Konstruktion narrativer Identität. Am Beispiel von Christian Berkels Roman "Der Apfelbaum"


Hausarbeit, 2020

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Berkels Identitätskrise – Ursache und Wirkung

3 Narration als Ausweg: zur Bedeutsamkeit des narrativen Diskurses

4 Berkels Konstruktion einer narrativen Identität
4.1 Der Sonderstatus der Mutter
4.2 Die adäquate Textform: ein Oszillieren zwischen Faktualität und Fiktionalität ..…
4.2.1 Zur Funktion des faktualen Textteils
4.2.2 Vom Nutzen der Fiktionalität

5 Identitätsfindung als Prozess

6 Schlussbetrachtungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Der Begriff ´Identität´ stellt in unserer heutigen Zeit kein Fremdwort mehr dar, da wir uns mit diesem Begriff im Alltag häufig konfrontiert sehen. Oder um es mit den Worten Heiner Keupps zu formulieren: „Identität ist ein Begriff, der im Alltag angekommen ist.“1 Dabei ist die Verwendung des Begriffs oftmals mit Zuschreibung verschiedener Attribute verbunden. Man denke hierbei an den Personalausweis, die Carte d´Identité, bei der die Identität einer Person über Größe, Augen- und Haarfarbe definiert wird und die Einzigartigkeit ebenjener Person mittels einer Identifikationsnummer dokumentiert wird. In sozialen Medien, wie etwa Facebook oder Instagram ist es möglich, seine ganz spezielle Identität virtuell zu kreieren, je nachdem was man von sich preiszugeben bereit ist oder wie man von anderen gesehen werden möchte.

Vorliegende Hausarbeit befasst sich allerdings nicht mit jenen elementaren und offenkundigen Zuschreibungen von Identität. Der Fokus richtet sich einerseits darauf, welche psychischen und emotionalen Konsequenzen es nach sich zieht, wenn eine Person mit sich nicht im Reinen ist, wenn die Frage nach dem „Wer bin ich?“ nicht eindeutig zu beantworten und von Zweifeln behaftet ist. Wenn sich in der Realität kein Weg aus einer Identitätskrise anbietet, gibt es dennoch einen Ausweg: die Konstruktion einer narrativen Identität. Mit narrativer Identität bezeichnet Paul Ricœur jene Art von Identität, zu der das menschliche Wesen durch die Vermittlung der narrativen Funktionen Zugang haben könne.2 Durch die Hausarbeit soll daher demonstriert werden, woraus Berkels Gründe für die Konstruktion einer narrativen Identität resultieren und durch welche spezifische Methode er diese konstruiert. Um diese These belegen zu können, bietet sich hierfür Christian Berkels Roman ´Der Apfelbaum´ paradigmatisch als Untersuchungsgegenstand an. Ein Buch, das zwar in erster Linie Berkels Familiengeschichte gewidmet ist, in dem aber dennoch Berkels Identitätskrise beleuchtet wird. Daher kann nicht der gesamte thematische Inhalt dieses Buches bei der stattfindenden Analyse Betrachtung finden oder gar resümiert werden, sondern ausschließlich jene Aspekte, die für die Konstruktion einer narrativen Identität relevant sind. Aufgrund der Schwierigkeit der eindeutigen Gattungsbezeichnung wird ´Der Apfelbaum´ im weiteren Verlauf der Hausarbeit nicht als Roman sondern schlicht als Buch bezeichnet. Diese Thematik wird an späterer Stelle aufgegriffen und näher betrachtet. Um die These der vorliegenden Hausarbeit einzulösen, sieht die Vorgehensweise dabei wie folgt aus: Zuerst wird die Ursache für Berkels Identitätskrise dargelegt und wie sich diese Krise in psychischer Hinsicht auf ihn auswirkt. In einem nächsten Schritt soll demonstriert werden, dass dem narrativen Diskurs eine gewichtige Bedeutung und dass ebenjener Diskurs für Berkel einen Weg aus seiner Identitätskrise darstellt. Weiterhin soll im daran anschließenden Hauptteil erläutert werden, weshalb Berkels Mutter bei der Konstruktion einer narrativen Identität in den Fokus rückt und dass dieser Aspekt letztlich die Textform, die zwischen Faktualität und Fiktionalität oszilliert, bedingt. Abschließend wird dargelegt, welche Erkenntnisse Berkel hieraus gewinnt und dass seine Identitätsfindung nichts Endgültiges darstellt sondern vielmehr einen Prozess beschreibt. Indem die Analyse Aufschluss über die Konstruktion einer narrativen Identität vermittelt, steht diese Analyse zugleich im aktuellen wissenschaftlichen Kontext und streift dabei Forschungsfelder aus der Literaturwissenschaft, aus der Identitäts- und Erzählforschung und bisweilen auch Aspekte aus der zeitgenössischen Psychologie.

2 Berkels Identitätskrise – Ursache und Wirkung

Berkel wurde von Kindesbeinen an im christlichen Glauben erzogen und ging unwillkürlich davon aus, dass beide Elternteile deutsche Staatsbürger seien. Auch wenn er sich aufgrund seines Alters bis dato nie bewusst mit dieser deutschen Identität befasst hat, so kam es für ihn einem Initialschock gleich, als er als Sechsjähriger unter dem Apfelbaum erstmals von seinen jüdischen Wurzeln erfuhr. Durch die Worte seiner Mutter, dass er ein bisschen jüdisch sei3 erfuhr Berkel etwas, das seine Welt durcheinanderwirbelte.4 Dem Rezipienten wird durch Berkels Buch ein dezidierter Einblick in die ursächlichen Auslöser für Berkels Identitätskrise gewährt. Doch ein Buch stellt nur vermeintlich etwas Singuläres, ein von allem losgelöstes Produkt dar. Kaufmann umschreibt diesen Umstand dahingehend, dass Bücher wie Solitäre seien.5 Diese sind jedoch, wie Berkels Buch, in lange Gedankengänge eingebunden6, die das Zustandekommen eines Buches überhaupt erst möglich machen. Während uns die Gedankengänge bei anderen Büchern meist verwehrt bleiben, so nimmt Berkel in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein: bereits vor Erscheinen seines Buches führt er mannigfaltige Interviews wie beispielsweise im Radio, Fernsehen und in Zeitungen. Diese Interviews stellen die sogenannten Epitexte7 dar, die intime Einblicke über Berkels Beweggründe, weshalb er sein Buch schrieb, gewähren und Informationen darüber liefern, wie sich dieser in der Kindheit zugetragene Initialschock auf Berkels weiteres Leben auswirkte.

So erfährt man anhand des Buches, dass Berkel als Kind die Aussage seiner Mutter, dass er ein bisschen jüdisch sei8, also nicht ganz9, dahingehend interpretiert, dass er sich nicht als etwas Intaktes empfand, sondern vielmehr als etwas, das kaputt war.10 Durch die Epitexte wiederum vermittelt Berkel, dass er durch das Wissen, sowohl eine deutsche als auch eine jüdische Identität in sich zu tragen, kein Gefühl von Zugehörigkeit hatte.11 Insbesondere der Mantel des Schweigens, der über die jüdische Identität der Mutter gelegt wurde, trug zur Ungewissheit von Berkels eigener Identität bei.12 Das Schweigen hinterließ Lücken in Berkels Familiengeschichte. Lücken, die eine kohärente und kontinuierliche Familiengeschichte nicht zuließen, die Berkels Wunsch nach Zugehörigkeit, sei es zur deutschen oder jüdischen Identität, verhinderten. Berkel kann sich dergestalt keinerlei Reim auf sich machen und dieser Aspekt ist hauptverantwortlich für seine Identitätskrise. Obwohl der empirische Identitätsforscher Erik Erikson bereits in den 1960er Jahren Kohärenz und Kontinuität als Kernelemente des eigenen Identitätsempfindens deklarierte, haben diese beiden Elemente auch in der heutigen Zeit nichts an ihrer Brisanz verloren und sind aktueller denn je.13

Jean-Claude Kaufmanns Aussage, „[g]erade weil es ´Krisen´ gibt, weil die Orientierungspunkte der Selbstdefinition verschwimmen, bricht die Identitätssuche mit solcher Wucht hervor,"14 trifft auch auf Berkels Situation zu. Angelangt an einem bestimmten Punkt in seinem Leben, nimmt er sich seiner Identitätskrise an und versucht für sich die notwendige Kohärenz und Kontinuität herzustellen. Berkel selbst wolle nicht wie ein Buch dastehen, aus dem einzelne Kapitel herausgerissen wurden, unverständlich für andere wie für ihn selbst.15 Mithilfe des narrativen Diskurses und dem Schreiben seines eigenen Buches kann er dieser Gefahr vorbeugen. Zudem wird Kapitel 3 Aufschluss darüber geben, worin die Bedeutung des narrativen Diskurses liegt und wie dieser zur Konstruktion einer narrativen Identität beiträgt.

3 Narration als Ausweg: zur Bedeutsamkeit des narrativen Diskurses

Der narrative Diskurs bezeichnet eine auf Traditionen beruhende Form des Geschichtenerzählens. Wurden Geschichten ursprünglich in mündlicher Form vorgetragen und vermittelt, so ermöglichte die kulturelle Errungenschaft der Schrift auch eine Option der schriftlichen Vermittlungsweise. Ob in oraler oder literaler Form, beiden ist eines gemeinsam: durch die erzählte Geschichte findet stets ein Austausch statt, sei es ein direkter zwischen Erzähler und Zuhörerschaft oder ein indirekter zwischen Autor und Rezipienten. Während Walter J. Ong bereits der Mündlichkeit und Schriftlichkeit16 in soziokultureller Hinsicht einen besonderen Stellenwert zugeschrieben hat, so kann auch bei Berkel der Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine gewichtige Bedeutung zugemessen werden: bevor er mit der eigentlichen Niederschrift seines Buches beginnt, gewährt er Dritten durch mündliche Erzählungen seinerseits einen Einblick in seine Familiengeschichte. Sprache selbst stellt für Berkel jedoch nicht nur ein Kommunikationsmedium dar. Für Berkel ist Sprache unser mächtigstes Instrument,17 mithilfe derer man Wirklichkeit konstruieren könne.18 Für Berkel bedeutet das, dass er für sich und als Ausweg aus seiner Identitätskrise mithilfe der Narration eine für ihn stimmige und sinnstiftende Wirklichkeit erzeugen kann.

[...]


1 Heiner Keupp: Identitätskonstruktionen – Interkulturelle Identität. In: Die Perspektive des Anderen. Kulturräume anthropologisch, philosophisch, ethnologisch und pädagogisch beleuchtet. Hg. von Fadja Ehlail u.a. Heidelberg: Mattes Verlag 2010 (= Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg 53). S. 25–44, hier S. 27.

2 Paul Ricœur: Narrative Identität. In: Heidelberger Jahrbücher. 31 (1987), S. 57–67, hier S. 57.

3 Christian Berkel: Der Apfelbaum. Berlin: Ullstein Verlag 2019. S. 115.

4 Ebd., S. 116.

5 Jean-Claude Kaufmann: Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK Verl.-Ges 2005. S. 7.

6 Ebd.

7 Der Begriff Epitext wurde durch Gérard Genette geprägt. Bezeichnet werden hiermit jene Textteile, die nicht unmittelbar am eigentlichen Text auftreten sondern außerhalb von diesem erscheinen, wie dies beispielsweise auf Berkels Interviews zutrifft.

8 Christian Berkel: Der Apfelbaum, S. 115.

9 Ebd.

10 Ebd., S. 116.

11 Sophie Albers Ben Chamo: „Du bist ein bisschen jüdisch“. Christian Berkel über seine Familie, seinen Roman „Der Apfelbaum“ und Salon-Antisemitismus. In: Jüdische Allgemeine (14.3.2019). H 11/19. S. 8.

12 h-eins.tv: Identität, Familie und Liebe – Christian Berkel über „Der Apfelbaum". https://www.youtube.com/watch?v=C_napga3_Oo (15.09.2020), TC: 1:31–1:34 Min.

13 So besteht beispielsweise bei Wolfgang Kraus (Das erzählte Selbst, S. vii) und Heiner Keupp (Identitätskonstruktionen, S. 27) dahingehend Einigkeit, dass Forschungen über Identität nicht ohne Bezug zu Eriksons Identitätstheorie auskommen.

14 Jean-Claude Kaufmann: Die Erfindung des Ich, S. 31.

15 Christian Berkel: Der Apfelbaum, S. 211.

16 Vgl. hierzu Walter J. Ong: Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes.

17 Ullstein Buchverlage: Der Apfelbaum. Interview auf der Frankfurter Buchmesse 2018. https://youtube.com/watch?v=zXPPJ--2TOI (15.09.2020), TC: 7:20–7:23 Min.

18 Ebd., TC: 7:27–7:29 Min.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Konstruktion narrativer Identität. Am Beispiel von Christian Berkels Roman "Der Apfelbaum"
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
18
Katalognummer
V1167873
ISBN (eBook)
9783346579980
ISBN (Buch)
9783346579997
Sprache
Deutsch
Schlagworte
konstruktion, identität, roman, faktualität, fiktionalität, narration, christianberkel, derapfelbaum, identitätskrise, literaturwissenschaft, analyse
Arbeit zitieren
Verena Dolch (Autor:in), 2020, Konstruktion narrativer Identität. Am Beispiel von Christian Berkels Roman "Der Apfelbaum", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167873

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