht- und Flüchtlingsforschung zumindest analytisch abzugrenzen. Nichtsdestotrotz ist die aktuelle thematische Ausrichtung der Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland in ihrem Schwerpunkt vor allem in der Europa- und Integrationspolitik zu verorten, sodass thematische Überschneidungen gegenwärtig nicht aufzulösen sind. Forschungslücken tun sich dagegen in der Flucht- und Flüchtlingsforschung in den letzten Jahren vor allem bei der Untersuchung von Fluchtursachen und –dynamiken auf (Kleist 2017, S.1).

Die Anfänge der Flucht- und Flüchtlingsforschung lassen sich mit einer ersten Phase von 1914 bis 1945 zusammenfassen, die durch die beiden Weltkriege bestimmt war. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung konzentrierte sich dabei auch auf Aspekte der Kolonialisierung. Bedingt durch das Ende des Zweiten Weltkrieges, beschäftigte sich die Flucht- und Flüchtlingsforschung in der Phase von 1945 bis 1982 mit den Spätfolgen des Weltkrieges. Dabei entstanden umfassende Studien zu Flüchtlingslagern von Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen, wie auch Studien über die transnationalen Flüchtlingsorganisationen wie der United Nations High Commissioner for Refugees UNHCR. Von 1982 bis zur Jahrtausendwende war die Flucht- und Flüchtlingsforschung vor allem durch ihre fortschreitende Institutionalisierung im englischsprachigen Raum bestimmt. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung gewann in dieser Zeit durch größere Flüchtlingsströme aus den südlichen Teilen der Welt in die europäischen Regionen zunehmend an Relevanz (Chimni 2009, S.14). In einer vierten und letzten Phase werden alle neueren Entwicklungen im Zuge einer modernen Flucht- und Flüchtlingsforschung erfasst, die zuletzt mit der Flüchtlingskrise seit 2013 einen zweiten Aufschwung erlebt (Kleist 2018b, S.1). Im Rahmen dessen werden die Refugee Studies immer mehr von Forced Migration Studies ergänzt. Somit etablieren sich Forschungszweige über Einflussfaktoren und Bedingungen, die Menschen dazu zwingt, aus ihrer Heimat zu flüchten (Mason 2000, S.241-242). Gleichzeitig erlebt die Migrationsforschung eine reflexive Wende, in der die von der Gesellschaft und Wissenschaft geprägten Vorstellungen über Flüchtlingen und Migranten hinterfragt werden. Es bildet sich eine kritische gesellschaftswissenschaftliche Perspektive heraus, „die nach Mitteln sucht, angemessenere Beschreibungen der gesellschaftlichen Realität zu erzeugen (Drotbohm / Nieswand 2014, S.6) .“

Das breite Forschungsfeld der Flucht- und Flüchtlingsforschung hat zur Folge, dass eine ganze Reihe wissenschaftlicher Disziplinen in die Erforschung von Fluchtphänomenen einbezogen werden. So lassen sich in der Psychologie und Philosophie, der Rechtswissenschaft, sowie der Soziologie und Politikwissenschaft, bis hin zur Ethnologie und Geographie Forschungsprojekte finden, die sich mit Fragen der Flucht- und Flüchtlingsforschung befassen (Kleist 2018a).

Bisher fehlt jedoch in der Flucht- und Flüchtlingsforschung ein Zusammenschluss der Disziplinen zu einer Grundlagenforschung (Kleist 2018a). In Anbetracht dessen ist es problematisch, überhaupt von einer zusammenhängenden Flucht- und Flüchtlingsforschung zu sprechen. Darüber hinaus werden die Einzelprojekte aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untereinander kaum vernetzt, obwohl sie für eine interdisziplinäre Erschließung der Flucht- und Flüchtlingsforschung prädestiniert wären (Kleist 2017, S.4). Das liegt vor allem auch daran, dass eine Institutionalisierung der Flucht- und Flüchtlingsforschung, wie sie in den 80er Jahren im englischsprachigen Raum erfolgte, in Deutschland ausblieb (Kleist 2018b, S.1). Erst mit den dramatischen Fluchtentwicklungen seit 2013 wurden in den letzten Jahren verstärkt Netzwerke und Foren gegründet, um diese Lücken zu schließen (Internationales Konversionszentrum Bonn 2018). Dennoch sind viele aktuelle Forschungsprojekte der Flucht- und Flüchtlingsforschung zu kurz angesetzt, weil wichtige Forschungsgelder fehlen. Kleist kritisiert außerdem, dass die sich erst noch entwickelnde Grundlagenforschung bislang zu sehr von Aufträgen aus der Politik bestimmt sei und in Zukunft mehr Eigenständigkeit gewinnen müsse (Kleist 2017, S.1). Der insgesamt als vage und unscharf geltende Wirkbereich der Flucht- und Flüchtlingsforschung unterstreicht umso mehr den fachlichen Streit über den Begriff dieses Forschungsfeldes, mit dem sich die Arbeit im Kapitel 5 argumentativ auseinandersetzt.

[...]


1 Die Hugenotten, französisch sprachige Christen, flüchteten im 17. Jahrhundert aus Frankreich, um der restriktiven Politik Ludwig des XIV, der eine Ausreise der Hugenotten verboten lies, zu entfliehen und ihren Glauben uneingeschränkt leben zu können (Austilat 2017).

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Flüchtlinge oder Geflüchtete. Umkämpfte Begriffe in der Flucht- und Migrationsforschung
Untertitel
Eignet sich der Flüchtlingsbegriff für eine rassismuskritische Flucht- und Flüchtlingsforschung?
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
25
Katalognummer
V1163898
ISBN (Buch)
9783346567574
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Flüchtlingsbegriff, Geflüchtete, Fluchtforschung, Migrationsforschung
Arbeit zitieren
Tobias Hamm (Autor:in), 2018, Flüchtlinge oder Geflüchtete. Umkämpfte Begriffe in der Flucht- und Migrationsforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1163898

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