Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. (Jugend-)Sexualität im Wandel
2.1 Definitionen der zentralen Begriffe
2.1.1 Jugendliche Lebensphase
2.1.2 Sexualität und sexuelle Identität
2.2 Historisch-gesellschaftliche Betrachtung des Sexualitätsbegriffs
2.3 Einfluss gesellschaftlicher Normen auf Jugendsexualität
3. Bedeutung von Sexualität in der psychosexuellen Entwicklung
4. Jugendliche Sexualität im Kontext des Internetzeitalters
4.1 Über die Zunahme pornografischer Web-Inhalte
4.2 Motive zum bewussten Konsum
4.3 Annahmen und empirische Befunde zu den Wirkungen von Pornografiekonsum
4.3.1 Geschlechterrollen
4.3.2 Körperbild, Leistungsdruck und Realitätsnähe
5. Anregungen für eine zeitgemäße Sexual- und Medienpädagogik
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Seitdem Pornografie frei im Internet zugänglich ist, rückt der Diskurs über die Auswirkungen, insbesondere bei Jugendlichen, von der Konfrontation mit pornografischen Web-Inhalten immer mehr in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Dabei sind zwei konträre Positionen zu erkennen. Einerseits wird Pornografie kategorisch abgelehnt, da eine Entwicklungsgefährdung und Verrohung der Jugend vermutet wird, andererseits werden genau diese Behauptungen abgewiegelt, indem Internetpornografie als eine „harmlose Alltagserscheinung“ beschrieben wird (Korte, 2018, S. 21). Dennoch besitzen im Jahre 2019 in Deutschland 93% der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ein eigenes Smartphone, wovon 86% über einen uneingeschränkten WLAN-Zugang zuhause verfügen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2019, S. 7 und 22). Es liegt nahe, dass durch diese freie Verfügbarkeit das durchschnittliche Alter bei erstem Kontakt mit pornografischen Inhalten sinkt. So erfolgte laut einer Studie aus dem Jahr 2010 der erstmalige Kontakt bei Jungen mit 13,2 Jahren, Mädchen hingegen rezipierten erst mit durchschnittlich 14,7 Jahren das erste Mal pornografische Darstellungen (Weber & Daschmann, 2010, S. 177). Diese Zahlen lassen allerdings noch nicht darauf schließen, welche Bewertungen die Jugendlichen bei dem Gesehenen vorgenommen haben, welche Emotionen sie dabei vernommen haben und ob sie solche Inhalte aktiv erneut konsumieren. In der Literatur und Wissenschaft um die Auswirkungen dieser Thematik herrscht aufgrund unzureichender Befunde noch kein allgemeiner Konsens.
Dennoch soll die folgende Seminararbeit einen Versuch darstellen, unter anderem diese offenen Fragen zu beantworten. Da der Diskurs um Pornografie stark mit der Frage um den Wandel der Jugendsexualität verknüpft ist, behandelt die vorliegende Seminararbeit die daraus resultierenden Wirkungen auf die Entwicklung von Sexualität, dessen Ausbildung als eine zentrale Entwicklungsaufgabe in der jugendlichen Lebensphase angesehen wird. Um die Forschungsfrage beantworten zu können, wurden themenrelevante Literatur und empirische Forschungsergebnisse hinzugezogen, welche die Wirkungsannahmen und Theorien zur behandelten Problematik untersuchen.
Abschließend wird die Arbeit darüber Aufschluss geben, wie die Soziale Arbeit in den jugendbezogenen Arbeitsfeldern auf die möglichen Folgen reagieren kann, indem auf eine zeitgemäße Sexualpädagogik und die Entwicklung von Medienkompetenz eingegangen wird.
Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, klammert sie die Folgen von sexualisierter Gewalt in Pornografie aus und beschäftigt sich hauptsächlich mit gewaltfreien Darstellungen. Obwohl in der Literatur auch positive Wirkungen von Pornografiekonsum im jugendlichen Lebensalter zu finden sind, beschränkt sich diese Hausarbeit auf Negativ-Folgen. Des Weiteren wird der ungewollte oder zufällige Kontakt mit Pornografie im Jugendalter nur kurz angerissen, da dem bewussten Konsum bei der Frage um nachhaltige Wirkungen eine größere Bedeutung zukommt. Die Forschungsfrage lautet demnach: Welche Auswirkungen hat der regelmäßige und aktive Konsum gewaltfreier pornografischer Web-Inhalte auf die Entwicklung von Sexualität in der jugendlichen Lebensphase und wie kann die Soziale Arbeit darauf adäquat reagieren?
2. (Jugend-)Sexualität im Wandel
Das folgende Kapitel klärt vorerst über die wesentlichen Begriffe der Seminararbeit auf, um ein allgemeines Verständnis zu schaffen. Im nächsten Schritt wird der Sexualitätsbegriff im Kontext historisch—gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet. Anschließend werden gesellschaftliche Normen hinsichtlich Jugendsexualität behandelt und inwiefern diese Einfluss auf Heranwachsende nehmen.
2.1 Definitionen der zentralen Begriffe
Da die für die Seminararbeit relevanten Termini „Jugendliche Lebensphase“ und „Sexualität“ bzw. „sexuelle Identität“ in diverser Literatur sowie aus subjektiver Sicht unterschiedlich verstanden werden, bedarf es vorab einer begrifflichen Klärung.
2.1.1 Jugendliche Lebensphase
Unter dem Begriff „Jugendliche Lebensphase“ wird in dieser Arbeit eine eigenständige abzugrenzende Lebensphase verstanden, welche sich durch „besondere Bedürfnisse, Eigenschaften und Interessen auszeichnet“ (Scherr, 2016, S. 147). Diese Phase spielt sich zwischen Kindheit und Erwachsensein ab und ist somit auch als eine wichtige psychosoziale Entwicklungsphase einzuordnen. Gleichzeitig liegt dabei besonderes Augenmerk auf die damit einhergehende psychosexuelle Entwicklung, dessen Relevanz im nachfolgenden Kapitel weiter erläutert wird. In sozialwissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Theorie besteht Konsens darüber, dass es sich bei dem Jugendbegriff um eine wichtige Übergangs- und Entwicklungsphase handelt, es ist jedoch umstritten in welchem Lebensjahr sie ihren Anfang und ihr Ende findet (Böhm et al., 2016, S. 3,).
Die Begrifflichkeit erschien erstmalig mit der Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in dem die soziale und räumliche Trennung sowie die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurden (Scherr, 2016, S. 149). Diese Wandlungsprozesse führten erstmalig zur Wahrnehmung einer zusätzlichen Phase in der psychosozialen Entwicklung des Menschen, in der die normative Erziehung und Sozialisationsprozesse erfolgen (Staats, 2019, S. 13).
Demgegenüber beschreibt die Soziologie den Begriff Jugend als keine natürliche Entwicklungsphase und postuliert, dass Jugend im zuvor genannten Deutungsrahmen durch eine Form der Vergesellschaftung geschieht (Scherr, 2016, S. 147). Sie sei demnach eine gesellschaftliche Form, das Heranwachsen für ihre Zwecke zu strukturieren. Zusätzlich finden sich in den Nachbarsdisziplinen weitere Beschreibungen der jugendlichen Lebensphase, welche sich teilweise überschneiden. Es ließen sich je nach Forschungsfrage Definitionen aus juristischer, biologischer, psychologischer und pädagogischer Sichtweise zu Rate ziehen (Staats, 2019, S.13).
Die Altersfrage der Adoleszens bleibt insgesamt weiterhin ungeklärt. Da sich diese Seminararbeit neben den Auswirkungen pornografischen Konsums auf Jugendliche ebenfalls mit der auf diese Thematik bezogenen Handlungsfähigkeit der Sozialen Arbeit beschäftigt, ist es von Vorteil, die Definition aus dem Achten Sozialgesetzbuch hinzuzuziehen, um den Begriff Jugend näher zu definieren. Der Gesetzgeber legt im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes fest, dass der Begriff Jugend über das Alter definiert wird, sodass Jugendlicher ist, „wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist“ (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Diese Auffassung bildet die rechtliche Grundlage vieler Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit und ist somit auch gewissermaßen Basis dieser Arbeit.
Weiterhin ist es unumgänglich, sich für diese Arbeit themenrelevanter Studien zu bedienen, welche sich entweder auf ein engeres oder breiteres Altersspektrum von Heranwachsenden beziehen. Im Rahmen dieser Arbeit ist keine neu angelegte empirische Forschung vorgesehen, sodass es unvermeidbar bleibt, auf die vorhandenen Forschungsergebnisse zuzugreifen. Für den Begriff der Jugend ist wie bereits beschrieben keine allgemein gültige Definition zu finden, da die Beschreibungen in jeglicher Literatur divergieren. Insgesamt ist davon auszugehen, dass es sich in der vorliegenden Arbeit entsprechend des juristischen Verständnisses im Kinder- und Jugendhilfegesetz um die Zeit zwischen dem ungefähr 14. und 18. Lebensjahr handelt.
2.2.2 Sexualität und sexuelle Identität
Aus Perspektive diverser Wissenschaftsdisziplinen lassen sich auch für den Begriff Sexualität verschiedene Definitionen ausmachen. Die Biologie beispielsweise zielt beim Thema Sexualität auf die weiblichen und männlichen Kennzeichnungen des Geschlechts ab, während im Alltag oft nur der Geschlechtsverkehr an sich gemeint ist (Mantey, 2020, S. 51). Diese Arbeit sieht den Begriff aus einer umfassenderen Perspektive, indem sie partiell auf inhaltliche Aspekte der jeweiligen Teildisziplinen zurückgreift. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) beschreibt 2014 in ihrem Rahmenkonzept zur Sexualaufklärung in Abstimmung mit den Bundesländern die Weite des Sexualbegriffs (pro familia Baden-Württemberg, 2016, S. 5):
Sexualität ist ein existentielles Grundbedürfnis des Menschen und ein zentraler Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeitsentwicklung. Sexualität umfasst sowohl biologische als auch psychosoziale und emotionale Tatbestände und Vorgänge. Die Ausgestaltung von Sexualität deckt ein breites Spektrum von positiven bis zu negativen Aspekten ab, von Zärtlichkeit, Geborgenheit, Lustempfinden, Befriedigung, bis hin zu Gewaltanwendung und Machtausübung. Menschen leben und erleben Sexualität unterschiedlich. Sie ist ein wichtiges Element der individuellen Lebensweise.
Diese Definition ist auch das für diese Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Sexualität. Primär unterstreicht die Passage die Sexualität als ein Grundbedürfnis des Menschseins und macht damit die Notwendigkeit des Umgangs mit Sexualität - auch im Jugendalter - deutlich. Gleichzeitig wird auf die Variabilität und Individualität von Sexualität aufmerksam gemacht, woraus sich die unterschiedlichen Dimensionen und Funktionen von Sexualität ergeben. Um diesen pluralen Gegenstand zu verstehen, werden in den folgenden Abschnitten die Aspekte von Sexualität näher beschrieben und auf die Einflussfaktoren im gesellschaftlichen Kontext eingegangen. Außerdem weist die BZgA oberflächlich auf den Zusammenhang von Sexualität und Identität hin. Sexuelle Identität bezogen auf Jugendliche ist für diese Arbeit von Relevanz und soll in diesem Unterkapitel zum Zweck des allgemeinen Verständnisses der Forschungsfrage seine Deskription finden.
Sexualität und sexuelle Identität sind dabei nicht stringent von einander zu trennen, vielmehr beeinflussen die Sexualität und die sexuelle Identität sich wechselseitig. Die sexuelle Identität umfasst verschiedene Gesichtspunkte. Zum einen geht es um die Entwicklung eines Verantwortungsgefühls für die eventuellen Konsequenzen des eigenen Handelns und zum anderen um das Erkennen der eigenen sowie der Bedürfnisse des (Sexual-)Partners (Timmermanns & Böhm, S. 25). Entscheidend ist parallel die Frage nach den persönlichen moralischen Werten, nach denen das Sexualleben gestaltet werden soll. Hierbei können das persönliche Umfeld als auch insbesondere gesellschaftliche Konventionen, moralische Vorstellungen und Werte eine große Rolle spielen und auf diese Weise Einfluss auf die sexuelle Identität des Individuums nehmen. Nicht zuletzt gehört auch das Entwickeln und Bewusstwerden der eigenen sexuellen Orientierung dazu, d.h. das Einordnen in den Konzepten Homo-, Bi- und Heterosexualität. Folglich hat das Aus- und Erleben von Sexualität und sexueller Identität großen Einfluss auf die individuelle Lebensführung und psychische Gesundheit.
2.2 Historisch-gesellschaftliche Betrachtung des Sexualitätsbegriffs
Aus etymologischer Sicht bedeutet Sexualität „Geschlechtlichkeit“ und entstand vorerst nur im Rahmen des Sprachgebrauchs der Botanik und Zoologie Anfang des 19. Jahrhunderts (Staats, 2019, S. 19). Erst Mitte des 19. Jahrhunderts findet der Begriff Einzug in die Beschreibung um das menschliche Dasein (Dressler & Zink, 2003, S. 485). Daraufhin entwickelte sich eine Sexualwissenschaft, die primär medizinisch geprägt war und den „normativen, auf Fortpflanzung gerichteten“ Sex beim Menschen in den Fokus nahm (Stein-Hilbers, 2000, S. 21). Zudem entwickelte sich die Verbindung von Liebe und Sexualität entgegen heutiger ideeller Erwartungen (Luhmann, 1982 zitiert nach Staats, 2019, S. 19). Bereiche wie die Theologie, Pädagogik und Jurisprudenz nahmen Anteil am neuen Sexualdiskurs (Foucault, 1977, zitiert nach Staats, 2019, S. 19). Zeitgleich veröffentlichte der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud neue Erkenntnisse über die psychosexuelle Entwicklung des Menschen und revolutionierte die Sexualwissenschaft, indem sexuelle Verhaltensweisen entpathologisiert wurden (Staats, 2019, S. 19).
Die Vergangenheit zeigt, dass menschliche Sexualität damals sowie heute aus zwei konträren Positionen wahrgenommen wird und sich aus diesem Grund stetig in einem Spannungsfeld befindet. „Das Spannungsfeld zwischen Repression und Befreiung der Sexualität bleibt bis zum heutigen Zeitpunkt ein essentielles Gedanken- und Handlungskonstrukt im Umgang mit Sexualität“, beschreibt Staats zutreffend (2019, S. 20). Im aktuellen Diskurs über die sexuelle Verwahrlosung der Jugend spiegelt sich wider, dass Sexualität ein „mit Besorgniserregung betrachteter Gegenstand bleibt, der durch Selbstbeherrschung und bei einem Mangel eben dieser, durch Kontrolle, in den Grenzen der gesellschaftlichen Norm gehalten werden muss“ (Staats, 2019, S. 20). Weiterhin treibt der Diskurs voran, dass Sexualität ein wirklicher Bestandteil der Menschheit ist und bleibt. Unterdessen ist historisch gesehen zu beobachten, dass die Besorgniserregung um Sexualität kein neues Phänomen ist, sondern sich seit dem Aufkommen des Begriffs und der wissenschaftlichen Disziplin immer wieder Varianten von Gefahren um die Sexualität in der Öffentlichkeit ausbreiten (Schetsche & Schmidt, 2010, S. 9). Diese Diskurse beruhen stets auf einer „traditionalistischen Sexualideologie“, die sich seither in der Gesellschaft tief verwurzelt hat. Die Antimasturbationspädaogogik beispielsweise fand vom 18. und 20. Jahrhundert seine Befürworter, während die Diskussionen um Buch- und Filmkontrolle in den 1950er Jahren stattfanden. Seit den 2000er Jahren ist es die „Generation Porno“ mit der einhergehenden „Sexuellen Verwahrlosung“, vor der sich gefürchtet und die Kinder behütet werden sollen. Es lässt sich also aus historischer Sicht darauf schließen, dass der Mensch in seiner Sexualität und somit auch seiner sexuellen Identität von gesellschaftlichen Normen und Werten beeinflusst wurde. Bezogen auf die in dieser Arbeit behandelte Jugendsexualität werden diese Einflüsse in dem folgenden Kapitel behandelt.
2.3 Einfluss gesellschaftlicher Normen auf Jugendsexualität
Normen und Werte bieten eine unverzichtbare Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben und soziale Handeln eines Individuums. In der soziologischen Rollentheorie werden „Normen als Verhaltenserwartungen mit unterschiedlicher Verbindlichkeit analysiert, die Bezugsgruppen an die Inhaber sozialer Positionen richten“ (Scherr, 2016, S. 217). Diese Verhaltenserwartungen können stark variieren, sodass sich Jugendliche in ihrer Entwicklung bezogen auf Sexualität und Identitätsfindung in einer Gemengelage befinden können. Jegliches soziale Handeln in Folge von der Umsetzung einer geltenden Norm hat sowohl Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben, als auch auf das individuelle Leben, sodass sich die unterschiedlichen Verbindlichkeiten von Normen in „Vorwürfen, Statusverlust oder auch strafrechtlicher Verfolgung“ zeigen (Staats, 2019, S. 29). In den §§ 147 ff. Strafgesetzbuch (StGB) finden sich die Straftaten gegen sexuelle Selbstbestimmung wieder, welche vor allem für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe von großer Relevanz sind. Die Paragraphen regeln die Straftaten sexuellen Missbrauchs sowie die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger und setzen somit einen Rahmen für Sozialarbeiterinnen in diesem Arbeitsfeld fest. Die Härte dieser Normen in Form von Gesetzen führen zuweilen sogar bei Fachkräften zu einer Abwendung des Themas Sexualität im Kontext der Arbeit mit Jugendlichen (Staats, 2019, S. 29 ff.).
Eine besonders niedrigschwellige Art der Transportation von Sexualnormen ist die Sprache in Form von täglicher Kommunikation oder auch durch Darstellung in den Medien (Staats, 2019, S. 30). Da sich das Internet aktuell über hohe Beliebtheit und Verbreitung unter Jugendlichen erfreut, ist es eine nicht zu unterschätzende Form der Reproduktion von Sexualnormen. Wie sich bereits im letzten Kapitel feststellen ließ, wird in der Öffentlichkeit dahingehend immerzu das abweichende Verhalten behandelt. „Normale“ Sexualität rückt in den Hintergrund und die Devianzen in den Vordergrund, weil sie als regulationsbedürftig gelten (Staats, 2019, S. 30). Hinzu kommt, dass das abweichende Verhalten erneut in „Devianzstufen“ klassifiziert wird und so kommt es zu einem „gesellschaftlichen Ausschluss der als absolut nicht akzeptabel bewerteten Verhaltensweisen“ (Staats, 2019, S. 30). Insgesamt ist festzustellen, dass Sexualität in der Gesellschaft seit jeher durch normative Vorstellungen ein stark negativbehaftetes Thema darstellt, bei dem die Diskussion über Verbote dominiert. Beispielhaft dafür ist außerehelicher Geschlechtsverkehr, der in den 1950er und 1960er Jahren zu einer „Zwangsehe“ führte, um das abweichende Verhalten zu kompensieren. Im Kontext der sexuellen Revolution entstanden Bestrebungen, moralische Vorstellungen dieser Art aufzubrechen und parallel die Jugendsexualität zu enttabuisieren (Staats, 2019, S. 30). Wichtigstes Ziel war es, eine neue gesellschaftliche Sicht auf Sexualität befreit von Tabuisierungen und Verboten zu schaffen. Aktuell wird aus wissenschaftlicher Sicht häufig dem Medium Internet eine zentrale Bedeutung verliehen, wenn es um den Wandel von Sexualmoral bei Jugendlichen geht. Die freie Verfügbarkeit des Internets und die damit möglichen Veränderungen des (sexuellen) Verhaltens unter Jugendlichen regen zu einem Diskurs an, der sich mit den Herausforderungen dieser Technologisierung beschäftigt.
Abschließend ist zu konstatieren, dass sich die Jugendsexualität immer zwischen den persönlichen Bedürfnissen und der gesellschaftlichen Sexualmoral bewegt. Letzteres kann für das Individuum sowohl eine positive Leitlinie darstellen, als auch die sexuelle Entfaltung begrenzen. Die psychosexuelle Entwicklung erfolgt über die sexuelle Sozialisation, welche durch das individuelle Umfeld, Institutionen wie Schule, aber vor allem durch gesellschaftliche Normen gekennzeichnet ist. In dem nächsten Kapitel wird auf die Bedeutung der psychosexuellen Entwicklung Heranwachsender näher eingegangen.
3. Bedeutung von Sexualität in der psychosexuellen Entwicklung
In der Entwicklungspsychologie gilt die sexuelle Identitätsfindung insbesondere bei Heranwachsenden als zentrale Entwicklungsaufgabe (Mantey, 2020, S. 13). Sexualität nimmt in der psychosexuellen Entwicklung verschiedene Funktionen ein, die je nach Lebensphase mehr oder weniger wichtig für das Individuum sein können (Staats, 2019, S.20 ff.). Die offensichtlichste Funktion ist die Fortpflanzung, auf welche sich in den ersten Zügen der Sexualwissenschaft vorerst beschränkt wurde. Sexualität kann jedoch auch Beziehungen beeinflussen und aufbauen und dient den sozialen Bedürfnissen eines Menschen nach Nähe und Intimität. Sie ist eine Möglichkeit der Kommunikation, welche nicht sprachlich, sondern körperlich stattfindet. Des weiteren ist Sexualität als Lustbefriedigung zu betrachteten, wenngleich dabei nicht der Geschlechtsverkehr in den Fokus genommen wird, sondern der eigene Körper, der Schutz und die Geborgenheit, der bei dem Partner gesucht wird und auch die Bindungen, die daraus entstehen können. Demgemäß beeinflusst Sexualität den Menschen in unterschiedlichen Dimensionen: körperlich, sozial, emotional, kulturell und gesellschaftlich. Es liegt nahe, dass diese zentrale Entwicklungsaufgabe dadurch einen enormen Einfluss auf das körperliche, psychische und soziale Befinden eines Menschen nimmt. Einerseits unterliegt die Entwicklung von Sexualität der individuellen Persönlichkeit und ihrem Prozess, andererseits unterliegt sie externen Einflussgrößen, die sich aus der Lebenswelt eines Menschen ergeben. Je nach Lebens- und Altersphase variieren diese externen Einflussgrößen und können einer unterschiedlichen Bedeutung beigemessen werden. Letztlich ist zu konstatieren, dass sich die Funktionen von Sexualität in den unterschiedlichen Altersphasen anders zeigen können.
Sexualität ist also ein lebenslanger Prozess und kein „starres Gebilde“ (Staats, 2019. S. 23). Der Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Dortmund Richard Günder beschreibt sexuelles Verhalten als „einen Ausdruck unserer Persönlichkeit“ (2011, S. 292). Es ist festzuhalten, dass die Entwicklung der Sexualität im Kindheits- und Jugendalter eine besonders prägende Funktion beim Menschen einnimmt. In der Jugendphase müssen diverse Entwicklungsaufgaben bezogen auf die Sexualität bewältigt werden. Beispielsweise findet der erste prägende sexuelle Kontakt statt, die sexuelle Präferenz entwickelt sich, Beziehungen werden ausprobiert und die körperliche geschlechtliche Entwicklung schreitet voran. Heranwachsende stehen also im Übergang zum Erwachsensein vor großen Aufgaben, aus deren Lösung eine sexuelle Identität entsteht. Über das Erproben ihrer Sexualität definieren sie auch ihre Persönlichkeit, sodass Sexualität einen Teil der Persönlichkeitsbildung darstellt.
[...]