Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historisches Lernen
2.1 Geschichte und die Relevanz des historischen Lernens
2.2 Geschichtsbewusstsein – Aufgabe, Ziel oder Voraussetzung?
3 Das Kind als Ausgangspunkt von historischem Lernen
3.1 Lernvoraussetzungen von Kindern für historisches Lernen
3.2 Künftige Entwicklungsaufgaben und Ziele des historischen Lernens
3.3 Inhalte historischen Lernens
3.4 Mögliche Themen des historischen Sachunterrichts
4 Holocaust - ein Thema für den Sachunterricht?
4.1 Die Frage nach dem ,Ob‘ und dem ,Warum‘ - Einblicke in den Diskurs
4.2 Die Frage nach dem ,Wie‘ – Historische Lernanlässe schaffen
5 Auf den Spuren von Sally Adamson – ein Praxisbeispiel
5.1 Biografischer Hintergrund
5.2 Didaktischer Schwerpunkt
6 Resümee
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Wissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und auf einer Gedenktafel vor einem stählernen Mahnmal im Schlosshof eines kleinen Ortes am Fuße der Schwäbischen Alb, das an den Bürger Sally Adamsohn erinnern soll.
An einen „[…] von über fünf Millionen Juden, die dem Rassenwahn von den deutschen Nationalsozialisten und ihren Helfern zum Opfer fielen“, wie es auf der Gedenktafel weiter geschrieben steht.
Nicht weit vom Schloss entfernt befindet sich die Grundschule. Regelmäßig kommen Schulklassen auf ihrem Weg zu den Wechselausstellungen im Schloss an dieser Stelle vorbei. Die Schüler:innen sehen das Objekt. Ein Kind entdeckt den Namen Sally Adamsohn auf der Tafel und plötzlich sprudelte es heraus: „Ich wohne am Sally-Adamsohn-Platz“… „ da ist doch der ganz große Spielplatz, da hängt ein Foto von dem Mann“… „bei meinem alten Kindergarten steht eine Tafel mit einer Geschichte von dem“… „das war ein berühmter Arzt und der hat früher dort gewohnt“… „auf dem Weg zur Schule, da laufe ich immer an sowas goldenem im Boden vorbei, da steht sein Name drauf“… „der war ein Jude und wurde dort von Hitler ermordet“… „oh, das ist aber gruselig“… „warum hat der Hitler den getötet?“…1
Kinder wissen mehr als man vermutet und nehmen die Welt auf eine ganz eigene Weise wahr. Sie stellen Fragen und sind immer auf der Suche nach Antworten. Sie stolpern über Unbekanntes, versuchen es in ihre Vorstellungen einzuordnen und erschließen sich so Stück für Stück die Welt im Privaten wie im Schulischen.
Damit sich aus den Vorstellungen der Kinder jedoch tragfähige und belastbare Konzepte entwickeln, brauchen Kinder Unterstützung und Begleitung.
In der schulischen Bildung der Primarstufe ist dieser Bildungsanspruch im Sachunterricht verankert:
Die besondere Aufgabe des Sachunterrichts besteht darin, Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, ihre natürliche, kulturelle, soziale und technische Umwelt sachbezogen zu verstehen, sie sich auf dieser Grundlage bildungswirksam zu erschließen und sich darin zu orientieren, mitzuwirken und zu handeln.2
Doch können Grundschulkinder mit ihrer überschaubaren Lebensgeschichte und ihren begrenzten Erfahrungen auch historische Sachverhalte einordnen und verstehen? Sind komplexe und emotionale Themen, wie zum Beispiel Holocaust und Nationalsozialismus als Gegenstand des historischen Sachunterrichts vertretbar und geeignet? Und wenn ja, wie können dann altersgerechte Lernanlässe geschaffen werden, damit Schüler:innen Antworten auf ihre Fragen bekommen, ohne dass sie überfordert und verängstig werden?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Seminararbeit.
Zu Beginn geht es zunächst um Grundlagen des Historischen Lernens im Sachunterricht. Dabei wird als Einstieg ein weitgefasster Begriff von Geschichte beschrieben (von Reeken), aus dem sich direkt der aktuelle Bildungsanspruch für das Historische Lernen im Sachunterricht erschließt (GDSU). Im darauffolgenden, bewusst sehr reduzierten und vereinfacht dargestellten Diskurs zum Geschichtsbewusstsein, soll dann sowohl aus sachunterrichtsdidaktischer als auch geschichtsdidaktischer Sicht (Pandel) geklärt werden, inwieweit Grundschulkinder bereits in der Lage sind, sich historische Sachverhalte angemessen zu erschließen. Dazu werden auch die Ergebnisse einer Studie (Kübler) zu Kindervorstellungen über Geschichte und die daraus resultierende Entwicklungsziele vorgestellt. Auf Grundlage dessen wird im Anschluss dargestellt, wie sich daraus Lerninhalte und Themen entwickeln lassen.
Aufbauend auf die bisherigen Erkenntnisse der Arbeit geht es dann um die Fragen, ob und warum der Holocaust ein Thema für den Sachunterricht sein kann. Mit einem kurzen Einblick in den zum Teil kontroversen fachwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre wird versucht, darauf eine Antwort zu finden. Abschließend wird anhand des Praxisbeispiels „Auf den Spuren von Sally Adamsohn“ eine mögliche didaktische Umsetzung von einem biografischen Zugang zu Geschichten des Holocaust skizziert.
2 Historisches Lernen
2.1 Geschichte und die Relevanz des historischen Lernens
Jeder Mensch trifft in seinem Alltag immer wieder auf Geschichte – manchmal ganz bewusst, aber meist eher zufällig. Überall lassen sich Spuren von Vergangenem, z.B. in Form von Überresten, Denkmälern, Erinnerungen oder Erzählungen entdecken. Diese prägen auch die Gegenwart und Lebenswelt von Grundschulkindern. Dabei werden in ganz unterschiedlichen Begegnungen und Erfahrungen automatisch und nebenbei historische Lernprozesse in Gang gesetzt, durch die sich Kinder ein ganz eigenes Verständnis und Wissen über Geschichte konstruieren und individuelle Vorstellungen über vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Leben aneignen .3 Doch dieses alltagsweltliche Geschichtsbewusstsein bildet sich aus einer kollektiven und normierten Geschichtskultur heraus, voll von Stereotypisierungen und kulturell geprägten Wertungen, bei der Kinder zudem täglich mit tradierten Aussagen konfrontiert und zum Teil auch überfordert werden. Sie stoßen auch auf unreflektierte Deutungsmuster und geraten an falsche Informationen oder einseitige Sichtweisen.4
Die daraus entstehenden Fragen, Irritationen und Missverständnisse zu klären, weitere Perspektiven aufzuzeigen und die Denk- und Handlungsweisen der Kinder zu erweitern, sind deshalb ganz zentrale Aufgaben des historischen Lernens im Sachunterricht.5
2.2 Geschichtsbewusstsein – Aufgabe, Ziel oder Voraussetzung?
VON REEKEN sieht die Aufgabe und das Ziel des historischen Lernens im Sachunterricht darin, Kindern eine ganz bewusste, kontrollierte und zielgerichtete Auseinandersetzung mit Geschichte zu ermöglichen, damit sie die Fähigkeit zum historischen Denken erlenen und ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein in all seinen Dimensionen (siehe Abbildung 1) entwickeln.6
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Sieben Dimensionen von Geschichtsbewusstsein (nach Pandel)7
So gesehen, kann Geschichtsbewusstsein als ein Lernprozess verstanden werden, der von den Interessen der Kinder ausgeht und dabei eine systematische Förderung von historischer Fragekompetenz, historischer Methoden- bzw. Medienkompetenz und historischer Narrationskompetenz vorsieht, um die Schüler:innen beim Erwerb der „[…] Fähigkeit zur methodisch bewussten und kontrollierten Verarbeitung historischer Sachverhalte und Deutungsmuster zu unterstützen.“8
PANDEL dagegen beschreibt den Begriff des Geschichtsbewusstseins in seiner Theorie eher als ein Produkt, das sich in einem hochkomplexen, vieldimensionalen „ Sinnbildungsprozess über Zeiterfahrung“ 9 nach und nach weiter ausbildet und formt. In dieser Auffassung kann demnach der Vergangenheit nur durch einen kognitiv-sprachlichen Sinnbildungsprozess Bedeutung zugewiesen werden. Dadurch wird Geschichtsbewusstsein nicht nur zum Ziel, sondern auch zur Voraussetzung für historische Lernprozesse und stellt so für viele Lernende eine Hürde dar. Laut PANDEL können diese Zugangsvoraussetzungen weder von Schüler:innen in der Primar- noch in der Orientierungsstufe gewinnbringend gemeistert werden und sind deshalb in der Grundschule nicht relevant und zu vernachlässigen.10
Dass eine schulische Förderung von historischen Lernprozessen und historischem Denken jedoch nicht erst in der Sekundarstufe einsetzen sollte, auch wenn Schüler:innen nicht alle Dimensionen von Geschichtsbewusstsein durchdrungen haben, erschließt sich für VON REEKEN daraus, dass politische Sozialisation bei Kindern schon lange vor Schuleintritt beginnt und sich dabei Verhaltens-, Denk- und Handlungsmuster bilden und verfestigen. Damit jedoch die Schüler:innen sich selbst und die Welt als aktiv gestaltbar und veränderlich erfahren können, benötigen sie so früh wie möglich Einblicke in die Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft zur Perspektivübernahme, die sich durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, mit den individuellen Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnissen der Kinder in ihrem sozialen Umfeld entwickelt.11
[...]
1 Gedächtnisprotokoll 09/2020: zufälliges Gespräch mit Kindern einer dritten Klasse während eines Praktikums.
2 GDSU (Hrsg.) (2013): Perspektivrahmen Sachunterricht. Vollständig überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S.9.
3 vgl. von Reeken, Dietmar (2012): Historisches lernen im Sachunterricht. Eine Einführung mit Tipps für den Unterricht. 4. erweiterte und aktualisierte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 8.
4 Bergmann, Klaus/Rohrbach, Rita (Hrsg.) (2001): Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht. Schwalbach: Wochenschau. S. 11-13.
5 vgl. GDSU: Perspektivrahmen Sachunterricht, S. 56.
6 vgl. von Reeken: Historisches Lernen, S. 13f.
7 Von Reeken: Historisches Lernen, S.9.
8 Ebd., S.32.
9 Rüsen, Jörn (1982): Die vier Typen historischen Erzählens. In: Kosellek, Reinhard et al.: Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik. München: DTV, S.520.
10 vgl. von Reeken: Historisches Lernen, S.22.
11 vgl. ebd., S. 30f.