Der Einfluss von "Cézannes Anschauungsraum" auf andere Kunstbereiche


Seminararbeit, 2021

25 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen, Dimensionen und Demut bei Cézanne
2.1 Montagne Sainte-Victoire

3. Literatur und Cézannes Farbnuancen als bildkonstituierender Faktor
3.1 Blauen Hortensie

4. Film und Cézannes architektonischer Blick als sinnstiftendes Fundament
4.1 L’Argent

5. Fotografie und Cézannes Perspektive als subjektive, imaginäre (Bild)Wirklichkeit
5.1 The Desk, July 1st

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Onlinequellen

Bildquellen

Anhang

1. Einleitung

Die Kunstwelt nach dem 19. und 20 Jahrhunderts wurde insbesondere von einem Maler, der dem Untertitel „Vater der Moderne“ gerecht wird, nachhaltig geprägt: Die Rede ist von Paul Cézanne.

Das Leben, des 1839 in Frankreich geborenen Malers, war von Bescheidenheit, Erfolglosigkeit und fehlender Anerkennung auf dem Markt gezeichnet. Auch die mehrfache Ablehnung seiner Werke und Bewerbungen einerseits an der École des Beaux-Arts, der französischen Akademie oder den (Mitgliedern des Salons) in jungen Jahren, andererseits die Krankheiten Diabetes und Depressionen im letzten Jahrzehnt, nach seinem Umzug nach L'Estaque in Südfrankreich, mündeten in einer schöpferischen Arbeit der Einsamkeit.

Erst rückblickend wurde die Bedeutung seines Oeuvres auf die westliche Malerei verstanden: Jener Ansatz, einen subjektiven Anschauungsraum zu erschaffen, statt die Natur lediglich nachzuahmen. Ein künstlerisches Vermächtnis, dass in etwa wie folgt zusammengefasst werden kann: Die Erfassung der Bildthematik erfolgt erst nach der Erfassung der Essenz, die anschließend durch Farbe, Formen und deren räumliche Relation zueinander - losgelöst von akademischen Farb- und Perspektivlehren - gemeistert werden kann.

Seine Vision stellt die verbindende Komponente zwischen dem Impressionismus und Kubismus dar, sodass sich seine Werke dem Post-Impressionismus zuordnen lassen können.1 Bis heute ist die Wirkung seiner Bildsprache, seines (Farb)Stils und seiner besonderen Art des Sehens deshalb in der Kunst spürbar und fasziniert(e) branchenübergreifend Menschen aus dem Kultursektor. Gerade die Einflussnahme Cézannes auf Zeitgenossen sowie lebende Kunstschaffende über den Sektor der Malerei heraus stellt ein interessantes Forschungsfeld dar. Der Schriftsteller Rainer Maria Rilke, der Regisseur Robert Bresson sowie der Fotograf David Hockney sollen dabei den Ausgangspunkt der Betrachtung darstellen. Die Forschungsfrage der Hausarbeit lautet demnach: Wird Cézannes einmaliger Anschauungsraum auf die (Kunst)Welt über sein damals gewähltes Medium, nämlich die Malerei, hinaus von Kunstschaffenden aus der Literatur, dem Film und der Fotografie weitergelebt und weiterentwickelt? Und wenn ja, auf welche Art und Weise?

Zunächst werden deshalb seine wichtigsten Maximen hervorgehoben und anhand seines Gemäldes verbildlicht. Anschließend wird versucht, die Prägung durch Cézanne beim poetischen Prinzip bei Rilke, Bressons Filmografie sowie Hockneys fotografischem Raumverständnis sichtbar zu machen.

2. Definitionen, Dimensionen und Demut bei Cézanne

Zu Zeiten von Cézanne war die Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Schöpfungsmotivationen in der Malerei insbesondere zweiter Sehtheorien unterworfen: Einerseits der im Handbuch von Hermann von Helmholtz festgehaltenen „Physiologischen Optik“, andererseits der Erfindung von Charles Wheatstones namens Spiegelstereoskopes.

In jenem Jahrhundert erlebten (Natur)Wissenschaftler, die etablierte Raumverständnisse in Frage stellten, eine bisher nie dagewesene mediales Ansehen und Relevanz, die gleichsam einen Nährboden für Innovation und einer Krise bot. Diese Konflikt-Situation der Wissenschaften kann als Auslöser dafür verstanden werden, dass Cézanne, befreit von den zuvor noch starren Parametern bezogen auf Perspektive, Beleuchtung und Formbildung eine Bilddimension vor dem Hintergrund der neuen Helmholzschen Auseinandersetzung mit Optik und Räumlichkeit, zu realisieren konnte. Antworten auf die Frage zu seiner individuellen Farb- und Formlehre, Perspektive und seinem Naturverständnisses soll im Folgenden in der Landschaftsmalerei „Montagne Sainte-Victoire“ gefunden werden.2

Cézannes Muse, die ihn fortwährend zu künstlerischen Höchstleistungen inspirierte, lässt sich in der Natur der Aix-en-Provence im Süden von Frankreich finden: Das Gebirge Montagne Sainte-Victoire. In etwa 80 verschiedenen Aquarellen, Gemälden und Zeichnungen widmete er sich diesem Motiv und strebte die Entschlüsselung und Visualisierung der Essenz jenes Raumes an – so wie in dem vorliegenden Werk, das den Namen Montagne Sainte-Victoire trägt.

Darauf zu sehen ist eine kleine Provinz vor dem Hintergrund einer Gebirgslandschaft. Der Blick des Betrachters verläuft zunächst zu jenem, sich von der umliegenden, hügeligen Szenerie hervortretenden und mittig platzierten Steingipfel am Horizont hin zu der ländlichen Ortschaft im Vordergrund. Eingerahmt wird die Natur im oberen Bildraum von einem gräulich-blauen, wolkenlosen Himmel - dieser erstreckt sich beinahe über ein Drittel der Leinwand und stellt nicht nur einen thematischen, sondern auch einen leichten, farblichen Kontrast zu den Grünpflanzen und Gebäuden dar. Ferner lassen sich insbesondere vorne die Baumkronen von Laubbäumen sowie die Spitze von Büschen erkennen – ein grünes Meer, das sich bis in den Mittelgrund ausweitet. Im Herzen der grünen Lunge können neben den Schatten werfenden Bäumen zwei Häuser mit Spitzdach erkannt werden; eingerahmt in landwirtschaftliche Flächen, wie Acker und Wiesen, vereinzelt bestückt mit mediterranen Bäumen, Zypressen und weiteren Häusern zwischen zahlreichen Hügeln, die wieder zurück in das namensgebende Gebirge münden.

Wie in allen seinen Werken lautete seine allgemeine Devise einerseits eine Stimmung beim Betrachten eines Elements zu identifizieren, statt das Element an sich. Denn der Stoff, aus dem das Reale gemacht ist, ist individuell. In allen Sachverhalten existieren somit stets zwei Varianten: die Realität und die eigene Interpretation davon. Kunst kann eine Brücke zwischen diesen Instanzen aufzeigen: Nämlich, dass ein jeder in seiner eigenen Welt wohnt, die dennoch dem Takt der Natur folgt.3

Die andere Seites seines visionären Fundaments war es die von Emotionen gesteuerte Malerei zu überwinden und andererseits bei Motiv- und Formsubstraten Minimalismus aber Intensität zu betreiben. Dies veranlasste ihn einen bedeutenden Grundsatz aufzustellen, den er 1904 in einem Brief mit seinem Freund Emile Bernard teilte: „Alle Formen in der Natur lassen sich auf Kugel, Kegel und Zylinder zurückführen. Man muss mit diesen einfachen Grundelementen beginnen, dann wird man alles machen können, was man will."4

2.1 Montagne Sainte-Victoire

Aus der Szenerie der Montagne Sainte-Victoire lässt sich Cézannes Abstraktion der Bildelemente in geometrische Formen sowie seinen Pinselauftrag herauslesen: In erster Linie die rundliche Formierung der Bäume im unteren, mittigen Drittel des Bildes, die an Kegel erinnernden Felsenhügel und der zylinderförmigen, grün-beige Landschaftsabschnitt in der linken, mittleren Ecke. Andererseits an der Böschung, die sich über das Bildformat im Vordergrund erstreckt und sich in den räumlich ersten Häusern zuspitzt, verdeutlich bespielhaft seine Technik nämlich die Striche spiegelgleich und gleichverlaufend auf die Leinwand zu platzieren. Da es sich bei den Elementen jedoch nie um gänzlich in sich geschlossene Objekte handelt, die etwa durch starke Konturen oder sich deutlich unterscheidenden Duktus voneinander getrennt werden, bewirkt die fließende Formverschmelzung eine inszenierte Spontanität. Ersichtlich wird hierbei auch, dass nie reine Farben und lediglich eine minimalistische Objektauswahl (Acker, Bepflanzung, Berghügel und Häuser) verwenden werden sondern lediglich harmonische Nuancen. Nuancen, Formen und Zwischenräume, deren Wertigkeit malerisch ausgewogen und äquivalent erscheinen, da der Farbauftrag eine Vereinheitlichung der Stofflichkeit bewirkt; zu sehen an den blättrigen Büschen, den blühenden Wiesen und Feldern sowie der steinigen und sonst groben Oberfläche des Felsens.

Auch seine Vermittlung von Tiefe erscheint einzigartig, indem er sich von der konventionellen Perspektivenkonstruktion abwendet und zur Modulation des Sichtbaren ausschließlich Farbe verwendet: Farbwerte werden somit in ein Verhältnis zueinander gesetzt; beispielhaft verbildlicht anhand der Ocker- und Sandfarben der linken Ackerflächen und der Farbgebung im Zentrum des Berges; eine Farbpalette, die er durchwegs in der gleichen Intensität, den gleichen Rhythmus, vorne und hinten verwendet. Da er die Töne übereinander schichtet, wie etwa beim Berg von Grau, Blau bis zu Braun, eben bis alle Farben sich mit ihrem Kolorit decken, bringt er den Gegenstand plastisch hervor und erzeugt so die Illusion von Tiefe. Dadurch wird eine gewisse Stabilität und Art des Konservierens erzeugt, die seinen Werken eine gewisse Zeitlosigkeit vermittelt.

Alleinig der Sehende wirkt wie die bewegliche Komponente; springt mit seinen Augen über die verschiedenen Hügel, Pflanzen, Häuser und steinigen Kanten oder scheint beispielsweise das vorderste Gebäudepaar aus mehreren Perspektiven zu betrachten, da mehrere Fluchtpunkte vorliegen, verdeutlicht durch die Schräge nach rechts oben, die gleichsame Frontansicht auf die Seitenwand und die Draufsicht auf das Dach des rechten Hauses. Eine von Cézannes weiteren Bestrebungen, steht dem konträr, nämlich nicht allein einen Zeitpunkt festzuhalten, sondern die Natur im Prozess; dies zeigt sich durch die flimmerige Erscheinung und Verschmelzung von zeitlich versetzten Erinnerungen Cézannes an die Berglandschaft sowie die in jenem Moment des künstlerischen Schaffens eingefangenen Eindrücke. Die Bestrebungen mittels detaillierter Beobachtung Empfindungen zu reflektieren, parallele Pinselstriche zu setzen und mittels der Farbpalette Ausgewogenheit und Ordnung herzustellen, zeugen von seinem einmaligen Stil.5

All diese Erkenntnisse lassen sich in der These der Bildtheoretikerin Dr. Angela Breidbach wiederfinden: Nämlich dass der experimentelle und forschende Bildarchitekt Cézanne gemäß seinen naturwissenschaftlichen Zeitgenossen die zeitgenössischen Paradigmen hinter sich gelassen hatte, wenn nicht gar bereits von einem Raumbegriff Gebrauch machte, der erst ferner in den Naturwissenschaften Verwendung finden sollte. Mittels der Wahrnehmung und „zeitunabhängigen-räumlichen Baustoffen“ aus seinen Erinnerungen konnte er einen Bildraum konstruieren; und durch den gebräuchlichen stereoskopischen Raum Erfahrungen mit dem kontemporären Perzeptionsraum zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen lassen.

Alles in allem scheint sein Versuch gelungen, eine zeitlose und harmonische Ordnung, Gleichgewicht und Einfachheit durch die Mittel der Kunst herzustellen.

Welchen Einfluss die vorherig herausgearbeiteten Farb- und Formlehre, die Perspektive und sein Naturverständnis auf Kunstschaffende aus anderen Zweigen genommen hat, wird im Folgenden aufgeschlüsselt.

3. Literatur und Cézannes Farbnuancen als bildkonstituierender Faktor

Der erste wichtige Schritt des gebürtigen Pragers Rainer Maria Rilke hin zu einem der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne6 vollzog sich im Jahre 1897: der Umzug nach Berlin, um dort einerseits gänzlich den kunsthistorischen Studien und der Vernetzung mit zeitgenössischen Künstler*innen nachzugehen, andererseits unter dem Vorwand, sich als Kunstliterat und-kritiker, mittels der Publikation von Ausstellungs- und Buchrezensionen, einen Namen zu machen.

Sein Interessensgebiet erstreckte sich von dem künstlerischen Entstehungsprozess – der Menschen zu Künstler*innen hin selbst sowie die Werke an sich, als auch das Potenzial von Kunst, die Welt sichtbar und erfahrbar zu machen; insbesondere auch in Form von „stofflichen Anregungen und Vokabeln des Sichtbaren“7 für seinen eigenen literarischen Schöpfungsprozess.

[...]


1 Balg, Lennart (2019): Paul Cézanne – Biografie des einflussreichen Post-Impressionisten, in der Rubrik „Malerei“ der Seite „das kreative Universum“, [online] https://www.daskreativeuniversum.de/paul-cezanne-biografie/, [abgerufen am 13.06.2021]

2 Fühlbrügge, Heike (2004): Anschauungsraum bei Cézanne, in der 4. Ausgabe Nr. 7/8 des Rezensionsjournals für Geisteswissenschaften „Sehepunkte“, [online] http://www.sehe-punkte.de/2004/07/5422.html, [abgerufen am 13.06.2021]

3 Doebler, Peter L. (2007): Going Beyond Cézanne: The Development of Robert Bressons’s Film Style in Response to the Painting of Paul Cézanne, in: Spotlight on Robert Bresson der Sensesofcinema, [online] https://www.sensesofci-nema.com/2007/spotlight-on-robert-bresson/bresson-cezanne/, [abgerufen am 08.06.2021]

4 Fühlbrügge, Heike (2004)

5 Doebler, Peter L. (2007)

6 Müller, Wolfgang G. (2013): Rilke-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, In: Engel Manfred (Hrsg.) Stuttgart, Deutschland: Metzler S. 296

7 Müller, Wolfgang (2013), S. 131

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss von "Cézannes Anschauungsraum" auf andere Kunstbereiche
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
2,3
Jahr
2021
Seiten
25
Katalognummer
V1167199
ISBN (eBook)
9783346580559
ISBN (Buch)
9783346580566
Sprache
Deutsch
Schlagworte
einfluss, cézannes, anschauungsraum, kunstbereiche
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Der Einfluss von "Cézannes Anschauungsraum" auf andere Kunstbereiche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167199

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