Auszug (Originalwortlaut): Wer die Ideale der Menschen kennt, der kennt mehr als die Hälfte ihres Charakters. Es gilt dieß nicht blos von den Einzelnen, sondern auch von ganzen Zeiten und Völkern; und darin liegt eben das eigenthümliche Interesse jener Schriften, welche der Schilderung idealer Zustände gewidmet sind, jener chiliastischen Literatur, welche in der Geschichte der Religion, der Bildung und des Staatswesens eine so bedeutende und merkwürdige Stelle einnimmt. Solche Schriften pflegen Vorschläge zu machen und Hoffnungen auszumalen, die weit über alles hinausgehen, was unter den gegebenen Verhältnissen, und oft genug über alles, was überhaupt unter Menschen möglich ist; aber so phantastisch sie in der Regel aussehen: wenn sich wirklich die Gedanken ihrer Zeit und bedeutender Menschen darin aussprechen, werden wir doch nicht wenig aus ihnen lernen können. Einerseits offenbaren sie uns die Ziele, die ihren Verfassern für das Höchste und Wünschenswertheste gelten, und eben damit die Triebfedern, von welchen die Kreise bewegt wurden, aus denen sie hervorgingen. Andererseits zeigen sie uns, was an den gegebenen Zuständen in einem bestimmten Zeitpunkt als verfehlt erkannt, unter welchen Bedingungen aus eine Besserung gehofft wurde; und sie beleuchten so theils die Vergangenheit, indem sie dieselbe vom Standpunkt der Folgezeit aus prüfen und oft unerbittlich verurtheilen, theils werfen sie prophetische Bilder der späteren geschichtlichen Gestaltungen in die Zukunft. Denn jedes wahrhafte und geschichtlich berechtigte Ideal ist nothwendig eine Weissagung, und eben das ist es, was den Idealisten vom Phantasten unterscheidet, daß dieser willkürlich selbstgemachte Zwecke mit unmöglichen Mitteln verfolgt, jener dagegen von dem Gefühl vorhandener Uebelstände ausgeht und geschichtlich berechtigten Zielen zustrebt, welche nur deßhalb in ihrer weiteren Ausführung phantastisch werden, weil die Bedingungen für ihre reinere Fassung und ihre naturgemäße Verwirklichung noch nicht vorhanden sind.
Wer die Ideale der Menschen kennt, der kennt mehr als die Hälfte ihres Charakters. Es gilt dieß nicht blos von den Einzelnen, sondern auch von ganzen Zeiten und Völkern; und darin liegt eben das eigenthümliche Interesse jener Schriften, welche der Schilderung idealer Zustände gewidmet sind, jener chiliastischen Literatur, welche in der Geschichte der Religion, der Bildung und des Staatswesens eine so bedeutende und merkwürdige Stelle einnimmt. Solche Schriften pflegen Vorschläge zu machen und Hoffnungen auszumalen, die weit über alles hinausgehen, was unter den gegebenen Verhältnissen, und oft genug über alles, was überhaupt unter Menschen möglich ist; aber so phantastisch sie in der Regel aussehen: wenn sich wirklich die Gedanken ihrer Zeit und bedeutender Menschen darin aussprechen, werden wir doch nicht wenig aus ihnen lernen können. Einerseits offenbaren sie uns die Ziele, die ihren Verfassern für das Höchste und Wünschenswertheste gelten, und eben damit die Triebfedern, von welchen die Kreise bewegt wurden, aus denen sie hervorgingen. Andererseits zeigen sie uns, was an den gegebenen Zuständen in einem bestimmten Zeitpunkt als verfehlt erkannt, unter welchen Bedingungen aus eine Besserung gehofft wurde; und sie beleuchten so theils die Vergangenheit, indem sie dieselbe vom Standpunkt der Folgezeit aus prüfen und oft unerbittlich verurtheilen, theils werfen sie prophetische Bilder der späteren geschichtlichen Gestaltungen in die Zukunft. Denn jedes wahrhafte und geschichtlich berechtigte Ideal ist nothwendig eine Weissagung, und eben das ist es, was den Idealisten vom Phantasten unterscheidet, daß dieser willkürlich selbstgemachte Zwecke mit unmöglichen Mitteln verfolgt, jener dagegen von dem Gefühl vorhandener Uebelstände ausgeht und geschichtlich berechtigten Zielen zustrebt, welche nur deßhalb in ihrer weiteren Ausführung phantastisch werden, weil die Bedingungen für ihre reinere Fassung und ihre naturgemäße Verwirklichung noch nicht vorhanden sind.
Unter allen den Schriften, auf welche die vorstehenden Bemerkungen anwendbar sind, ist wohl kaum eine zweite an geschichtlicher Bedeutung, wie an innerem Gehalt, mit der platonischen Republik zu vergleichen. Uns freilich spricht auch diese Schrift auf den ersten Blick seltsam genug an. Ein Staat, in welchem die Philosophen regieren, und mit absoluter Macht, ohne eine Verfassung oder sonst eine gesetzliche Schranke, regieren sollen; in welchem die Trennung der Stände so streng durchgeführt ist, daß den Kriegern und Beamten jede Beschäftigung mit Landwirthschaft und Gewerben untersagt wird, die Landbauer und Gewerbtreibenden ohne Ausnahme von aller politischen Thätigkeit ferngehalten, zu steuerzahlenden Unterthanen herabgedrückt werden; in welchem andererseits die Aktivbürger ganz nur dem Staate, nie und in keiner Beziehung sich selbst gehören sollen; ein Staat, welcher für seine höheren Stände die Ehe, die Familie, das Privateigenthum aushebt; wo alle Verbindungen von Mann und Weib für den einzelnen Fall von der Obrigkeit angeordnet, die Kinder, ohne ihre Eltern zu kennen, von ihrer Geburt an in öffentlichen Anstalten erzogen, die sämmtlichen Aktivbürger auf Staatskosten gemeinschaftlich gespeist, die Mädchen ebenso, wie die Knaben, in Musik und Gymnastik, in Mathematik und Philosophie unterrichtet, die Weiber, wie die Männer, zu Soldaten und Beamten verwendet werden; ein Staat, welcher auf wissenschaftliche Bildung gegründet sein will, und doch der freien Bewegung des geistigen Lebens die stärksten Fesseln anlegt, jede Abweichung von den herrschenden Grundsätzen, jede sittliche, religiöse und künstlerische Neuerung streng unterdrückt – ein solcher Staat steht mit allen unsern sittlichen und politischen Begriffen so vielfach im Widerspruch, er scheint nicht blos, sondern er ist auch so unausführbar, und er ist dieß schon in seiner Zeit selbst so sehr gewesen, daß es nicht zu verwundern ist, wenn der „platonische Staat“ für ein phantastisches Ideal, für die Einbildung eines Träumers, sprichwörtlich geworden ist.
Es ist noch nicht so lange her, daß er allgemein für nichts anderes gehalten wurde. Heutzutage hat man sich jedoch nachgerade überzeugt, daß hinter diesem Phantasiebild weit mehr Realität steckt, als man bei oberflächlicher Betrachtung glauben möchte. Nicht allein, daß Plato selbst seine Vorschläge ganz ernstlich genommen wissen will, und nur von ihnen Heil für die Menschheit erwartet: es ist auch so Vieles darin, was bestehenden Sitten und Einrichtungen entspricht, und auch ihre auffallendsten Bestimmungen erklären sich so vollständig aus den Zuständen jener Zeit und aus der Eigenthüntlichkeit der platonischen Philosophie, daß wir darin nicht willkürliche Erfindungen, sondern nur Folgerungen sehen können, welchen sich der Philosoph gerade deßhalb nicht zu entziehen wußte, weil er ein Grieche des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und ein folgerichtig denkender Mann war. Gleich die erste Grundforderung seines Staats, die Herrschaft der Philosophen, ist zugleich aus den gegebenen Zuständen und aus den Voraussetzungen des platonischen Systems abzuleiten. Jenes, sofern die herkömmlichen griechischen Verfassungen sich sichtbar überlebt, und in den Wirren des peloponnesischen Kriegs wetteifernd am Verderben der Staaten gearbeitet hatten; sofern auch die wiederhergestellte Demokratie in Athen schon durch die Hinrichtung des Sokrates in Plato’s Augen sich ihr Urtheil unwiderruflich gesprochen hatte. Dieses, weil ein System, das alle Sittlichkeit auf’s Wissen gründen wollte, auch für den Staat keinen anderen Grund legen konnte, weil der Staat zum Abbild der Idee, das er nach Plato sein soll, nur von denen gemacht werden kann, die sich zur Anschauung der Ideen erhoben haben. Aehnlich sehen wir die Trennung der Stände aus einer doppelten Wurzel hervorgehen: aus der Verachtung des Griechen gegen die Handarbeit, welche den Meisten das Gewerbe, den Spartanern selbst den Landbau als eine Erniedrigung für den freien Bürger erscheinen ließ; und aus der Furcht des Philosophen, seine Bürger in die Beschäftigung mit der Sinnenwelt zu verwickeln, aus der Ueberzeugung, daß nur eine gründliche Geistes- und Charakterbildung zu den höheren Aufgaben des Kriegers und des Staatsmanns befähigen, und daß diese mit dem Streben nach irdischen: Gewinn, mit einer Thätigkeit, welche den sinnlichen Bedürfnissen und Begierden dient, unvereinbar sei. Wenn endlich jene Unterdrückung der persönlichen Interessen, welche in der Aufhebung der Ehe und des Privateigenthums ihren schroffsten Ausdruck findet, jene Rechtlosigkeit des Einzelnen in seinem Verhältniß zum Staate uns nothwendig abstößt, so ist sie doch nur das Aeußerste einer Denkweise, welche dem Griechen eben so natürlich war, wie sie uns fremd ist; denn daß die Bürger um des Staates willen da seien, nicht der Staat um der Bürger willen, daß dem Ganzen gegenüber kein Einzelner ein Recht habe, darüber war man in Griechenland einverstanden, und in Sparta besonders näherte sich auch die bestehende Sitte in vielen Beziehungen den platonischen Einrichtungen. Es war z. B. gestattet, im Fall des Bedürfnisses fremder Vorräthe, Werkzeuge, Hausthiere und Sklaven, wie der eigenen sich zu bedienen; es war den Bürgern der Besitz von Gold und Silber untersagt, statt der edeln Metalle ward Eisen zu den Münzen verwendet; die männliche Bevölkerung wurde auch im Frieden durch Gemeinsamkeit der Mahlzeiten, der Uebungen, der Erholungen, selbst der Schlafstätten dem Hause fast gänzlich entzogen, sie lebte, wie die platonischen Krieger, in der Weise einer Besatzung; ihre Erziehung war von den Kinderjahren an eine öffentliche, und auch die Mädchen hatten an den Leibesübungen theilzunehmen; die Ehe wurde vom Staat überwacht, ein bejahrterer Mann konnte seiner Frau einen Freund zuführen, ein Kinderloser von einem Andern die seinige leihen; gegen Einschleppung fremder Sitten, gegen Neuerungen aller Art wurden die strengsten Maaßregeln ergriffen, Reisen in’s Ausland untersagt, Dichter und Lehrer, von denen man einen übeln Einfluß fürchtete, des Landes verwiesen, einem Musiker, welcher die herkömmliche Zahl der Saiten an der Lyra vermehrt hatte, die überzähligen abgeschnitten. Man sieht deutlich, jene Einrichtungen und Grundsätze, die uns bei Plato so sehr befremden, waren in Griechenland nicht so unerhört, sie schließen sich an das Bestehende an, sie sind aus dem Boden des hellenischen Staatswesens erwachsen. Wenn aber Plato in dieser Richtung allerdings weiter geht, als irgend ein Früherer, wenn er namentlich in der Weiber- und Gütergemeinschaft alles Ernstes Vorschläge gemacht hat, wie sie vor ihm nur die Laune eines Aristophanes, in anderer Art freilich, als Gipfel alles politischen Unsinns auf die Bühne gebracht hatte, so findet auch dieß in den Verhältnissen der Zeit und in dem Geist der platonischen Philosophie seine Erklärung. Einerseits nämlich hatten lange und schwere Erfahrungen seit dem Anfang des peloponnesischen Krieges gezeigt, mit welchen Gefahren die Wohlfahrt der Staaten durch die Selbstsucht der Einzelnen bedroht sei. Diesen Gefahren wollte Plato vorbeugen, indem er jener Selbstsucht die Wurzel abschnitt: er wollte durch gänzliche Aufhebung des Privatbesitzes den Streit der Privat-Interessen gegen das allgemeine Interesse unmöglich machen. Einigkeit, sagt er, sei für den Staat das erste Bedürfniß; die volle Einigkeit werde aber nur da sein, wo Keiner etwas für sich habe. Er beging also den gleichen politischen Fehler, wie ihn später Hobbes begangen hat, als er den Uebeln der Revolution durch unumschränkten Despotismus begegnen wollte, wie ihn die Staatskünstler der Reaktion heute noch täglich begehen, wenn sie die Uebergriffe des Freiheitsstrebens nicht durch Befriedigung der begründeten und Abschneidung unbegründeter Forderungen, sondern durch Unterdrückung aller Freiheit zu dämpfen versuchen; mit dem wesentlichen Unterschied freilich, daß bei Plato mit der unbeschränkten Herrschermacht die vollendete Tugend und Einsicht, mit den socialistischen Einrichtungen eine Erziehung der Staatsbürger verknüpft sein soll, welche jeden Mißbrauch derselben zu verhindern und die äußerste Beschränkung der persönlichen Freiheit mit ihrem freien Wollen in Einklang zu bringen hätte. Mit den politischen Gründen wirkte aber hiefür Plato’s philosophische Eigenthümlichkeit zusammen, und sie ist es, welche für die Gestaltung seines Staatsideals den Ausschlag gab. Die Härten seiner Vorschläge beruhen in letzter Beziehung auf dem idealistischen Dualismus seiner ganzen Weltanschauung. Wer nichts Höheres kennt, als die Betrachtung der allgemeinen Begriffe, nichts wahrhaft Wirkliches, als die außer den Einzelwesen für sich bestehenden Gattungen, wer in der Sinnenwelt nur die entstellende Erscheinung der übersinnlichen, in der Individualität nur eine Beschränkung und Trübung, nicht die unerläßliche Bedingung für die Verwirklichung des Allgemeinen sieht, der kann folgerichtig auch für’s Praktische keine freie Entwicklung der Individuen zugeben; sondern er wird verlangen müssen, daß der Einzelne allen persönlichen Wünschen entsage und in selbstloser Hingebung sich zum reinen Werkzeug der allgemeinen Gesetze, zur Darstellung eines allgemeinen Begriffs läutere. Ein solcher wird daher auch im Staate nicht darauf ausgehen können, die Rechte der Einzelnen mit denen der Gesammtheit versöhnend zu vermitteln, jene werden vielmehr in seinen Augen, dieser gegenüber, gar kein Recht haben, es wird ihnen nur die Wahl übrig bleiben, entweder auf alle Privatinteressen zu verzichten und sich, also befähigt, in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen, oder sofern sie dieß nicht wollen, den politischen Rechten und der politischen Wirksamkeit zu entsagen. So hängen hier die politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen an den ersten Anfängen des Systems. Die Bedeutung der Individualität, die unendliche Mannigfaltigkeit und Bewegung des wirklichen Lebens verkannt zu haben, dieß ist der schon von Aristoteles scharf bezeichnete Grundfehler der platonischen Metaphysik und des platonischen Socialismus.
Doch hierüber ist auch schon anderswo und von Anderen gesprochen worden, und nach dieser Seite hin scheint sich über den platonischen Staat unter den Sachverständigen mehr und mehr eine allgemeine Uebereinstimmung zu bilden. Geringere Beachtung hat bis jetzt das Verhältniß gefunden, in welchem derselbe zu den Theorien und den Zuständen der Folgezeit steht. Dieser Gegenstand soll daher hier in genauerer Ausführung der kurzen Andeutungen, welche ich an einem andern Orte hierüber gegeben habe, besprochen werden.
Was in dieser Beziehung unsere Aufmerksamkeit zunächst auf sich zieht, das sind die merkwürdigen Berührungspunkte zwischen dem platonischen Staatsideal und dem, was sich später in der altchristlichen Welt aus kirchlichem und staatlichem Gebiete gestaltet hat. Gleich der Grundgedanke der platonischen Staatslehre hat mit der Idee der christlichen Kirche auffallende Aehnlichkeit. Der Staat ist nach Plato seiner eigentlichen Bestimmung zufolge nichts anderes, als eine Darstellung und ein Hilfsmittel der Sittlichkeit; seine höchste Aufgabe besteht darin, seine Bürger zur Tugend und ebendamit zur Glückseligkeit zu erziehen; ihren Sinn und ihr Auge einer höheren, geistigen Welt zuzuwenden, ihnen jene Seligkeit nach dem Tode zu sichern, welche sich am Schlusse der Republik in großartigem Ausblick als der Gipfel alles menschlichen Strebens darstellt. Es liegt am Tage, wie nahe dieser Staat dem „Reich Gottes“ verwandt ist, dessen irdische Erscheinung die christliche Kirche sein will. Die theoretischen Voraussetzungen und die Gestalt beider sind verschieden, aber ihr Grundgedanke ist derselbe: in beiden handelt es sich um ein sittliches Gemeinwesen, eine Erziehungsanstalt, deren letztes Ziel in einer jenseitigen Welt liegt. Sagt doch Plato auch geradezu, es sei keine Rettung für die Staaten, wenn nicht die Gottheit in ihnen die Herrschaft führe. Wenn ferner diese Herrschaft bei Plato durch die Philosophen ausgeübt werden soll, weil sie allein im Besitz der höheren Wahrheit sind, so nehmen in der mittelalterlichen Kirche die Priester die gleiche Stellung ein; und wie jenen die Krieger als vollziehende Macht zur Seite treten, so ist nach mittelalterlichen Begriffen eben dieses die höchste Aufgabe des geistlichen Kriegerstandes, der Ritter und Fürsten, die Kirche auszubreiten und zu schützen, die Vorschriften, welche sie durch den Mund der Priester ertheilt, auszuführen. Die drei mittelalterlichen Stände, der Lehrstand, Wehrstand und Nährstand, sind im platonischen Staat vorgebildet, und die Herrschaft des ersteren, welche sich in der Wirklichkeit allerdings nur theilweise durchsetzen ließ, ist wenigstens von ihm selbst nicht minder entschieden und aus den gleichen Gründen verlangt worden, wie von Plato die der Philosophen: weil sie allein die ewigen Gesetze kennen, nach denen die Staaten, wie die Einzelnen, sich richten müssen, um ihrer höheren Bestimmung zu entsprechen. Auch die Bedingungen endlich, an welche diese hohe Stellung des Lehrstandes geknüpft ist, sind in der mittelalterlichen Kirche großentheils dieselben, wie bei unserem Philosophen, nur aus dem Griechischen in’s Christliche übersetzt; denn jene Gemeinsamkeit alles Besitzes, welche Plato den Staaten als höchstes Gut wünscht, ist auch christliches Ideal, und wenn hiebei in der christlichen Kirche der Begriff der Entsagung, der freiwilligen Armuth, im platonischen Staat der der Gütergemeinschaft stärker hervortritt, so hebt sich doch auch dieser Unterschied wieder großentheils auf: auch Plato verlangt ja von seinen Philosophen und Kriegern, daß sie sich aus die einfachste Lebensweise zurückziehen, und auch die christliche Kirche hat die geistliche Armuth selbst in den Bettelorden nur unter der Form des gemeinschaftlichen Besitzes zu verwirklichen vermocht. Selbst die platonische Weibergemeinschaft steht aber dem Cölibat ihrem Wesen nach weit näher, als man zunächst glauben möchte. Denn für’s Erste sind die politischen Gründe beider Einrichtungen die gleichen: wie Plato seinen „Wächtern“ die Gründung einer Familie untersagt, damit sie ganz und ausschließlich dem Staat gehören, so zwang Gregor der widerstrebenden Geistlichkeit den Cölibat auf, damit sie fortan ungetheilt der Kirche gehören sollte. Sodann handelt es sich ja aber auch bei Plato’s Weibergemeinschaft keineswegs darum, der persönlichen Neigung, oder gar der sinnlichen Begierde einen freieren Spielraum zu geben, sie von den Fesseln der Ehe zu entlasten; sondern es sollen umgekehrt die persönlichen Wünsche beseitigt, es sollen die Bürger in ihren geschlechtlichen Funktionen, wie in Allem, zu Organen des Staats gemacht werden, die Ehe soll nicht Sache der Neigung oder des Interesse’s, sondern nur der Pflicht sein: es sind Kinder zu erzeugen, wenn der Staat deren bedarf, und sie sind mit denen zu erzeugen, welche der Staat zur Erzielung eines kräftigen Nachwuchses den Einzelnen zuweist. Plato verlangt demnach von seinen Bürgern eine Selbstverläugnung, eine Unterordnung unter das gemeinsame Interesse, von welcher bis zur gänzlichen Enthaltsamkeit nur ein Schritt war; er würde kein Bedenken getragen haben, auch diese zu fordern, wenn sein Staat die Ehe entbehren könnte und wenn die Ascese der spätern Jahrhunderte schon seine Sache gewesen wäre.
- Arbeit zitieren
- Eduard Zeller (Autor:in), 2008, Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116851