Soziale Scham in "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon

Reproduktion sozialer Ungleichheit im Zuge sozialen Aufstiegs


Hausarbeit (Hauptseminar), 2021

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Rekonstruktion der Argumentation
2.1 Absichten des Autors
2.2 Zentrale Terminologie und Kernthese
2.3 Abgrenzung zur RCT und zum meritokratischen Prinzip

3. Emotionen und Scham im Kontext sozialer Ungleichheit
3.1 Implikationen von Scham für das soziologische Interesse
3.2 Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Scham

4. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung:

Im Rahmen des Sommermoduls wird eine Modularbeit zum Werk „Rückkehr nach Reims“, aus der Feder des französischen Soziologen Didier Eribon, verfasst. Eribon setzt sich in dieser so­ziobiographischen Arbeit besonders mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit und der sozia­len Frage auseinander. Diese Fragen beschäftigen Politik, Gesellschaft und auch die Soziologie nach wie vor intensiv. Einer repräsentativen Umfrage zufolge, halten 19% der Befragten die soziale Ungerechtigkeit für eines der zwei drängendsten Probleme in Deutschland.1 Die Be­handlung und Erforschung der Ursachen sozialer Ungleichheit hat dementsprechend weiterhin einen hohen Aktualitätsgehalt, denn die Implikationen, welche mit sozialer Ungleichheit ver­bunden sind, sind deutlich komplexer und beleuchten zahlreiche Faktoren neben der ökonomi­schen Dimension.

Eribon beschreibt in „Rückkehr nach Reims“ jedoch nicht allein die ökonomischen Ursachen von Ungleichheit. Er äußert sich ebenso bezüglich der Scham vor seiner Herkunft, sozialer Scham, sowie zu seinem Aufstieg. Dementsprechend soll sein Werk an dieser Stelle nicht aus­schließlich aus ungleichheitssoziologischer Sicht betrachtet werden, sondern verstärkt auch emotionssoziologische Aspekte miteinbezogen werden, um die Auswirkungen von Emotionen wie z.B. der Scham auf die soziale Struktur einer Gesellschaft zu begutachten. Die Notwendig­keit dieser dialektischen Betrachtung wird ebenfalls daran deutlich, wie die Frage der sozialen Ungleichheit im öffentlichen Diskurs behandelt wird. So gibt es im öffentlichen Diskurs häufig einen Gleichklang von sozialer Gerechtigkeit und der Notwendigkeit von Umverteilung des ökonomischen Kapitals.2 Dabei werden zumeist Aspekte des kulturellen, symbolischen und so­zialen Kapitals, sowie eine Berücksichtigung der emotionalen Herrschaftsverhältnisse außer Acht gelassen. Dementsprechend soll diese Arbeit die Frage beleuchten, ob eine Herkunfts­scham, wie jene von Eribon in „Rückkehr nach Reims“ dargestellt, die Reproduktion von Un­gleichheit und sozialen Hierarchien begünstigt.

Um der Beantwortung der Frage in der angesprochenen Dialektik aus ungleichheitssoziologi­scher und emotionssoziologischer Perspektive gerecht zu werden, wurde entsprechende Literatur aus beiden Sektionen herangezogen, sowie darüber hinaus spezifische Sekundärlite­ratur, welche sich auf „Rückkehr nach Reims“ bezieht.

Im ersten Teil der Arbeit wird zunächst der Argumentationsgang Eribons entlang der wichtigs­ten Aspekte rekonstruiert. Dabei geht es besonders darum, seine Position im Kontext mit wei­teren soziologischen Positionen zu beleuchten und gegebenenfalls davon abzugrenzen, sowie seine zentralen Ergebnisse knapp darzustellen. Im zweiten Teil werden dann die wesentlichen Aspekte zur Beantwortung der Forschungsfrage diskutiert. Dabei geht es zunächst um die so­ziale Funktion von Emotionen und anschließend im Schwerpunkt um die Faktoren der Repro­duktion von Ungleichheit, welche Eribon in „Rückkehr nach Reims“ benennt, sowie darauf aufbauend, die Rolle der Scham für die soziale und moralische Ordnung einer Gesellschaft.

2. Rekonstruktion der Argumentation:

Im ersten Teil dieser Arbeit geht es primär darum, die in „Rückkehr nach Reims“ dargestellten Argumentationsstränge darzustellen. Darüber hinaus soll die Intention des Autors und dessen Kernbotschaft diskutiert werden.

2.1 Absichten des Autors

Didier Eribon hat „Rückkehr nach Reims“ als soziobiographische Arbeit verfasst, in welche große Teile seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind. Eribon macht dabei bereits zu Beginn deutlich, was der Kernbestandteil seines Buches sein soll. Im Rahmen einer Selbstreflexion gibt sich Eribon selbst überrascht, dass er bis zu „Rückkehr nach Reims“ noch nichts über die Verhältnisse und Mechanismen von sozialer Herrschaft, sozialer Scham und der Teilung der Gesellschaft in Klassen verfasst habe (vgl. Eribon 2016: 19). Diese Erkenntnis hat Eribon dazu verleitet, seine Memoiren im Bezug auf soziale Ungleichheit zu verschriftlichen. Seine Intention, die Verhältnisse der sozialen Frage, von Macht und hierarchischen Beziehun­gen innerhalb der Gesellschaft zu problematisieren, spiegelt sich in einigen Textpassagen sehr deutlich wider. So wird herausgestellt, dass Eribon nach wie vor große Abscheu vor der Her­ablassung gegenüber der Arbeiterbewegung habe und, dass seine Erfahrungen ihn „gelehrt ha­ben, Macht und Hierarchien zu hassen“ (Eribon 2016: 93). Die starke Wortwahl Eribons in dieser Passage verdeutlicht, inwiefern er sich von der Vorstellung einer Hierarchisierung der Gesellschaft durch soziale Unterschiede distanziert. Dass mit dieser Ablehnung der Klassenge­sellschaft und der eigenen Erfahrung der Marginalisierung starke Gefühle verbunden sind, liegt auf der Hand. Diese Gefühle zeigen sich unter anderem im Diskurs über das Bestehen von Klassengesellschaften. Im Zuge dessen kritisiert er den französischen Soziologen Raymond Aron scharf. Auch gegen ihn und gegen seinen bürgerlichen Habitus entwickelt Eribon eine deutliche Abneigung, da Aron das Bestehen von Klassenunterschieden mitunter in Frage stellt (vgl. Eribon 2016: 91f.). Diese beiden genannten Textpassagen untermauern die ursprüngliche Intention Eribons, die Klassenverhältnisse in aller Deutlichkeit darzustellen und darauf hinzu­weisen, dass Klassenunterschiede nach wie vor bestehen.

Neben den Klassenverhältnissen wird jedoch weiteres Anliegen deutlich. Eribon verbleibt nicht bei der ausschließlichen Thematisierung der Klassengesellschaft, sondern geht auch intensiv auf seine eigene Gewordenheit im Rahmen seiner sozialen Aufstiegsmobilität ein. Dabei be­zieht er sich insbesondere auch auf die mit dem Aufstieg verbundenen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Eribon beschreibt, wie er durch seinen Aufstieg von seiner Familie „geflohen“ sei (Eribon 2016: 9) und versuchte seine „soziale Herkunft abzustreifen“ (Eribon 2016: 23), sowie eine „vollständige Umerziehung“ durchzuführen (Eribon 2016: 98). Diesen Aspekt greift Eribon im Verlauf des Buches immer wieder auf und kann deswegen durchaus als weitere In­tention herausgestellt werden.

2.2 Zentrale Terminologie und Kernthese

Um diese Absicht zu artikulieren macht sich Eribon zentrale Begriff der Ungleichheitssoziolo­gie zunutze, welche zu einem Großteil auf seinen Landsmann Pierre Bourdieu rekurrieren. Diese Kernbegriffe werden nun kurz dargestellt und ihre Funktion im Kontext der Klassenge­sellschaft und der sozialen Aufstiegsmobilität erläutert. Der Rückgriff auf Bourdieu ist nahe­liegend, hat doch Bourdieu eine ähnliche Lebensgeschichte und Aufstiegsmobilität wie Eribon erlebt (Eribon 2016: 152).

Im Zuge der Thematik der Mobilität zwischen Klassen ist der Begriff des Habitus nahezu un­verzichtbar. Dementsprechend nimmt er auch im Werk Eribons eine gewichtige Position ein. Der Habitus im Sinne Bourdieus ist ein Prinzip, welches sämtliche „expressiven Äußerungen“ in Form von persönlichen Charakteristika zum Ausdruck bringt (vgl. Farzin; Jordan 2015: 98). Nach Rehbein wird der Habitus im Wesentlichen durch den „hypothetischen Akteur als Reprä­sentant einer Gruppe“ beschrieben, welcher mit höherer Wahrscheinlichkeit Erfahrungen macht, die Repräsentanten anderer Gruppen wohl nicht machen (Rehbein 2015: 88). Diese Be­schreibung Rehbeins kann mit dem angesprochenen Vergleich der Biographien Eribons und Bourdieus untermauert werden, welche beide aus ähnlichen sozialen Verhältnissen und dem­entsprechend ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dies ist darauf zurückzuführen, dass we­sentliche Bestandteile des Habitus bereits durch das Elternhaus und das direkte Umfeld auf das Individuum übertragen und sozialisiert werden (vgl. Rehbein 2015: 21). Bourdieu geht sogar so weit zu konstatieren, dass die inkorporierten Praktiken durch den Habitus für die soziale Position gleichsam bedeutend sind, wie Einkommen und Prestige (vgl. Rehbein 2015: 29). Eribon selbst beschreibt seinen Habitus und die Wandlung desgleichen an verschiedenen Stel­len des Buches. So verweist er auf seine habituellen Praktiken als Schüler, welche ihm den Ruf eines Rebellen eingebracht haben und ihn in eine „stereotype Figur“ verwandelten (Eribon 2016: 152). Diese Vorstellung vom eigenen Habitus wich erst dann, als Eribon durch einen Freund aus einem anderen Milieu und dementsprechend auch mit einem anderen Habitus in Berührung kam, was in Eribon wiederum die Bestrebung auslöste, seinen ursprünglichen Klas­senhabitus abzulegen und sich einen neuen Habitus anzueignen. Dies wurde besonders deutlich daran, dass sich Eribon in der Folge dieser Freundschaft immer stärker von den Praktiken der Unterschichtjugend abzugrenzen versucht, um ein „Geige spielender Ästhet“ (Eribon 2016: 158) zu werden und sich somit auch immer weiter vom eigenen Herkunftsmilieu zu distanzieren (vgl. Eribon 2016: 22).

[...]


1 Infratest Dimap: Juni 2021. Eine repräsentative Studie zur politischen Stimmung im Auftrag der ARD-Tagest­hemen und der Tageszeitung DIE WELT, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard- deutschlandtrend/2021/juni/ (abgerufen am: 06.09.2021)

2 Hank, Rainer (2016): Soziale Ungleichheit. Nehmt den Reichen das Geld!, https://www.faz.net/aktuell/wirt- schaft/arm-und-reich/ungleichheit-ist-nicht-gleich-umverteilung-steuererhoehung-14134987.html (abgerufen am: 06.09.2021)

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Details

Titel
Soziale Scham in "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon
Untertitel
Reproduktion sozialer Ungleichheit im Zuge sozialen Aufstiegs
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
21
Katalognummer
V1168427
ISBN (eBook)
9783346578174
ISBN (Buch)
9783346578181
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Eribon, Soziale Ungleichheit, Sozialer Aufstieg
Arbeit zitieren
Alexander Berghaus (Autor:in), 2021, Soziale Scham in "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1168427

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