Wie können wir sozialen, ökologischen und politischen Herausforderungen im Alltäglichen adäquat begegnen? Ansätze einer unkonventionellen Sozialraumorientierung in gegenwärtigen Wertegemeinschaften


Essay, 2021

11 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Was Corona mit dem Ökosystem Mensch zu tun hat

2. Saul D. Alinskys „Community Organizing“ von unten

3. Der janusköpfige Barack Obama

4. Von Vergangenheitsbewältigung zur Zukunftsgestaltung

5. Salutogene (=gesunde) Gemeinschaften in der Stadt 9 Verwendete Literatur

1. Was Corona mit dem Ökosystem Mensch zu tun hat

Die Coronakrise hat eine überschaubare Anzahl an vom Menschen maßgeblich herbeigeführten möglichen Ursachen. Wissenschaftler vertreten bis heute die Auffassung, dass der Virus von Fledermäusen, durch den Wildtierhandel des Marktes in Wuhan oder aus einem Labor, in dem mit Coronaviren geforscht worden ist, die Umwelt gelangt und so auf den Menschen übertragen worden ist. Hingegen zu den Erklärungsversuchen zur Ursache, sind die nationalen und globalen ökonomischen und daraus wiederum erwachsenden Folgen der Folgen noch nicht absehbar für die Menschen.

Die Verbreitung des Coronavirus macht deutlich, welche Auswirkungen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Zerstörung der natürlichen Lebensräume von Wildtieren auf den Menschen haben. Ein Zusammenhang von zerstörten oder gestörten Ökosystemen, der globalen, nicht mehr gänzlich zu stoppenden Erderwärmung und dem Ausbruch von Pandemien gilt als gesicherte Erkenntnis und kann nicht mehr wegdiskutiert werden. Die Konsequenz daraus für auf der Höhe der Zeit agierende Entscheiderinnen und Entscheider muss ein nachhaltiger Umgang mit der Natur sein. Wenn sich das Individuum als Teil der Natur und in Abhängigkeit vom Ökosystem Mensch sieht, ist es gedanklich leicht, eine Brücke zu schlagen, in der der Begriff Nachhaltigkeit sowohl in Bezug auf ökologische als auch soziale Themen hoch relevant ist.

Nehmen wir als Beispiel das in den 1970er Jahren aus der Gemeinwesenarbeit hervorgegangene Fachkonzept Sozialraumorientierung der sozialen Arbeit. Im Kern geht es um die individuelle oder gemeinschaftliche Aneignung von verloren gegangener oder nicht vorhandener Gestaltungsmacht über die eigene oder eine als gemeinsam empfundene Lebenswelt mit ihren sie auszeichnenden, vielschichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen. War es in der Pre-Covid-Zeit Fachkräften vorbehalten, mit unterprivilegierten Menschen in ihren jeweiligen Sozialräumen auf Augenhöhe zu arbeiten, stellt sich in der Post-Covid-Zeit die Frage der Sozialraumgestaltung auf eine neue Weise. Alle Menschen weltweit sehen sich mit einem Schlag einer lebensgefährlichen, bis in den letzten sozialen Raum vordringenden, viralen Bedrohung ausgesetzt. Inzidenz- oder andere relevante werte geben auf einmal vor, inwiefern wir uns in unseren Sozialräumen aufhalten und begegnen dürfen. Wir werden dessen beraubt, was uns seit Menschengedenken unserer selbst vergewissert: Das soziale mit- und untereinander. Die, abhängig von der individuellen Resilienz, mehr oder weniger starken negativen physischen, psychischen und sozialen Folgen für Personen aller sozialer Schichten sollten uns vor Augen geführt haben, dass wir zutiefst soziale Wesen sind. Darüber hinaus offenbart sich die Fragilität und Unberechenbarkeit des Lebens. Darin liegt die Chance, die Bedeutung des Sozialen für den Menschen in seinem Menschsein hervorzuheben und den Focus sozialen Handelns stärker als bisher auf den Abbau von sozialen Grenzen zwischen den Menschen und der Hinwendung zu einem besseren Miteinander, angefangen bei der Nachbarschaft, Ausdruck zu verleihen.

Im Folgenden wird, von den Anfängen der „Community Organizing“ in Amerika bis in die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft hinein eine Entwicklungslinie skizziert, die veranschaulicht, wie sich sozialräumliche Ansätze mit politischem Engagement und kollektiver Gesundheit verknüpfen lassen.

2. Saul D. Alinskys „Community Organizing“ von unten

Saul David Alinsky (1909-1972), Erfinder des „Community Organizing“, war ein Tausendsassa und mit Sicherheit alles andere als ein Langweiler. Bekannt wurde er als ein hemdsärmeliger Machertyp, der sich für die Belange arme Bewohner in sozialen Brennpunkten der Stadt Chicago stark machte. Alinsky selbst stammt aus kleinen Verhältnissen einer jüdisch-orthodoxen Einwandererfamilie. Im Laufe seines Lebens studierte er mit schwankendem Interesse Archäologie, Kriminologie und Soziologie an der Universität von Chicago. Als Selfmade Aktivist arbeitete er in den Problemvierteln Chicagos und sprach sich sowohl gegen eine im „Feld“, seiner Meinung nach, abgehobene, akademisierte Soziologie aus als auch gegen die sogenannte „Settlement-Bewegung“, der er Wohlfahrtskolonialismus vorwarf. Ungeachtet der selbst geäußerten Kritik eignete er sich Methoden aus der empirischen Sozialforschung an wie zum Beispiel die teilnehmende Beobachtung („nosing around“) und benutzte sie als „Community Organizer“.

Neben zahlreichen im deutschsprachigen Raum schwer zugänglichen Artikeln in Zeitschriften, zählen zu seinen Hauptschriften „Reveille for Radicals“, entstanden von 1940-45, sowie „Rules for Radicals“, erschienen 1971, ein Jahr vor seinem plötzlichen Tod. Beides sind bis heute über die Grenzen Amerikas hinaus bekannte Anleitungen mit Regelwerk und Prinzipien zum Handeln als Organizer.

Seine direkte, tabulose Sprache passte zu seinem unangepassten Auftreten. Neben allen Zuschreibungen seine Person betreffend war er aber in erster Linie ein glühender Verehrer einer radikal-demokratischen Graswurzelbewegung. Alinsky führt dazu aus: „Wenn sich die Bürger nicht aktiv am demokratischen Leben beteiligen, dann ist das das Ende der Demokratie. Die Bürger müssen sich organisieren, nur so erhalten sie die Macht, Druck auf die Besitzenden auszuüben und über ihr Leben selbst zu bestimmen.“ (Alinsky, 2010, S. 21) Wenig später ergänzt er: „Der Radikale ist diese großartige Person, die wirklich glaubt, was Sie sagt.“ (ebd., S. 29) Im prüden, rassistischen, weißen Amerika der 1940er und 50er Jahre brachten ihm solche Äußerungen in Verbindung mit seinem Kampf für mehr Gerechtigkeit zu Unrecht den Ruf eines Sozialisten ein.

Zur Würdigung der Bilanz seines unermüdlichen Aktivismus´ in den Slums von Chicago gehört an vorderster Front die Gründung der bürgerschaftlich organisierten Dachorganisation „Back of the Yards Neighborhood Council“ (BYNC) am 14. Juli 1939, eine bis dahin nicht dagewesene bürgerschaftliche Allianz von kirchlichen, gewerkschaftlichen, sportlichen oder privat organisierten Gruppen. Streitigkeiten und Grabenkämpfe untereinander konnten durch Alinskys geschicktes „Organizing“ beigelegt werden zugunsten des gemeinsamen Ziels, die Lebensbedingungen der Menschen im Quartier zu verbessern. Im Sog des Erfolgs gründete er im gleichen Jahr die „Industrial Areas Foundation“ (IAF), deren Aufgabe Beratung und Koordinierung der Stadtteilarbeiten war. Verbesserungen konnten beispielsweise erreicht werden bei Fragen zur Gesundheit und medizinischen Versorgung, in Hinblick auf Freizeitaktivitäten, Sportangebote, ein gepflegteres Straßenbild durch organisierte Müllbeseitigung, Mittagstische sowie Sommercamps für Kinder. Alinsky war erfolgreich im Kampf für bessere Lebensbedingungen armer Afroamerikaner in Chicagoer Ghettos sowie für die Gleichstellung von schwarzen Arbeitern mit ihren weißen Kollegen in der „Eastman Kodak Company“.

Auf Alinsky geht das Konzept der aktivierenden Befragung zurück. Herzstück seiner Aktivierungsarbeit sind dabei der vertrauensvolle Kontakt im Gespräch mit Menschen von der Straße und die richtig gestellten Fragen, mit denen die Befragten neue Impulse für Veränderungen von Lebensumständen in ihren Quartieren entwickeln sollen. Entstanden ist die Methode in der multikulturellen Großstadtmetropole Chicago in einer Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Chicago war eine klassische Arbeiterstadt und multiethnischer Schmelztiegel in einem Land, das rasant begann zur industriellen, leistungsorientierten Weltmacht aufzusteigen. Ein hoher Grad an Anpassung an die ungleich harten Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen aus unterschiedlichen Einwanderungsgemeinden mit ihren religiösen, weltanschaulichen und rituellen Eigenheiten war eine notwendige Voraussetzung für das persönliche Weiterkommen im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Alinskys unnachahmliche Stärke lag darin, aus der Not eine Tugend zu machen, das heißt, er verstand es, Ressourcen der Einwanderergemeinschaften zu erkennen, band qualitativer Forschungsmethoden - ethnografische wie journalistische – in seine Methodenentwicklung ein und blieb unerschütterlich in seinem Glauben an das Gute im Menschen und seiner Fähigkeiten eines gelingenden Zusammenlebens untereinander mittels demokratischer Willensbildung und -ausübung von unten.

Den Keim aller demokratischen Gestaltungsmacht schreibt Alinsky den Akteurinnen und Akteuren im Sinne eines politischen Empowerments auf unterster Handlungsebene zu. „Die eigentliche Organisation von Menschen, die sie befähigt, sich ihrer Möglichkeiten und Verpflichtungen bewusst zu werden, ist ein gewaltiges Programm für sich.“ (Alinsky, 2010, S. 75) Dahinter stand auch die Absicht, eine durchschlagkräftige Massenorganisation aufzubauen, aus der heraus die Menschen in ihrem Interesse politische Einflussnahme geltend machen. Die Strategie erfordert Kampfgeist und Radikalität insofern, als dass im Sinne des größtmöglichen Gewinns für die Gemeinschaft eine Abwägung zwischen dem Zweck und den dafür zu wählenden Mitteln getroffen werden muss, was impliziert, dass Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen legitim sein kann.

3. Der janusköpfige Barack Obama

Viele Menschen auf dem Erdball wissen, wer Barack Obama ist und dass er von 2008-2016 als erster schwarzer Mann zwei Amtsperioden amerikanischer Präsident gewesen ist. Viel weniger bekannt ist dagegen seine Vergangenheit als politischer Aktivist, die ihm auf dem Weg in das mächtigste politische Amt der Welt verhalf.

2010 veröffentlichte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Textsammlung unter dem Titel „Das Programm Soziale Stadt. Kluge Städtebauförderung für die Zukunft der Städte“, in der auch der Artikel „Worum organisieren? Probleme und Aussichten in den Innenstadtgebieten“ (“Why organize? Problems and promise in the inner city“), verfasst von dem Jurastudenten Barack Obama, erschien. Der Artikel entstammt als Reprint 1990 (Erstveröffentlichung 1988 im Illinois Issues) der von der University of Illinois veröffentlichten Sammlung „After Alinsky: Community Organizing in Illinois“. Barack Obama schildert darin sehr anschaulich seine Erfahrungen als Community Organizer in Chicago von 1985-88. Auch wenn er selbst es in seiner Biografie „Ein amerikanischer Traum“ nicht wörtlich ausführt, so ist basierend auf Quellen hinreichend gesichert, dass Alinskys Schriften und sein Nachruhm Obama in den 80er Jahren sehr stark beeinflusst haben müssen.

Obama sah seine Aufgabe darin, der verarmten schwarzen Community, die nach wie vor gegenüber den Weißen zum Himmel schreienden Diskriminierungen ausgesetzt war, in ihrem Kampf für bürgerschaftliche Gleichberechtigung auf mehreren Ebenen zu helfen. Drei Themen identifiziert er in seinem Artikel. 1. Schwarze in politische Ämter bringen, 2. Die Wirtschaftskraft schwarzer Unternehmen stärken und ausbauen und 3. Stadtteilarbeit mit den Menschen an der Basis, also Mobilisierung von Ressourcen und Koordinierung von Aktivitäten. Der Autor führt eine ganze Bandbreite an notwendigen Maßnahmen aus, zum Beispiel die Stärkung der nachbarschaftlichen Kompetenzen zur Problemlösung, die Organisation verschiedener Interessegruppen und Bündelung der Geldmittel, die Verteilung von Entscheidungskompetenzen auf vielen Schultern, gemeinschaftliche Interessenvertretungen, Job-Trainings, Schaffung von Wohnraum, verbesserte Infrastruktur und Bekämpfung der Kriminalität, die zum erfolgreichen Organizing seiner Meinung nach dazu gehören. Dem stellt er schwer zu überwindende Probleme gegenüber. Projekt-Missmanagement, Streichung finanzieller Mittel, der Wegzug einer schwarzen Mittelschicht aus den Zentren in die Vororte, schlechte Bezahlung und wenig Karrierechancen. Obwohl er ungenutzte Ressourcen bei den schwarzen Kirchen in den Gemeinden sieht, bleibt seine Einschätzung über die Zukunft der Organizer vage. Was bleibt ist ein emotionales Plädoyer. „Durch diese Geschichten und Lieder über zerstörte Hoffnungen und die Kraft des Weitermachens, die Hässlichkeit und den Kampf, den Feinsinn und das Lachen, können Organizer einen Gemeinschaftssinn nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst schaffen.“ (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2010, S. 7).

Bei der rückblickenden Einordnung von Obamas Politik als Präsident steht er nach der Bewertung des renommierten Journalisten und ausgewiesenen Kenners der amerikanischen Politik, Christoph von Marschall, rechts der politischen Mitte, vergleichbar mit George W. Busch vor ihm. In seinem Buch „Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben“ widmet sich Marschall der Politik unter Obama und wie wir Deutschen und Europäer sie, seiner Meinung nach links ideologisch verzerrt, wahrgenommen haben. Hervorragend lässt sich das Missverhältnis zwischen dem Wunsch, einen friedensstiftenden, liberalen, amerikanischen Präsidenten zu haben, und der politischen Realität an Obamas Rede zu seiner Verleihung des Friedensnobelpreises 2009 festmachen. In dem Kapitel „Die Fabel vom Friedenspräsidenten“ zählt von Marschall in Obamas Rede 44-mal das Wort Krieg. Obama spricht vom Konzept eines gerechten Krieges, der Rechtfertigung, Gewalt zur Abwendung größeren Unheils anzuwenden, seiner Verpflichtung als Präsident sein Land zu schützen und zu verteidigen. Ferner spricht er von dem Bösen in der Welt und der moralischen Verpflichtung, dem mit Gewalt entgegenzutreten. Marschall resümiert: „Inzwischen erscheint die Auszeichnung auch den meisten Europäern unbegreiflich.“ (Marschall, 2012, S. 221)

Der idealistische, bürgerrechtsbewegte Obama der jungen Jahre scheint zwanzig Jahre später mit dem Präsidenten Obama nicht viele Gemeinsamkeiten zu teilen. Eins jedoch hat er von damals gelernt. Im Wahlkampf konnte er nach Alinskys Strategie so erfolgreich Massen für sich mobilisieren, dass sie ihn in das Präsidentenamt gehoben haben, ganz nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Auch wenn die Aneignung von Macht gemessen an den Resultaten der daraus erwachsenden Ausübung von Macht am Beispiel Amerikas in der Amtszeit von Obama sehr fraglich erscheint, bleibt doch vorbildlich, mit wieviel Leidenschaft in Amerika Demokratie von unten gelebt wird.

4. Von Vergangenheitsbewältigung zur Zukunftsgestaltung

Die Geschichte der „Community Organizing“ in Amerika liest sich nicht gerade wie eine amerikanische Erfolgsgeschichte, eher wie ein Kampf gegen Windmühlen. Aber welche Chancen bleiben dann Gemeinschaften, gesellschaftliche Missstände nachhaltig zu ändern? James Baldwin, geboren 1924 in Harlem/New York, gestorben 1987 in Frankreich, veröffentlichte 1962 sein aus heutiger Sicht prophetisch wirkendes Meisterwerk „The Fire Next Time“ (in der deutschen Übersetzung: „Nach der Flut das Feuer“). Obwohl sein Thema zeitlebens die Rassendiskriminierung in Amerika war, sind die Fragen, die die Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen für ihn aufgeworfen haben, aktuell für alle westlichen Gesellschaften der Gegenwart. Ein Grund, warum Baldwins Werke gerade in Zeiten der Black-Lives-Matter-Bewegung Hochkonjunktur haben.

Baldwin war zutiefst davon überzeugt, dass eine gerechte Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn die Konflikte der Konfliktparteien gemeinsam von beiden gelöst werden, ansonsten käme unweigerlich der Untergang, von dem in der Bibel die Rede ist. „Nach der Flut das Feuer“ ist ein Plädoyer dafür, „das Leben in einer Gesellschaft gemeinsam zu gestalten. Das Buch ist Ausdruck eines radikalen Humanismus – der Überzeugung, dass für alle Menschen die gleichen Rechte gelten sollten, dass es um Freiheit und Menschenwürde geht und deshalb grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Strukturen notwendig sind.“ (Baldwin, 2019, S. 14, aus dem Vorwort von Jana Pareigis)

5. Salutogene (=gesunde) Gemeinschaften in der Stadt

Da wir in Deutschland ein anderes Demokratie- und Staatsverständnis haben, kann Quartiersarbeit in diesem Land nicht 1:1 wie das amerikanische Vorbild umgesetzt werden. Stattdessen wird an dieser Stelle ein im deutschsprachigen Raum wenig bekanntes Konzept zu salutogenen (=gesunden) Gemeinschaften in der sozialräumlichen Arbeit auszugsweise vorgestellt. Es geht zurück auf Aron Antonovskys Modell der „Salutogenese“, wörtlich übersetzt mit „Ursprung des Wohlbefindens“. Antonovsky bezog seine Überlegungen auf das Individuum, die Übertragung auf das Kollektiv ist eine Weiterentwicklung für die Quartiersarbeit. Schlüsselbegriff bei ihm ist der mehrschichtige Kohärenzsinn, das Messinstrument für die Bestimmung von Gesundheit. Umso stärker er ist, desto gesünder ist der Mensch. Ein gesunder Mensch ist nach Antonovsky gewandter darin, auf Herausforderungen erfolgreich zu reagieren. Daneben gibt es „Generalisierte Widerstandsressourcen“. Sie setzen sich vor allem aus spezifischen äußeren Einflussfaktoren und personalen Fähigkeiten zusammen, sind allgegenwärtig und bewirken in jeder Lebenslage eine erfolgreiche Stressbewältigung unabhängig von der Art des Stressors. Die positive Folge daraus ist eine Steigerung der individuellen Resilienz.

In der Übertragung auf eine Gemeinschaft, beispielsweise die Nachbarschaft, das Quartier oder auch die Gemeinde, kann der kollektive Kohärenzsinn durch gemeinsame sinnstiftende Projekte gestärkt werden. Es gibt ein allseitig bestimmendes Gefühl von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Übereinstimmung, sich Miteinander gemeinsam an einer Steigerung eines gesunden Füreinander einzusetzen. Kollektives Handeln setzt meistens Auseinandersetzungen und Bewältigung von Konflikten voraus, die im Sinne Antonovskys durchaus als positive Stressoren angesehen werden können. Eine erfolgreiche Aufarbeitung von Streitereien beispielsweise stärkt Gemeinschaften eher als dass es sie schwächt, schweißt sie mitunter zusammen. Nach Antonovsky wären das die generalisierten Widerstandsressourcen. „Gesunde Gemeinwesen haben eine gesunde materielle und physikalische Umwelt, ein gutes Gemeinschaftsgefühl und eine starkes Sozialkapital. Über gemeinsame Interessen erschließen sich ihre Mitglieder Ressourcen und gestalten aktiv Bedingungen für bessere Gesundheit und mehr Wohlbefinden.“ (Meier Magistretti, Lindström & Eriksson, 2019, S. 179)

Zum Wohle der Menschen gemachte städtebauliche Maßnahmen, die den Aspekt der Salutogenese in Quartieren berücksichtigen, werden stärker daran gemessen, welche Auswirkungen sie auf den Gesundheitszustand der Quartiersgemeinschaft haben. Grün- oder Freizeitanlage, eine Verkehrsinfrastruktur, Einkaufsstraßen usw. werden für die Gemeinschaft erstrebenswert, wenn sie dazu beitragen, Quartiere für alle gesünder zu machen.

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ist nicht mehr allein eine Frage von Klassenzugehörigkeit, Partizipation und Integration, sondern auch nach „gesunder Gerechtigkeit“. Die Coronakrise oder auch die jüngste Flutkatastrophe haben gezeigt, dass ein generelles Umdenken darüber eintreten muss, wie wir Menschen mit Mutter Erde in Zukunft umgehen. Die Soziale Arbeit im Bereich der Quartiersarbeit sollte darauf reagieren, indem sie sich neben dem Primat des Sozialen verstärkt auch politischen und ökologischen Herausforderungen stellt, ansonsten könnten die Spielräume sozialarbeiterischen Agierens, sowohl in geistiger als auch physikalischer Hinsicht, in Zukunft fundamental bedroht sein.

Verwendete Literatur

Alinsky, S. D., & Rabe, K.‑K. (2010). Call me a radical (Bearb. und aktualisierte Neuaufl.). Organizing und Empowerment. Göttingen: Lamuv-Verlag.

Baldwin, J. (2020). Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time (M. Mandelkow, Übers.). München: dtv Verlagsgesellschaft.

Lüttringhaus, M., & Richers, H. (Hrsg.) (2012). Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen: Vol. 29. Handbuch Aktivierende Befragung: Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis (3. Auflage). Bonn: Stiftung Mitarbeit.

Marschall von, C. (2012). Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben. Freiburg im Breisgau: Herder.

Meier Magistretti, C., Lindström, B., & Eriksson, M. (2019). Salutogenese kennen und verstehen. Hogrefe.

Obama, B. (2010). Warum organisieren? Probleme und Aussichten in den Innenstadtgebieten, Seite 4-7, In: Friedrich-Ebert-Stiftung , Das Programm Soziale Stadt. Kluge Städtebauförderung für die Zukunft der Städte.

Weblink https://de.wikipedia.org/wiki/Saul_Alinsky

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Details

Titel
Wie können wir sozialen, ökologischen und politischen Herausforderungen im Alltäglichen adäquat begegnen? Ansätze einer unkonventionellen Sozialraumorientierung in gegenwärtigen Wertegemeinschaften
Hochschule
Fliedner Fachhochschule Düsseldorf
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
11
Katalognummer
V1167353
ISBN (eBook)
9783346576088
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialraumorientierung, ökologisch, politisch, solutogene Gemeinschaften
Arbeit zitieren
Julia Magerkurth-Henneke (Autor:in), 2021, Wie können wir sozialen, ökologischen und politischen Herausforderungen im Alltäglichen adäquat begegnen? Ansätze einer unkonventionellen Sozialraumorientierung in gegenwärtigen Wertegemeinschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167353

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