Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Auseinandersetzung von frühkindlichen Regulationsstörungen und verschiedensten Möglichkeiten der Intervention, welche mit Hilfe von Expertenmeinungen kritisch hinterfragt werden. Dabei werden zu Beginn der Arbeit grundlegende Zahlen und Fakten geklärt, auf die Symptomatik der einzelnen Störungsbilder und den Diagnoseprozess eingegangen. Anschließend daran folgt die Darstellung präventiver Hilfsmöglichkeiten sowie unterschiedlichster Interventionsansätze für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern. Mittels eines Experteninterviews wird sich schließlich am Ende der Arbeit kritisch mit den dargestellten Interventionsmöglichkeiten auseinandergesetzt, sodass Empfehlungen für die Praxis der Sozialen Arbeit abgeleitet werden können.
Inhaltsverzeichnis
2.1.3 Fütter- und Essstörungen
2.2.1 Risikofaktoren seitens des Kindes
2.2.2 Risikofaktoren seitens der Eltern
2.2.3 Umgebungsbedingte Risikofaktoren
3.2.1 Entwicklungspsychologische Beratung (EPB)
3.2.2 Ressourcen- und kommunikationsorientierte Eltern-Säuglings-/Kleinkind- Beratung
3.2.3 Videogestützte Kommunikationsanleitung und Videofeedback
3.3.1 Säuglings/-Kleinkind- Eltern- Psychotherapie (SKEPT)
3.4.1 Relevanz von Präventionsarbeit
4. Forschungsdesign
4.1 Qualitative Forschung
4.2 Das Experteninterview
4.3 Vorgehensweise
4.3.1 Auswahl der Interviewpartner
4.3.2 Der Interviewleitfaden
4.4 Auswertung
4.4.1 Qualitative Inhaltsanalyse
4.4.2 Transkription
4.4.3 Kodierung und Kategorienbildung
4.4.4 Inhaltliche Zusammenfassung
5. Ergebnisdiskussion
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang A: Interviewleitfaden
Anhang B: Einverständniserklärung Blanko
Anhang C: Transkript
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Diagnostisches Trias
Abbildung 2: Schrei-/Schlaf-/Füttertagebuch
Abbildung 3: Inanspruchnahme Angebote
Vorwort
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Auseinandersetzung von frühkindlichen Regulationsstörungen und verschiedensten Möglichkeiten der Intervention, welche mit Hilfe von Expertenmeinungen kritisch hinterfragt werden.
Anreize für das Thema bekam ich im Rahmen meines Praxissemesters der Sozialen Arbeit. Dieses verbrachte ich in einer Koordinierenden Kinderschutzstelle für Frühe Hilfen.
Zielgruppe der Koordinierungsstelle sind Eltern mit Kindern im Alter von 0-3 Jahren, welche Belastungssituationen auf Grund von (oft) gesundheitlichen Problemen ihrer Kinder erleben. In meinem Praktikum lernte ich somit erstmals auch Kleinkinder und Säuglinge mit Regulationsstörungen kennen.
Bei Erstklärungsgesprächen mit betroffenen Eltern wurde schnell klar, dass jene Regulationsstörungen eine hohe Belastungssituation für die Familien darstellen und eine fachliche Betreuung durchaus sinnvoll erscheint. Jedoch musste ich in einigen Hilfeverläufen auch feststellen, dass sich durch fachliche Unterstützung der Sozialpädagoginnen zwar die Belastungssituation der Eltern stabilisieren ließ, die eigentliche Regulationsstörung des Kindes aber trotzdem nicht behoben werden konnte.
Aus diesem Grund stellte sich mir die Frage, ob vorhandene Hilfsangebote in Deutschland für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern überhaupt ausreichend und präsent genug sind, um frühkindlichen Regulationsstörungen frühzeitig und nachhaltig beheben zu können, was letztendlich der ausschlaggebende Punkt für die Wahl meines Themas war.
Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle meinen ehemaligen Praxisanleiterinnen aussprechen, welche mir nicht nur wertvolles Fachwissen über frühkindliche Störungen mitgaben, sondern mich auch, durch ihre Teilnahme an meinem Experteninterview, in der Bachelorarbeit unterstützten.
Weiterhin bedanken möchte ich mich bei der dritten Teilnehmerin meines Experteninterviews, welche ebenfalls wertvolle Erkenntnisse aus Sicht einer Familiengesundheitskinderkrankenpflegerin und Pflegemutter mit einbrachte.
1. Einleitung
Regulationsstörungen in der frühen Kindheit sind schon lange keine Ausnahme mehr und betreffen mit einem Prozentsatz von 15-25% mittlerweile jedes vierte bis fünfte Kind (Thiel-Bonney, 2009, S. 580; vgl. Papousek, 2004, S. 79).
Auch in der Öffentlichkeit wird das Thema immer präsenter, was Sonderartikel in verschiedenen Regionalzeitungen bestätigen. Berichtet wird unter anderem von einem steigendem Beratungsbedarf betroffener Eltern mit regulationsauffälligen Kindern (vgl. Bodenröder, 2020, S. 15) oder Ohnmachtsgefühlen und Wut vieler Eltern mit sogenannten „Schreibabys“ (vgl. Marr, 2021, S. 11).
Denn gerade das exzessive Schreien des Säuglings, als Ausdruck einer Regulationsstörung, wird meist als besonders belastend von den Eltern empfunden und führt nicht selten zu einem elterlichen Überlastungssyndrom. Vor allem Eltern, die selbst mit biologischen Vorbelastungen zu kämpfen haben und zusätzlich kein stabilisierendes Umfeld an Freunden und Familie besitzen, fällt es oft schwer, wieder aus der Belastungssituation herauszukommen. Jene Eltern sind erschöpft, müde und kämpfen tagtäglich mit Selbstvorwürfen oder depressiven Stimmungslagen. (vgl. Thiel-Bonney, 2009, S. 582).
In diesem Zusammenhang steigt auch die Gefahr von Misshandlungen oder Schütteltraumata der Kindern, da Eltern oft so verzweifelt und voller Frustration sind, dass sie mit Gewalt auf das Verhalten ihres Kindes reagieren (vgl. Marr, 2021, S. 11).
Das Deutsche Ärzteblatt berichtet unter anderem von Kampagnen des Deutschen Kindervereins, in welchen mit Hilfe von Plakaten auf die Gefahren von Schütteltraumata bei Säuglingen und die dazugehörigen Hilfsangebote aufmerksam gemacht werden soll (vgl. Maybaum, 2017, S. 1605).
Aktionen wie diese verdeutlichen vor allem einen anerkannten Handlungsbedarf seitens der Politik, der Forschung, des Gesundheitssystems und der Sozialen Arbeit. Sie zeigen, dass Regulationsstörungen bei Kleinkindern durchaus im Fokus der Öffentlichkeit angekommen sind und renommierte Hilfsangebote immer wichtiger werden.
Doch woher bekommen Betroffene und ihre Kinder Unterstützungsangebote und sind diese ausreichend und präsent genug, um die Regulationsstörung des Kindes frühzeitig auffangen sowie nachhaltig beheben zu können? Fraglich ist auch, inwiefern speziell die Soziale Arbeit zur Verbesserung des Problems beitragen kann.
Diese Forschungsfragen sollen in der vorliegenden Bachelorarbeit mittels literarisch fundierter Auseinandersetzungen und einem Experteninterview geklärt werden.
Ziel ist es, die Komplexität von frühkindlichen Regulationsstörungen darzustellen und in einen Zusammenhang mit wirksamen Interventionsmethoden zu bringen.
Außerdem soll herausgefunden werden, ob gegebenenfalls Defizite und Ausbaupotenziale bei den vorhandenen Hilfsangeboten vorliegen, sodass schlussendlich auch Empfehlungen für die Soziale Arbeit abgeleitet werden können.
Um vorerst einen Überblick über Regulationsstörungen zu erhalten, werden zu Beginn der Arbeit grundlegende Begriffe sowie Zahlen und Fakten dargestellt. Im Anschluss daran werden die drei am häufigsten auftretenden Störungsbilder differenziert voneinander betrachtet und jeweilige Symptome beschrieben.
Das nächste Unterkapitel beschäftigt sich mit den möglichen Ursachen für die Entstehung einer Regulationsstörung. Dabei wird systematisch zwischen Risikofaktoren seitens des Kindes, der Eltern und der Umgebung unterschieden.
Anschließend daran wird der diagnostische Prozess einer Regulationsstörung verdeutlicht. Hierbei werden Schwierigkeiten des Erhebungsverfahrens beleuchtet, Empfehlungen von Leitlinien vorgestellt und der Diagnosevorgang in verkürzter Weise erklärt. In diesem Kontext wird zusätzlich auf Diagnosesysteme und hilfreiche Erhebungsmaterialien eingegangen.
Nachdem ein umfangreicher Einblick in das Themengebiet der Regulationsstörungen gegeben wurde, geht es im dritten Kapitel um die Darstellung möglicher Interventionsmethoden. Unterschieden wird hierbei zwischen Beratungsansätzen und Therapiemöglichkeiten, welche zu Beginn allgemein erklärt werden. Auf Grund des zeitlichen Rahmens dieser Arbeit, kann nicht auf jede Intervention in vollem Umfang eingegangen werden, weshalb der Fokus vor allem auf den Ablauf, der Wirksamkeit und den Voraussetzungen gelegt wird. Anschließend daran wird im nächsten Unterkapitel die Relevanz von Präventionsarbeit deutlich gemacht und hilfreiche Maßnahmen kurz vorgestellt.
Neben den bislang ausgeführten Interventionsmöglichkeiten wird sich schließlich nochmals intensiver mit einer Hilfemöglichkeit der Sozialen Arbeit, den Frühen Hilfen, auseinandergesetzt. Hierdurch soll unter anderem eine thematische Überleitung zum vierten Kapitel geschaffen werden, welches sich mit dem durchgeführten Experteninterview beschäftigt.
Zu Beginn dieses Kapitels werden zunächst allgemeine Begriffe aus der qualitativen Sozialforschung erläutert und zugleich das Forschungsdesign sowie die Vorgehensweise vorgestellt. Ziel des Interviews ist es, durch die Expertenmeinungen zweier Sozialpädagoginnen und einer Familienkinderkrankenschwester, am Ende der Arbeit bestehende Unterstützungssysteme professionell diskutieren zu können.
Durch diese Bachelorarbeit soll demzufolge nicht nur die Präsenz des Themas und das Interesse daran erhöht werden, sondern zudem eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Hilfsangeboten geschehen.
2. Regulationsstörungen
In seiner frühesten Kindheit ist der Mensch mit einer hohen Anzahl an unterschiedlichsten Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die in kürzester Zeit gelöst werden müssen. Vor allem in den ersten Lebensjahren entwickelt sich ein Kind extrem schnell, was ein erhöhtes Pensum an neuen Aufgaben bereitstellt. (vgl. Cierpka, 2012, S. 160).
Auch die Selbstregulation lässt sich als zentrale Entwicklungsaufgabe eines jeden Kindes benennen. Sie entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist wichtig für die Regulation von bestimmten Körperfunktionen. Der Säugling muss demnach lernen, sich an seine extrauterine Umwelt anzupassen, was Angleichungsprozesse von Körperfunktionen, Emotionen und Handlungsimpulsen zur Folge hat. Untersuchungen bestätigten, dass Kinder mit einer guten Selbstregulation im späteren Leben Anforderungen besser meistern, einfacher soziale Beziehungen aufbauen und sich selbstbewusster mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können. (vgl. Smith-Donald et al., 2007, S. 174).
Allgemeingesprochen meint Regulationsfähigkeit also das Anpassen des Säuglings/Kindes an bestimmte Abläufe, Reize oder Körperfunktionen (vgl. Cierpka, 2012, S. 160).
Es geht darum, „das eigene Verhalten entsprechend den kognitiven, emotionalen und sozialen Anforderungen“ (Posner und Rothbart, 2020, zitiert nach Cierpka, 2012, S. 160) in einer konkreten Situation zu steuern.
Babys besitzen somit schon von Geburt an selbstregulatorische Fähigkeiten, welche immer wieder durch die Eltern unterstützt werden müssen. Der Säugling benötigt nämlich besonders in den ersten Lebensmonaten Unterstützung durch Bezugspersonen, um bei regulatorischen Spannungszuständen wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Frust etc. wieder in einen ausgeglichenen Zustand zurückzufinden. (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 44).
Demzufolge kann eine Störung der Regulationsfähigkeit auch als Ausdruck mangelnder selbstregulatorischer Fähigkeiten des Kindes verstanden werden (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 44).
Vermehrt treten solch frühkindliche Störungen in alterstypischen Reifungs-Anpassungs-und-Regulationsprozessen auf, welche in engem Zusammenhang mit typischen Entwicklungsaufgaben stehen. Jene Entwicklungsaufgaben müssen von den Eltern intuitiv unterstützt werden, wobei vorübergehende „Regulationskrisen“ (vermehrte Schreiattacken, Fütterungs- oder Schlafprobleme) durchaus normal sind. Um eine tatsächliche Regulationsstörung handelt es sich erst dann, wenn jene „Regulationskrisen“ über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen. (vgl. Papousek, 2005, S. 1f.).
In diesem Sinne können Regulationsstörungen laut Papousek auch nicht als alleinige Störung des Säuglings betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel von drei Faktoren, nämlich der Verhaltensauffälligkeit des Kindes, einem elterlichen Überlastungssyndrom und der daraus resultierenden dysfunktionalen Eltern-Kind-Interaktion, was auch als diagnostisches Trias der Regulationsstörungen bezeichnet wird. Dabei begünstigen geringe elterliche sowie familiäre Ressourcen und multiple Belastungen in der aktuellen Lebenssituation nochmal zusätzlich das Auftreten einer Regulationsstörung. (vgl. Papousek & Wollwerth De Chuquisengo, 2006, S. 239).
Zur besseren Veranschaulichung des diagnostischen Trias findet sich nachfolgend ein Schaubild mit bereits genannten Begriffen:
Abbildung 1: Diagnostisches Trias
Quelle: Papousek & Wollwerth De Chuquisengo, 2006, S. 239
Letztendlich können sich verfestigte Regulationsstörungen in verschiedenen Formen ausdrücken. Hierzu gehört u.a. das exzessive Schreien, Schlafstörungen, Fütterstörungen, Trennungsängste, exzessives Anklammern oder oppositionelles Verhalten. (vgl. Rank, 2019, S. 59). Oft kommen diese Formen jedoch nicht getrennt voneinander vor, sondern als Komorbidität (Bolten et al., 2013, S. 36).
Dabei gehören das exzessive Schreien, Fütterungs- und Schlafstörungen zu den am häufigsten auftretenden Problemen, die Eltern in Beratungssituationen schildern (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 40), weshalb sich in den folgenden Kapiteln differenziert mit jeder Form einzeln auseinandergesetzt wird.
2.1 Differenzierung
2.1.1 Exzessives Schreien
Schreien ist die wichtigste Kommunikationsform von Säuglingen. Mit Hilfe des Schreiens vermittelt der Säugling Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Müdigkeit oder Unbehagen und schafft es zusätzlich, eine starke Motivation seitens der Eltern auszulösen, etwas dagegen zu unternehmen. Somit ist es normal, dass Babys vor allem in den ersten drei Monaten im Durchschnitt bis zu 1,5-2 Stunden täglich scheinbar grundlos schreien. (Bolten, Möhler & von Gontard, 2013, S. 1f.).
Dieses vermehrte Schreien, welches in Alltagssprache auch als „Drei-Monats-Koliken“ bekannt ist, bessert sich in einem gewöhnlichem Entwicklungsverlauf typischerweise bis zum Ende des dritten Lebensmonats (Möhler, 2013, S. 139f.). Wichtige Aufgabe der Eltern ist hierbei, den Grund des Quengelns zu identifizieren und auf Signale des Kindes angemessen zu reagieren (vgl. Lohaus, Vierhaus & Maass, 2010, S. 6).
Jene altersbedingte Schreiproblematik muss nun vom persistierenden exzessiven Schreien abgegrenzt werden.
Das Exzessive Schreien ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass es oft über den vierten bzw. sechsten Lebensmonat hinaus anhält und zudem mit einer tieferliegenden, erhöhten Reaktivität auf Umweltreize und erschwerter Emotionsregulation einhergeht (vgl. Bolten, In-Albon, Christiansen & Schwenck, 2021, S. 13).
Zusätzlich kann die „3er-Regel“ von Wesel et al. (1954) dazu dienen, herauszufinden, ob das Schreien eines Säuglings exzessiv ist. Diese beinhaltet folgende Anhaltspunkte:
„eine durchschnittliche Schrei-/Unruhedauer von mehr als 3 Std. pro Tag an durchschnittlich mindestens 3 Tagen der Woche über mindestens 3 Wochen“
(Möhler, 2013, S. 140).
Neben der „3er-Regel“ wird das exzessive Schreien auch dadurch definiert, dass es anfallartig und ohne erkennbaren Grund auftritt, meist gegen späten Nachmittag oder in den frühen Abendstunden. Als Folgen stellen sich oft eine Übermüdung und Überreizung des Säuglings ein, was wiederum zu verminderter Schlafphasen sowie Ein- und Durschlafproblemen führt. (vgl. Cierpka, 2012, S. 173). Exzessiv schreiende Babys reagieren zudem kaum auf Beruhigungsversuche von Bezugspersonen und sind „filterschwach“ auf den meisten Sinneskanälen, wodurch sie sehr empfindlich gegenüber Geräuschen, Gerüchen, Berührungen oder Umlagerungsversuchen sind (vgl. Bolten et al., 2021, S. 14).
Daten der Münchner Schreibabyambulanz zeigten außerdem einen signifikanten Zusammenhang von exzessivem Schreien und Störungen der Schlaf-Wach-Regulation des Kindes. Demnach wiesen 96,3% der vorgestellten Kinder in der Spezialambulanz neben dem Symptom des exzessiven Schreiens in den ersten drei Lebensmonaten auch ein gestörtes Schlafverhalten auf. Beide Störungen ergeben somit das Syndrom des Exzessiven Schreiens. (Wurmser & Papousek, 2004, S. 60).
Durch die oft gleichzeitig auftretenden Schwierigkeiten bei der Schlaf-Wach-Regulation des Kindes, kommt es nicht selten zusätzlich zu chronischen Erschöpfungszuständen der Bezugspersonen (vgl. Bolten et al., 2021, S. 14).
Daraus resultieren kann wiederum ein elterliches Überlastungssyndrom, welches sich durch tiefgreifende Erschöpfung, Schlafdefizite, depressive Stimmungslagen und hoher Verunsicherung bemerkbar macht. Eine solche Überforderungssituation kann ohne familiäre und/oder professionelle Unterstützung schließlich in eine persistierte Regulationsstörung des Säuglings münden, da Eltern kaum noch positive Interaktionen mit ihrem Kind erleben und somit ein Teufelskreis aus der Symptomatik des Kindes und ungünstigen Eltern-Kind-Interaktionen entsteht. (vgl. Cierpka, 2015, S. 33).
Trotz alledem wird das exzessive Schreien weder im Klassifikationssystem ICD-10 noch im DSM-5 als Störung definiert. Lediglich die neueste Ausgabe des Zero-to-Three (DC: 0-5) wagt sich erstmals an eine Definition des Symptoms auf Achse I (Schreistörungen der frühen Kindheit), welche an die „3-er Regel“ angelehnt ist (vgl. von Gontard, 2018, S. 196, 284f.). Die Vorgängerversion DC: 0-3R beschrieb das exzessive Schreien dahingehend noch ausschließlich als belastendes Symptom, welches nicht die Kriterien einer Störung erfüllt (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2015, S. 75).
2.1.2 Schlafstörungen
Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist ein zirkadianer Prozess, der dafür sorgt, dass ein Mensch nachts schläft und tagsüber wach ist (vgl. Jenni, 2011, S. 38). Die Regulierung dieses Schlaf-Wach-Rhythmus stellt wiederum eine entscheidende Entwicklungsaufgabe für Säuglinge dar, bei welcher es zu Anpassungsproblemen kommen kann.
In den ersten zwei Lebensmonaten schläft ein Säugling demnach nur 40 bis 60 Minuten am Stück, wobei unruhige und ruhige Schlafphasen in gleichen Anteilen vertreten sind. Im Laufe der Entwicklung ändert sich das Schlafverhalten dann in dem Sinne, dass der Tiefschlaf länger und unruhige Schlafphasen seltener werden. Wie lange Säuglinge letztendlich schlafen müssen, ist sehr individuell. Der Durchschnitt liegt hier bei 14 bis 16 Stunden am Tag, wobei große Schwankungen bei jedem Kind zu verzeichnen sind. Auch ist es normal, dass Säuglinge in der Nacht drei bis siebenmal wach werden und Durchschlafen äußerst selten vorkommt. (Hédervári-Heller, 2011, S. 89).
Aus diesem Grund sollte von pathologischem Schlafverhalten auch erst nach dem sechsten Lebensmonat gesprochen werden, da sich bis dahin noch der zirkadiane Rhythmus des Säuglings formt (vgl. Schmid, Schreier, Meyer & Wolke, 2011, S. 498).
Als zusätzliches Kriterium für eine pathologische Schlafstörung sollte in allen Fällen auch die empfundene Belastung der Eltern herangezogen werden (vgl. Bolten et. al., 2021, S. 16).
Zusätzlich kann nochmal zwischen Einschlafstörung und Durchschlafstörung unterschieden werden. Meistens treten die beiden Störungsbilder jedoch gemeinsam auf, da die Unfähigkeit allein einschlafen zu können, beim nächtlichen Aufwachen erneut ein Problem darstellt. (vgl. Möhler, 2013, S. 149f.).
Auch das Klassifikationssystem Zero-to-Three (DC: 0-3 R) unterscheidet auf Achse I Schlafstörungen (500.) in Einschlafstörungen (510.) und Durchschlafstörungen (520.) (vgl. von Gontard, 2018, S. 258f.) und behandelt diese deshalb als eigenständige Störungsbilder (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2015, S. 75).
Hauptmerkmal der regulationsbedingten Schlafstörung ist jedoch nicht per se der gestörte Schlaf des Kindes, sondern vielmehr die Unfähigkeit, ohne Hilfe der Eltern einzuschlafen oder bei nächtlichem Erwachen wieder zurück in den Schlaf zu finden. Tagsüber sind diese Kinder häufig erschöpft, unzufrieden und quengeln vermehrt. (vgl. Cierpka, 2012, S. 200f.). Ein normal entwickelter Säugling von ca. vier Monaten schafft es dahingehend durch erlernte Regulationshilfen wie z.B. Saugen an den Fingern, selbstständig (wieder) einzuschlafen (vgl. ebd., 2012, S. 202.).
Als Regulationsstörung werden Ein- und Durschlafprobleme dann betrachtet, „wenn das Kind älter als sechs Monate ist, an fünf Nächten in der Woche mehrmals in der Nacht, sogar stündlich aufwacht und ohne fremde Hilfe nicht weiterschlafen kann“ (Hédervári-Heller, 2011, S. 90). Weiterhin können Anhaltspunkte für eine regulationsbedingte Schlafstörung vorliegen, wenn das Einschlafritual länger als 20 Minuten dauert oder der Säugling bis zum sechsten Lebensmonat noch keinen Tag-Nacht-Rhythmus entwickelt hat (vgl. ebd., 2011, S. 90).
2.1.3 Fütter- und Essstörungen
Essen ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen und sichert somit sein Überleben. Schon Neugeborene schaffen es, Hunger und Sättigung zu signalisieren und die Menge der Nahrung sowie Flüssigkeit selbst zu regulieren. (vgl. Papousek, 2002, S. 95).
Trotzdem gestaltet sich die Nahrungsaufnahme eines Säuglings für Eltern oft schwierig, da Hunger- und Sättigungsgefühle von Kind zu Kind in den ersten Lebenstagen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Einige Säuglinge machen durch vermehrtes Schreien unmissverständlich klar, dass sie gefüttert werden möchten, andere melden sich kaum und sind schnell gesättigt. (vgl. Largo, 2013, S. 447f.).
Hier ist es wieder Aufgabe der Eltern, die individuellen Signale ihres Babys zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Mit zunehmender Altersspanne erwarten den Säugling dann noch weitere Entwicklungsaufgaben im Kontext der Nahrungsaufnahme, wobei es erneut zu Anpassungsproblemen kommen kann. (vgl. Cierpka, 2012, S. 220).
Zwischen dem vierten und achten Lebensmonat besteht die Herausforderung darin, sich an neue Geschmäcker, breiige und feste Nahrung sowie an andere Konsistenzen zu gewöhnen. Danach folgt schließlich das Erlernen von selbstständigem Essen mit Besteck. Bei all diesen Entwicklungsaufgaben unterstützen die Eltern ihr Kind regulatorisch, was bedeutet, dass sie für das Nahrungsangebot, das Gestalten einer reizarmen und zeitlich passenden Umgebung sowie altersgerechte Fütterungspositionen verantwortlich sind. Denn nur durch ein positives Zusammenspiel von kindlichen und elterlichen Faktoren, deren interaktionellen Beziehung sowie des ernährungsbezogenen Prozesses, kommt es zu einer guten Entwicklung der kindlichen Essenskompetenzen. (vgl. ebd., 2012, S. 220).
Schließlich können Fütter- und Essstörungen sowohl im Neugeborenen – Säuglings – oder Kleinkindalter auftreten und sich für Monate, wenn nicht sogar Jahre manifestieren. Auch hier muss man wieder von vorübergehenden, entwicklungsbedingten Ernährungsproblemen unterscheiden, die alterstypisch und besonders in Übergangsphasen (z.B. Umstellung von Milchnahrung auf Breinahrung) auftreten. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 96).
Von Fütter- und Essstörungen sollte daher erst gesprochen werden, wenn Eltern oder Expert*innen die Essenssituationen des Säuglings für mehr als vier Wochen lang als problematisch beurteilen. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 96; Hofacker, Papousek & Wurmser, 2004, S. 176).
Nicht in jedem Fall gehen diese Art von Störungen auch mit Gedeihstörungen einher und können sowohl organische wie auch nicht organische Ursachen haben. vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 96).
Weiterhin sind die Kriterien einer Fütterstörung vom Alter des Kindes abhängig. Somit können Anzeichen in den ersten Lebensmonaten beispielsweise tägliches Erbrechen, Ablehnen der Flaschennahrung, Schwierigkeiten beim Trinken oder Füttervorgänge von mehr als 45 Minuten sein. Nach dem sechsten Lebensmonat gehört das Ablehnen fester Nahrung, Appetitlosigkeit oder Kau- und Schluckproblemen zu den Kriterien (vgl. ebd., 2011, S. 96f.).
Gemäß des Klassifikationssystems Zero-to-Three (DC: 0-3R) liegt eine Regulationsfütterstörung (Achse I, 601.) dann vor, wenn das Kind Schwierigkeiten hat, während der Fütterung in einen ausgeglichenen Zustand zu finden, der Beginn in der Neugeborenen Periode liegt und eine mangelnde Gewichtszunahme- oder Verlust zu verzeichnen ist (vgl. von Gontard, 2018, S. 166, 259).
Zudem können regulationsbedingte Fütter- und Essstörungen häufig zu späteren Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimia im Jugend- und Erwachsenenalter führen, weshalb eine frühzeitige Erkennung der Störung und anschließende Begleitung durch Fachkräfte durchaus ratsam ist (vgl. Bolten et al., 2013, S. 25).
2.2 Ursachenforschung
Frühkindliche Regulationsstörungen haben weder rein medizinische noch rein psychosoziale Ursachen und sind daher multifaktoriell bedingt (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 79).
Das Entstehen der jeweiligen Symptome kann laut Resch (2004) auf drei Wegen geschehen, die oft auch voneinander abhängig sind.
Einerseits können angeborene Störungen bzw. biologische Risikofaktoren beim Kind Grund sein, andererseits spielen auch ungünstige psychosoziale Faktoren seitens der Eltern eine Rolle. Die wohl am häufigsten vorkommende Ursache für Regulationsstörungen sind allerdings umgebungsbedingten Risikofaktoren, womit vor allem eine Störung der Eltern-Kind-Interaktion gemeint ist. (vgl. Resch, 2004, S. 43).
Demnach sind Regulationsstörungen ein Ausdruck von sich ständig wiederholenden Interaktionskreisen, in denen die extremen Verhaltensausprägungen des Kindes, Fehldeutungen beim Entschlüsseln kindlicher Signale und mangelnde Unterstützung der Eltern aufeinandertreffen (vgl. Ziegler et al., 2016, S. 40).
2.2.1 Risikofaktoren seitens des Kindes
Wie schon erwähnt, können biologische oder angeborene Störungen des Kindes eine Regulationsstörung beeinflussen. Gerade bei Säuglingen, die exzessiv schreien oder Fütterungsprobleme haben, sollten daher mögliche gastroenterologische Erkrankungen (Laktoseintoleranz, Kuhmilchallergie, Neurodermitis, hirnorganische Schädigungen oder Gastroösophagealer Reflux) ausgeschlossen werden, die wiederum Risikofaktoren für das Entstehen einer Regulationsstörung sein können (vgl. Ziegler, Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S.120ff.; Cierpka, 2012, S. 205).
Das Symptom des persistierenden exzessiven Schreiens kann zudem eine Entwicklungsverzögerung in der Verhaltensregulation und Selbstberuhigungsfähigkeit darstellen, was als weiterer Risikofaktor zu verzeichnen ist. Zusätzlich kann ein „schwieriges Temperament“ des Säuglings oder Kleinkindes als Entstehungsursache definiert werden. (vgl. Ziegler et al., 2016, S. 43ff.).
Hiervon wird gesprochen, wenn eine geringe Rhythmizität biologischer Funktionen wie Essen und Schlafen vorliegt, Rückzugsreaktionen in neuen Situationen zu erkennen sind oder eine geringe Anpassungsfähigkeit sowie negative Stimmungslage vorherrscht (vgl. Paulus, Backes, Sander, Weber, von Gontard, 2014, S. 151).
2.2.2 Risikofaktoren seitens der Eltern
Eltern stehen mit ihrem Kind in ständiger Wechselbeziehung und passen sich fortlaufend aneinander an, weshalb das Verstehen kindlicher Signale und folglich richtiges Reagieren darauf, eine entscheidende Aufgabe für sie darstellt. Ein Mangel an intuitiven Verhaltensweisen der Eltern, gekoppelt mit verminderter Selbstregulationsfähigkeit des Kindes, kann dann zu einer fehlerhaften Übereinstimmung der Eltern-Kind-Interaktion und somit zu einer Regulationsstörung führen. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 79).
Risikofaktoren für einen Mangel an intuitiven Verhaltensweisen können sowohl psychosozialen als auch organischen Ursprungs sein. Psychosoziale Risiken resultieren u.a. aus der Vergangenheit der Eltern (Umgang in Herkunftsfamilie, belastende Kindheit, Gewalterfahrung etc.), aber auch aus gegenwärtigen Situationen wie einer Wochenbettdepression, Partnerschaftskonflikten, Unsicherheiten in der Erziehungssituation, sozialer Isolation oder neurotischen Persönlichkeitsstrukturen (vgl. Ziegler et al., 2004, S. 133f.; Hédervári-Heller, 2011, S. 80f.).
Weiterhin konnte in früheren Studien gezeigt werden, dass pränatale psychosoziale Faktoren wie ein als negativ bewerteter Schwangerschaftsverlauf, Stresserlebnisse und andere psychische Probleme der Mutter ausschlaggebend speziell für das Symptom des exzessiven Schreiens sind (Rautava, Helenius & Lehtonen, 1993 zitiert nach Wurmser & Papousek, 2004, S. 64).
Studien der Münchner Schreibabyambulanz zeigen zudem, dass 68,9% der Mütter in der Stichprobe pränatal mindestens einen organischen Risikofaktor für eine Regulationsstörung aufwiesen. Zu den organischen Risiken zählt die Spezialambulanz demnach z.B. pränatale Faktoren wie eine schwere Hyperemesis (17,3%) oder vorzeitige Wehen (20,3%), perinatale Faktoren wie einen Kaiserschnitt (22,3%) oder Mangelgewicht des Kindes (15,6%) sowie postnatale Faktoren wie eine familiäre Atopie (54,7%) oder neurologische Auffälligkeiten in der Anamnese (33,9%). (vgl. Wurmser & Papousek, 2004, S. 63f.).
Darüber hinaus ist bei Fütter- und Essstörungen eine mütterliche Essstörung wie Anorexia nervosa oder Anorexia bulimia als Risikofaktor bedeutsam. Diese kann sich durch Aspekte wie ein erhöhtes genetisches Risiko, den direkten Effekt auf die Essenssituation oder Anspannung und Kontrolle seitens der Mutter negativ auf das Kind auswirken (vgl. Patel, Wheatcroft, Park & Stein, 2002, S. 15f.).
2.2.3 Umgebungsbedingte Risikofaktoren
Zu umgebungsbedingten Risikofaktoren, die sich ungünstig auf die physische sowie psychische Entwicklung des Kindes und damit auf das Auftreten von Regulationsschwierigkeiten auswirken, gehören unter anderem spezifische Situationen wie der Verlust einer primären Bezugsperson, Häufiger Wechsel von Bezugspersonen oder Betreuungssituationen (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 81).
Genauso ausschlaggebend sind hier aber auch negative Verhaltensweisen der Bezugspersonen, wie z.B. Nichtbeachtung des Kindes, Vernachlässigung sowie körperliche, seelische und sexuelle Misshandlungen. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 81).
Häufig kommt es zu solch dramatischen Verhaltensweisen, wenn Eltern tägliche Misserfolge mit ihrem Baby durch gescheiterte Regulationshilfen erleben und das ohnehin schon dysregulierte Kind keinerlei oder nur wenig regulatorische Unterstützung seitens der Eltern erfährt. Diese sich wiederholenden Kommunikationsmuster führen dann nicht selten zu verstärkten Gefühlen der Wut, des Versagens und Hilflosigkeit der Eltern, wodurch gefährliche Verhaltensweisen gegenüber dem Kind entstehen können. (vgl. Ziegler et al., 2004, S. 131f.).
Ein weiteres Problem stellen diese Auswirkungen dar, wenn durch die hohe Verunsicherung und Depression der Eltern ihre intuitiven elterlichen Kompetenzen gehemmt und blockiert werden. Selbst in ruhigen Phasen des Babys nehmen Eltern dessen Signale dann kaum noch wahr, vermeiden möglicherweise den Kontakt zum Kind und verpassen somit auch die Gelegenheit, mal wieder ausgeglichene, spielerische Momente mit ihm zu verbringen. Hieraus entstehen demzufolge sich negativ beeinflussenden Teufelskreise, welche wiederum Hauptursache und hoher Risikofaktor für eine manifestierte Regulationsstörung sind. (vgl. Ziegler et al., 2004, S. 132f.).
2.2.4 Prognose
Hemmi, Wolke und Schneider (2011) zeigten in ihrer Metaanalyse, dass Kinder mit Schrei-, Schlaf- oder Fütterstörungen, welche über die ersten drei Monate hinweg andauern, im weiteren Verlauf häufig Verhaltensprobleme aufweisen. Demnach besteht ein erhöhtes Risiko für aggressives und destruktives Verhalten sowie Aufmerksamkeitsdefizite. Hierbei ist zu erwähnen, dass sich das Risiko nochmal erhöht, wenn eine multiple Regulationsstörung, also ein gemeinsames Auftreten der verschiedenen Störungsbereiche (Schlafen, Schreien, Füttern), vorliegt. Dabei zeigt das exzessive Schreien von allen drei Störungsbereichen den größten Zusammenhang mit späteren Verhaltensauffälligkeiten. (vgl. Hemmi et al., 2011, S. 626).
Weiterhin belegten Laucht et al. (2004) in ihrer Mannheimer Risikokinderstudie (1998), dass die Wahrscheinlichkeit zukünftiger psychischer Auffälligkeiten von ehemals regulationsauffälligen Kindern nochmals erhöht ist, wenn zusätzlich psychosoziale Risiken (Armutsverhältnisse, psychisch belastete Elternteile usw.) vorliegen (vgl. Laucht, Schmidt & Esser, 2004, S. 354).
Bei Schlaf-, Fütter- und Essstörungen ist außerdem eine Tendenz zur Chronifizierung bis ins späte Kindesalter als Prognose zu nennen (vgl. Bolten et al., 2013. S. 44f.).
2.3 Diagnose
2.3.1 Herausforderungen
Ein großer Bestandteil diagnostischer Prozesse ist normalerweise die ausführliche Befragung der Betroffenen, um wichtige Informationen bzgl. der aktuellen Symptomatik und damit verbundenen Beeinträchtigung zu erlangen. Säuglinge und Kleinkinder können jedoch noch nicht selbst zu ihren Problemen befragt werden, weshalb als primäre Informationsquelle die Eltern herangezogen werden müssen. (vgl. Bolten et al., 2021, S. 53).
Dies stellt den Diagnoseprozess erstmals vor eine Herausforderung, da Eltern oft fehlerhafte Einschätzungen auf Grund von verzerrten Wahrnehmungen, ausgelöst durch ihre psychische Belastung, geben. Demzufolge ist eine weitere Einschätzung der Symptome durch Fachkräfte unausweichlich. (vgl. Müller & Furniss, 2013, S. 299).
Auch im Hinblick auf die Beurteilung des Leidens bei Säuglingen- und Kleinkindern gilt ein besonderer Punkt. Da Regulationsstörungen überwiegend belastend für die Bezugspersonen und weniger für das Kind selbst sind, ist die Einschätzung des elterlichen Leidensdrucks genauso wichtiger Bestandteil des diagnostischen Prozesses. (vgl. Bolten et al., 2021, S. 53). Somit sollte neben einer umfassenden Entwicklungsdiagnostik des Kindes auch das soziale Umfeld, insbesondere die Belastung der Eltern sowie die Beziehung zum Kind mitbeobachtet werden, was die Diagnosestellung deutlich aufwendiger gestaltet. (vgl. Bolten et al., 2013, S. 37).
2.3.2 Diagnosesysteme
Verschiedene Klassifikationssysteme sollen beim Diagnoseprozess zur besseren Einordnung von jeweiligen Symptomen dienen (vgl. Huber, 2021, S. 34).
Die am häufigsten verwendeten sind aktuell die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10), das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5) sowie die Diagnostische Klassifikation Zero-to-Three (DC:0-3). (vgl. Huber, 2021, S. 34f.).
Dabei sind das ICD-10 und DSM-5 dafür bekannt, nur knapp auf Pathologien der Störungen einzugehen, weshalb zur besseren Übersicht das DC: 0-3 empfohlen wird (vgl. Egger & Angold, 2006 zitiert nach Huber, 2021, S. 35).
Weiterhin helfen unterschiedlichste Leitlinien bei der Diagnostik und Einordnung von Regulationsstörungen. Eine der Bekanntesten ist die S2k-Leitlinie zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, welche im Jahr 2015 in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft (AWMF) entwickelt wurde. Die Leitlinie gibt einen Überblick über Leitsymptome, Definitionen von Regulationsstörung, Anleitungen zur störungsspezifischen Diagnostik und trifft Aussagen über empfohlene Behandlungsmöglichkeiten. (vgl. Cierpka, 2012, S. 153; Huber, 2021, S. 37).
Eine Neufassung der aktuellen Leitlinie soll im September 2022 mit einer Aktualisierung aller Kapitel erscheinen (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., 2021).
Gemäß dieser Leitlinie lassen sich Regulationsstörungen in die zwei Subtypen „Typ A: Regulationsstörung ohne Störung der sensorischen Verarbeitung“ und „Typ B: Regulationsstörung mit Störung der sensorischen Verarbeitung“ unterscheiden. Das Klassifikationssystem Zero to Three (DC:0-3R) beschreibt allerdings nur Typ B (Achse I, 400.), welcher sich nochmal in zwei Unterkategorien (Achse I, 411. und 412.) mit dann jeweils anderen Verhaltensausprägungen des Kindes gliedern lässt (vgl. von Gontard, 2018, S. 257f.).
2.3.3 Diagnostischer Prozess
Die Diagnose von Regulationsstörungen sollte nach Empfehlungen der S2k-Leitlinie (2015) auf die ersten drei Lebensjahre eines Kindes beschränkt sein. Danach ist eine Zuordnung der Symptome zu weiteren verwandten Störungsbildern (Angststörung, ADHS etc.) ratsam. Auch sollte mit einer Diagnose bei Säuglingen bis zum sechsten Lebensmonat sparsam umgegangen werden, da regulatorische Probleme in dieser Zeit häufig als begrenzte Entwicklungsphänomene auftreten können. (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2015, S. 77).
Der diagnostische Prozess setzt sich aus mehreren Teilen zusammen und erfolgt zudem multimethodal. Beginnend mit einer Beurteilung des Schweregrades der Störung, auf Grundlage einer Anamnese (vgl. Bolten et al., 2013, S. 54), folgt eine Erfassung der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte und eine angrenzende Ermittlung aufrechterhaltender Faktoren. (vgl. Bolten et al., 2021, S. 38).
Abschließend muss eine Abklärung somatischer Erkrankungen wie Blähungen, Nahrungsmittelintoleranz, Entzündungen des Magen-Darm-Trakts oder neurologischen Auffälligkeiten geschehen, sodass diese ausgeschlossen bzw. mitbehandelt werden können (vgl. Cierpka, 2012, S. 183ff.).
Darüber hinaus ist neben der pädiatrischen Untersuchung und Anamnese eine Verhaltensbeobachtung des Säuglings und der Eltern-Kind-Interaktion für die Diagnosestellung erforderlich (vgl. Bolten et al., 2021, S. 38).
Dabei wird der gesamte Prozess mit unterschiedlichsten Erfassungsmethoden ergänzt, welche bei der Protokollierung oder Beobachtung hilfreich sein können. (vgl. ebd., 2021, S. 38). Somit ist es unter anderem typisch, Eltern, im Anschluss an das diagnostische Erstgespräch, Verhaltenstagebücher mitzugeben, in welchen mittels einfacher Tabellen z.B. der Schlafrhythmus, die Schreidauer, Fütterungsaktivitäten und auslösende Situationen protokolliert werden können (vgl. Huber, 2021, S. 38).
Im Anschluss findet sich ein Beispiel für solch ein in der Praxis verwendetes Schrei-/Schaf-/Füttertagebuch:
Abbildung 2: Schrei-/Schlaf-/Füttertagebuch
Quelle: Cierpka, 2015, S. 46
Immer häufiger kommen zudem Videoaufzeichnungen unter Aufsicht von Fachpersonal zum Einsatz, die bei der Beurteilung der Eltern-Kind-Interaktion hilfreich sein können.
Weiterhin stellen spezifische Elternfragebögen ein wichtiges Instrument für Fachkräfte dar, um die kindliche Regulationsfähigkeit besser beurteilen zu können. (vgl. Huber, 2021, S. 38).
3. Interventionsmöglichkeiten
Gemäß der S2k-Leitlinie zu psychischen Störungen im Säuglings- Kleinkind- und Vorschulter (2015) sollte bei Regulationsstörungen in jedem Falle eine Beratung der Eltern stattfinden. Beratungen erfüllen den Zweck, Eltern dabei zu helfen, leichter mit Schlaf-Fütter- oder Schreiproblemen ihres Kindes umgehen zu können, ihr Kind besser verstehen zu lernen und richtige Umgangsformen zu erarbeiten. (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2015, S. 78ff.).
Beratungen sind auch dann angebracht, wenn Informationen und Aufklärung keine Veränderung bewirken und Maßnahmen zur Besserung der Eltern-Kind-Beziehung oder entwicklungsfördernde Interventionen notwendig sind. (vgl. Cierpka, 2012, S. 402).
Therapien sollten dahingehend erst bei schwererer Symptomatik des Kindes in Erwägung gezogen werden. Diese dienen zur Bearbeitung von Schuldgefühlen/ Traumata/Depressionen, der Einübung von Grenzen, der Strukturierung des Alltags, der Steigerung elterlicher Kompetenzen sowie zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung. (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2015, S. 78ff.).
Dabei stützen sich Interventionsmethoden bei ihrem Vorgehen auf eine von drei unten beschriebenen Ebenen, um verschiedenste Problemkonstellationen zielführend beheben zu können (vgl. Thiel-Bonney, 2009, S. 584f.):
1. Entwicklungsbezogene Ebene
· Herbeiführen von Verständnis für die kindliche Entwicklung, kindlicher Signale und angemessener Reaktionen bei Eltern
2. Interaktions- und kommunikationszentrierte Ebene
· Verdeutlichen von dysfunktionalen Interaktionsbeziehungen zwischen Mutter und Kind sowie Einarbeitung unbelasteter Interaktionsmomente
3. Psychodynamisch-beziehungsorientierte Ebene
· Einbezug der psychosozialen Situation und biografischen Erfahrungen sowie Bearbeitung elterlicher Gefühle und der Beziehung zum Kind
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich nun mit relevanten Beratungseinrichtungen sowie der detaillierten Auseinandersetzung darin praktizierter Beratungs- und Therapiemöglichkeiten, welche auf Grundlage oben genannter Ebenen arbeiten.
3.1 Beratungseinrichtungen
3.1.1 Erziehungsberatung
Erziehungsberatungsstellen sind oft die ersten Einrichtungen, auf die verwiesen werden, wenn Eltern bestehende Probleme mit ihrem Kind schildern. Jene Beratungsstellen übernehmen somit einen Grundversorgungsauftrag für Eltern mit Säuglingen, Kleinkindern und Teenagern im Rahmen der gesetzlichen Jugendhilfe. Dabei handelt es sich um ein unbürokratisches, niedrigschwelliges und kostenloses Angebot, das speziell geschultes Personal bereitstellt und von jedermann in Anspruch genommen werden darf. (Scheurer-Englisch & Fröhlich, 2010, S. 255).
Das Team der Erziehungsberatung hat hierbei Aufgaben der Beratung, Prävention sowie Vernetzung zu erfüllen, wobei jene Leistungen multidisziplinär erbracht werden. Dies bedeutet, dass gem. §28 S.2 SGB VIII Fachkräfte mehrerer Fachrichtungen zusammenwirken und unter Einsatz vielfältiger methodischer Ansätze arbeiten sollen. (vgl. Menne, 2017, S. 100).
Demnach besitzen Fachkräfte der Erziehungsberatung nicht nur Zusatzqualifikationen in beispielsweise der Familientherapie oder systemischer Therapie, sondern ebenfalls ein breites Wissen über weitere Hilfsangebote im Landkreis, weshalb sie als wichtige Ansprechpartner für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern fungieren. (vgl. Menne, 2017, S. 100f.).
3.1.2 Schreibabyambulanz
Ein ähnliches Angebot wie Erziehungsberatungsstellen bieten auch so genannte Schreibabyambulanzen.
Die erste Ambulanz wurde 1991 unter der Leitung von Prof. Mechthild Papousek am Kinderzentrum München aufgebaut. Ziel war und ist es bis heute, ein Präventionsangebot für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern bereitzustellen.
Jene Ambulanzen sind demnach spezialisiert auf Regulationsstörungen im frühen Kindesalter und bieten gezielte Hilfsangebote für Eltern mit Kindern von 0-3 Jahren an. (vgl. Schieche, 2010, S. 272f.).
Schreibabyambulanzen sind mittlerweile stark vertreten in Deutschland und finden sich unter Namen wie „Babysprechstunde“ oder „Nullbisdrei“ sowohl in Kliniken, Arztpraxen, Erziehungsberatungsstellen, Jugend- oder Gesundheitsämtern. (vgl. Keller & Koch, 2014).
Dabei handelt es sich um ein meist kostenloses Angebot der Diagnostik, Therapie und Beratung, unter Einbezug unterschiedlicher Beratungsansätze (vgl. Schieche, 2012, S. 272), welche in den nachfolgenden Kapiteln näher beleuchtet werden.
3.2 Beratungsansätze
3.2.1 Entwicklungspsychologische Beratung (EPB)
Die entwicklungspsychologische Beratung ist ein renommierter Beratungsansatz, welcher auf der entwicklungsbezogenen Ebene arbeitet und das Ziel verfolgt, die elterliche Feinfühligkeit zu stärken sowie ein besseres Verständnis über die kindliche Entwicklung und anstehenden Entwicklungsaufgaben zu vermitteln.
Dabei liegt der Fokus auf den erkennbaren Stärken und Schwächen des Kindes, seinem Entwicklungsstand sowie individuellen Bedürfnissen und den daraus resultierenden Einstellungen und Erziehungskompetenzen der Eltern. (vgl. Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S. 290f.). Auch soll Eltern dabei geholfen werden, die Signale, Bedürfnisse und Interessen ihres Kindes richtig zu deuten und sich in die Erfahrungswelt des Kleinkinds einzufühlen (vgl. Papousek & Wollwerth De Chuquisengo, 2006, S. 243).
Das Vorgehen ist sowohl verhaltens- als auch ressourcenorientiert und bezieht hauptsächlich videogestützte Einheiten mit ein (näheres hierzu siehe Kapitel 3.1.5). Weiterhin werden Anteile der systemisch-lösungsorientierten Beratung übernommen, um Ressourcen im familiären, sozialen und lebensgeschichtlichen Bereich der Klient*innen zu finden. Dabei ist entwicklungspsychologisches Wissen Grundvoraussetzung für tätige Fachkräfte und die Verhaltensbeobachtung von Mutter und Kind eine entscheidende Aufgabe. (vgl. Ziegenhain et al., 2006, S. 141).
In Erstklärungsgesprächen werden sowohl Anliegen der Eltern verdeutlicht, Problemlagen definiert, bisherige Lösungsversuche thematisiert und erste konkrete Ziele aufgestellt (vgl. ebd., 2006, S. 144).
Häufige Beratungsanlässe sind in diesem Kontext z.B.: (vgl. Ziegenhain et al., 2006, S. 144)
· Unsicherheit im Umgang mit dem Säugling/ Kleinkind
· Anpassungsproblemen in der Verhaltensregulation des Kindes und Erschöpfung der Eltern
· Unklare Diagnosen, Behinderungen oder Krankheiten des Kindes und damit verbundene Beziehungsstörungen zum Kind
· Mögliche Entwicklungsgefährdungen des Kindes
Im weiteren Verlauf ist es typisch für diesen Ansatz, dass der/die Berater*in Verhalten mittels Videoaufnahmen primär aus der Perspektive des Kindes beschreibt und somit für die Eltern in Worte fasst (Ziegenhain, 2011, S.62). Der/die Berater*in spricht demzufolge anstelle des Babys in der ersten Person, was die kindlichen Signale an die Eltern verdeutlichen und zugleich entwicklungspsychologisch erklären soll (vgl. Ziegenhain et al., 2006, S.166). Eine solche Umdeutung kindlicher Signale kann seitens des Beraters dann z.B. in folgenden Worten an die Eltern geschehen: „Mama, wenn ich dich manchmal nicht angucke, so heißt das, dass ich eine Pause brauche. Das was du gerade mit mir machst, ist ziemlich anstrengend für mich.“ (vgl. Ziegenhain et al., 2006, S. 166)
Dabei kann auch versucht werden, einen Perspektivwechsel zu erreichen, indem man Mutter oder Vater selbst bittet zu vermuten, was das Baby gerade empfinden könnte. (vgl. ebd., 2006, S. 166).
Untersuchungen bestätigen die Wirksamkeit von Elternberatung- und -anleitungen in diesem Kontext und geben unter anderem eine signifikante Minderung der kindlichen Schreidauer nach Intervention an (vgl. Thiel-Bonney, 2009, S. 584).
Grundsätzlich ist diese Beratungsform dann indiziert, wenn die Regulationsstörung des Kindes nicht kontextübergreifend ist, keine relevanten Beziehungsstörungen vorliegen und eine verbesserte Eltern-Kind-Beziehung angestrebt wird. Sind jedoch zusätzlich psychosoziale Aspekte und hoch belastende Lebensbedingungen in der Familie vorherrschend, sollte eine EPB nicht allein, sondern in Kombination mit weiteren Hilfen angewendet werden. Aus diesem Grund ist eine gute Vernetzung der Fachkräfte mit anderen Hilfesystemen von großer Bedeutung. (vgl. Cierpka, 2012, S. 402; Ziegenhain et al., 2006, S. 178).
3.2.2 Ressourcen- und kommunikationsorientierte Eltern-Säuglings-/Kleinkind- Beratung
Das Münchner Modell „interaktionszentrierte Eltern-Säuglings-Beratung und Psychotherapie“ wurde von dem bedeutenden Ehepaar Papousek entwickelt und verfolgt auf der interaktions- und kommunikationszentrierten Ebene einen Ansatz, welcher sich auf Ressourcen des Kommunikationssystems und einer schnellen Auflösung dysfunktionaler Kommunikationsmuster von Eltern und Kind stützt (vgl. Papousek, 2002, S. 85).
Eine Besonderheit der Beratungsform ist hierbei die systemische Evaluation der beraterischen und therapeutischen Arbeit (vgl. Ziegenhain, 2011, S. 62).
Im Allgemeinen dient der Ansatz aber dazu, Eltern zu entlasten, Lösungen zu finden und vor allem Ressourcen sowohl in der Persönlichkeit des Kindes als auch in der Beziehungsgeschichte von Mutter und Vater aufzuspüren und zu fördern (vgl. Papousek & Woolwerth De Chuquisengo, 2006, S. 243f.).
Leitgedanke des Ansatzes ist daher die Annahme des Vorhandenseins eines basalen genuinen Kommunikationswissens von Eltern. Jenes Kommunikationswissen wird als große Ressource eines jeden Elternteils angesehen, welche jedoch nicht immer offensichtlich erkennbar oder gar blockiert ist (vgl. Papousek, 2011, S. 81).
Gemeint sind hiermit speziell biologisch verankerte Ressourcen sowie intuitive elterliche Kompetenzen oder kindliche Fähigkeiten und innere Motivationen (vgl. Papousek & Woolwerth De Chuquisengo, 2006, S. 244). Hauptaufgabe des Beraters ist es, vor allem die Ressourcen und intuitiven Kompetenzen der Eltern zu wecken, aber auch die kindlichen Fähigkeiten zugänglich zu machen (vgl. Papousek, 2011, S. 81).
Dabei stehen physische und psychische Belastungen der Eltern zu Beginn im Mittelpunkt der Beratungssituation, wobei eine empathische und auf Vertrauen basierte Arbeitsbeziehung zwischen Klient*in und Berater*in Grundvoraussetzung ist (vgl. Papousek, 2011, S. 81).
Im weiteren Beratungsverlauf wird dann versucht, einen „stressfreien Spielraum“ zu gestalten, der dazu beitragen soll, dass Eltern und Kind sich aufeinander einlassen und Augenblicke positiver Interaktionen sowie Nähe erfahren können. Räumlichkeiten wie diese bieten sich besonders an, um mit Kind und Eltern gleichermaßen in Kontakt treten zu können. (vgl. Papousek, 2011, S. 82f.).
Seitens des Beraters besteht die Kernaufgabe schließlich darin, laufende Gespräche besonders dann zu unterbrechen, wenn das Baby Kontakt zu den Eltern sucht oder Nähe und Rücksicherung vermittelt. Denn solche Momente sind entscheidend, um positive Interaktion zwischen Eltern und Kind zu ermöglichen und Eltern in ihren intuitiven Kompetenzen zu bestärken, was als großes Ziele des Ansatzes verstanden wird. (vgl. Papousek, 2011, S. 82).
Demzufolge haben Berater*innen in der Ressourcen- und kommunikationsorientierten Beratung auch immer ein Auge auf das Kind, um Eltern auf dessen Signale sowie Stärken und Fähigkeiten hinweisen zu können. Gerne werden hierbei auch Techniken aus der Entwicklungspsychologischen Beratung miteingebaut, um Eltern zusätzlich auf Entwicklungsfortschritte in der Regulationsfähigkeit ihres Kindes aufmerksam zu machen. (vgl. ebd., 2011, S. 83f.).
Weiterhin arbeiten viele Einrichtungen, welche den Ansatz einer ressourcen- und kommunikationszentrierten Beratung anbieten, mit videogestützten Kommunikationsanleitungen (vgl. Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S. 291), welche in Kapitel 3.2.3 nochmal genauer beschrieben werden.
Studien der Münchner Schreibabyambulanz zeigen zudem eine hohe Wirksamkeit des Beratungskonzepts. Dabei waren die Hauptkriterien zur Beurteilung des Behandlungserfolgs in der Studie die Behebung des diagnostischen Trias, also die Behebung des Verhaltensproblems, der dysfunktionalen Interaktionsmuster und die Entlastung der Eltern. (vgl. Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S. 304).
Bei einer Auswertung von 701 Familien konnte die Spezialambulanz einen erstaunlichen Behandlungserfolg in allen drei Bereichen von 89,9% erzielen, was die Wirksamkeit des Konzepts durchaus bestätigt. Gründe für mangelnde Verbesserungsraten stellten in diesem Zusammenhang sowohl geringe Veränderungsbereitschaft der Eltern als auch ein frühzeitiger Abbruch dar. (vgl. Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S. 304).
Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Beratungskonzepts bei Eltern mit regulationsauffälligen Kindern werden auf der nachfolgenden Seite aufgelistet.
Durchführungsvoraussetzungen (vgl. Cierpka, 2012, S.242):
· [Möglich], wenn das körperliche Wohl des Kindes nicht oder nicht bedrohlich beeinträchtigt und keine traumatischen Vorerfahrungen des Kindes vorliegen
· Wenn die Bezugspersonen über (noch) ausreichende psychosoziale Ressourcen verfügen und Zugang zu den eigenen intuitiven Kompetenzen haben
· Wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind keine relevante Beeinträchtigung erfahren hat und keine Gefahr der Kindesvernachlässigung und -misshandlung besteht
· Wenn die kindliche Störung nicht kontextübergreifend ist und maximal drei Monate besteht
3.2.3 Videogestützte Kommunikationsanleitung und Videofeedback
Wie bereits in den vorherigen zwei Kapiteln erwähnt, werden sowohl in der entwicklungspsychologischen Beratung als auch in der ressourcen- und kommunikationsorientierten Beratung videogestützte Elemente eingesetzt, dessen Aufbau nun näher erklärt wird.
Videogestützte Verhaltensbeobachtung hat in den 70-er Jahren zu einem enormen Fortschritt in der Säuglingsforschung geführt und wird seitdem in vielen Beratungs- aber auch Therapieansätzen verwirklicht. Mit Hilfe dieser Technik gelingt es, Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse sowohl für Berater*innen als auch für Klient*innen zugänglich zu machen und gleichzeitig Interaktionsmuster reflektieren zu können. (vgl. Cierpka, 2015, S. 174).
Dies kann entweder mittels „Homevideos“ (selbsterstellte Videos der Klient*innen in häuslicher Umgebung) oder durch Aufnahmen in der Beratungssituation geschehen (Schieche, 2010, S. 279). Dabei genügen kurze Videoaufzeichnungen von 5-15 Minuten, aus welchen der/ die Berater*in ausschlaggebende Sequenzen für die Eltern zum Besprechen heraussucht (vgl. Cierpka, 2015, S. 177).
Beobachtet werden hierbei vor allem Interaktionsketten aus dem häuslichem Rahmen der Familie wie z.B. Spielsituationen, Abgrenzungssituationen, der emotionale Kontakt zum Kind, kindliche Interaktionsbereitschaft, Rollenverteilung der Eltern oder Wickel-, Fütter- und Esssituationen. (vgl. Schieche, 2010, S. 279; Cierpka, 2015, S. 177).
Im Fokus der Beobachtung stehen auf kindlicher Seite seine Signale in der Aufnahme- und Integrationsbereitschaft sowie seine Belastungszeichen und Erregungssteuerung. Auf Seite der Eltern wird verstärkt auf die intuitiven elterlichen Kompetenzen geschaut, demnach wie angemessen und schnell sie auf Signale des Kindes reagieren. (Schieche, 2010, S. 279).
Ziele der Videoanleitungen sind demnach u.a. (vgl. Schieche, 2010, S. 279):
· Sensibilisierung für kindliche Signale
· Stärkung der elterlichen Feinfühligkeit
· Verdeutlichung und Abbau von dysfunktionalen Interaktionsmustern
· Einüben von funktionalen Interaktionsmustern
· Förderung von bereits stattfindenden positiven Interaktionen
Ein wichtiger Bestandteil von videogestützten Einheiten sind zudem Kommunikationsanleitungen seitens des Beraters. Dabei werden, wie es auch in der ressourcen- und kommunikationsorientierten Beratung der Fall ist, spontane Kommunikationsmuster während des Gesprächs mit den Eltern aufgegriffen, um auf unvorteilhafte Interaktionskreise mit dem Kind aufmerksam zu machen und diese unter beraterischer Anleitung durch funktionale Muster zu ersetzen. Dieser Vorgang wird gerne mit Videoaufnahmen in der Beratungssituation ergänzt, sodass Eltern jene dysfunktionalen Interaktionen mit ihrem Kind auch visuell nachvollziehen können. (vgl. Wollwerth De Chuquisengo & Papousek, 2004, S. 291).
In erster Linie sollten dabei jedoch nicht ungünstige Interaktionen seitens der Eltern im Vordergrund stehen, sondern vielmehr auf besonders gelungene Sequenzen mit dem Kind hingewiesen werden (vgl. Papousek, 2000, S. 620).
Denn Videofeedback soll auch das elterliche Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und ihre intuitiven Kompetenzen stärken, was vor allem durch Aufgreifen von positiven Sequenzen gelingt. (vgl. ebd., 2000, S. 620).
Ziel der videogestützten Kommunikationsanleitung ist es, zusammen mit dem Berater nach möglichen Lösungsstrategien zu suchen und diese direkt in der Beratungssituation einzuüben. (vgl. ebd., 2000, S. 622).
Eine Metanalyse von Fukkink (2008) ergab in 29 Studien positive Effekte auf das elterliche Verhalten und die Entwicklung des Kindes nach einer Intervention mit videogestützten Kommunikationsanleitungen und Feedback. Demnach konnte eine erhöhte Sensitivität der Eltern, eine Reduktion von Stress in der Eltern-Kind-Interaktion sowie besseres Selbstbewusstsein erzielt werden. Jedoch ist auch hier zu sagen, dass der Effekt bei Familien mit schwierigem psychosozialem Hintergrund geringer ausfällt. (vgl. Fukkink, 2008, S. 911).
Generell muss betont werden, dass videogestützte Einheiten nur bei einer guten Arbeitsbeziehung zwischen Klient*in und Berater*in eingesetzt werden sollten, da das verfremdete Bild von sich selbst und die Konfrontation mit Misserfolgen in der Interaktion mit dem eigenen Kind, bei Eltern nicht selten Gefühle des Versagens, der Bloßstellung, der Enttäuschung und hohe Verletzbarkeit auslösen. (vgl. Papousek, 2000, S. 618).
3.3 Therapieansätze
3.3.1 Säuglings/-Kleinkind- Eltern- Psychotherapie (SKEPT)
Wenn jegliche Beratungskonzepte scheitern, die kindliche Regulationsstörung über mehr als drei Monate andauert, Wahrnehmungsverzerrungen der Eltern auf Grund psychischer Störungen vorliegen oder die Gefahr einer Kindesmisshandlung besteht, ist als nächstes eine psychotherapeutische Behandlung inzidiert (vgl. Papousek et al., 2006, zitiert nach Cierpka, 2012, S. 403f.).
Diese findet in Deutschland im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung als Kurzzeitintervention (vgl. Bark et al., 2018, S. 368) statt und wird von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen und Erwachsenenpsychotherapeut*innen als Kassenleistung durchgeführt. (vgl. Cierpka, 2012, S. 403). Entwickelt wurde sie unter der Leitung von Prof. Dr. med. Manfred Cierpka (vgl. Bark et al., 2018, S. 367).
Anders als Beratungsansätze, arbeiten Therapien auf der psychodynamisch-beziehungsorientierten Ebene und versuchen hierbei psychosoziale Situationen, unbearbeitete Gefühlslagen, Traumata, Partnerschaftskonflikte und biografische Erfahrungen der Eltern in den Hilfeprozess miteinzubeziehen (vgl. Thiel-Bonney, 2009, S. 585).
Dabei kann in der Psychotherapie sowohl verhaltensorientiert als auch psychodynamisch gearbeitet werden. Oft werden beide Ausrichtungen jedoch miteinander kombiniert. (vgl. Cierpka, 2012, S. 404).
Grundannahme der SKEPT ist es, dass sich elterliche Erinnerungen sowie ungelöste Beziehungskonflikte aus den eigenen Herkunftsfamilien auf die Interaktion mit dem Kind auswirken und somit eine verzerrte Wahrnehmung kindlicher Signale entsteht (vgl. Thiel-Bonney, 2009, S. 585).
Beginnend mit einer eingehenden Diagnostik und Diagnosestellung nach dem ICD-10, welche zudem Grundvoraussetzung für die Genehmigung einer Psychotherapie ist (vgl. Cierpka, 2012, S. 403), folgt eine ausführliche Anamnese bzgl. des kompletten Entwicklungsverlaufs des Kindes, familiären Gegebenheiten und traumatischen Erfahrungen. Anschließend daran ist es Aufgabe des Therapeuten, eine klinische Beobachtung von Eltern und Kind durchzuführen. Dabei wird verstärkt auf die elterliche Feinfühligkeit, den Gebrauch von Grenzen, die Interaktion des Kindes mit seinen Eltern sowie seiner Autonomie geschaut. (vgl. Möhler, 2013, S. 74f.).
Im Rahmen der Behandlung soll für Mutter und Kind schließlich ein Raum geschaffen werden, in welchem sich beide auf eine positive Interaktion miteinander einlassen können (vgl. ebd., S. 82).
Dies kann in der Ambulanz geschehen oder in häuslicher Umgebung bei den Eltern stattfinden, wie es beispielsweise in der „Interaction Guidance Therapy“ üblich ist. Bei dieser Therapieform wird der Fokus auf die Verhaltensorientierung, also das elterliche Verhalten gelegt, welches per Videokamera aufgenommen und reflektiert wird. (vgl. Cierpka, 2012, S. 405). Hieran erkennt man wieder Parallelen zu bereits dargestellten beraterischen Ansätzen, welche oft Bestandteil der Psychotherapie sind.
Im Vordergrund einer SKEPT steht jedoch weniger die Verhaltensorientierung, sondern mehr eine psychodynamisch orientierte Behandlung der sogenannten „Repräsentanzen“ der Eltern. Diese werden in der Psychoanalyse als affektbesetzte, innere Vorstellungen von Menschen verstanden. Demnach beeinflussen verinnerlichte Repräsentanzen aus den Herkunftsfamilien die Beziehungen, Verhaltensweisen und Interaktionsformen in der jetzigen Familie. (vgl. Cierpka, 2012, S. 406).
Wichtig im weiteren Vorgehen ist demzufolge der Zugang des Therapeuten zur repräsentativen Welt der Eltern und ein Abbau vorhandener Repräsentanzen, um die verzerrte Wahrnehmung gegenüber ihrem Kind zu entschärfen. Im Zentrum der Einheiten stehen demnach die mütterlichen Repräsentanzen und die damit zusammenhängenden Interaktionen zum Kind. (vgl. ebd., 2012, S. 407).
Studien bestätigen eine Reduktion der regulationsbedingten Verhaltensauffälligkeit des Kindes, eine elterliche Entlastung sowie verbesserte Interaktionsqualität zwischen Mutter und Kind nach Abschluss der Intervention. Auch wird eine Stabilität der Effekte bis zu sechs Monate nach Behandlung angegeben. (vgl. Salomonsson & Sandell, 2011, S. 220f.; Bark et al., 2018, S. 369). Da in vielen Studien jedoch parallel andere Interventionen wie z.B. Rehabilitationsmaßnahmen oder Gruppenprogramme zum Einsatz kamen, ist es schwer, die Wirksamkeit genau zu bestimmen (vgl. Cierpka, 2012, S. 506).
Abschließend lässt sich noch sagen, dass bei Vorliegen einer schweren psychischen/ psychiatrischen Erkrankung der Eltern eine zusätzliche Einzel- oder Paartherapie durchgeführt werden sollte, um die Wirksamkeit weiterhin gewährleisten zu können (vgl. Cierpka, 2012, S. 404).
3.3.2 Stationäre Behandlung
Bei einem krisenhaften Verlauf von Regulationsstörungen und einer akuten Gefährdung des Kindeswohls reichen in vielen Fällen ambulante Maßnahmen nicht mehr aus, um eine Verbesserung des diagnostischen Trias zu erreichen. Gerade Fütter- und Gedeihstörungen münden oft in eine für das Kind gefährliche Symptomatik, weshalb bei diesem Störungsbild (teil-)stationäre Unterbringungen am häufigsten vorkommen. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 149).
Eine solche Unterbringung dauert in der Regel zwei- bis sechs Wochen (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 149) und wird teilweise von den Krankenkassen übernommen (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 174).
Im Vordergrund der Behandlung stehen Erschöpfungszustände und Dekompensationen der Eltern, welche eine ambulante Behandlung erschweren und somit keine Besserung der kindlichen Regulationsstörung zulassen. Aber auch multiple psychosoziale Belastungen wie psychische Erkrankungen oder Traumata der Eltern sowie aufrechterhaltende Bedingungen der Regulationsstörung stehen im Fokus der Behandlung. (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 174).
Dabei soll ein intensives Setting mit interdisziplinärem Ansatz und multiprofessionellem Team sowohl die psychiatrische Behandlung des Elternteils als auch die gesunde psychische Entwicklung des Kindes gewährleisten. Demnach müssen Mutter/Vater und Kind gemeinsam aufgenommen und behandelt werden, um vor allem Bindungs- und Beziehungsstörungen durch Angebote der Kinder- und Erwachsenentherapie verbessern zu können. (vgl. ebd., 2016, S. 174).
Durch Fachdienste der Entwicklungspsychologie, Neuropädiatrie, Ergotherapie und Logopädie wird eine engmaschige Betreuung der Regulationsstörung in den Kliniken garantiert (vgl. Cierpka, 2012, S.242). Jene engmaschige Betreuung der alltäglichen Eltern-Kind-Interaktionen ermöglicht dann häufig eine schnelle Auflösung der entstandenen dysfunktionalen Muster und bietet sowohl Erholung als auch geregelte Tagesstrukturen für Mutter/ Vater und Kind (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 177).
Eine stationäre Behandlung sollte vor allem dann inzidiert sein, wenn ein oder mehrere der folgende Punkte gegeben sind: (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 174)
· Manifeste Beziehungsstörungen ohne Besserung
· Regulationsstörungen mit multiplen Störungsbereichen
· Kindliche Verhaltensstörungen
· Multiple Belastungsfaktoren der Eltern (psychische Erkrankung, Wochenbettdepression, Trauma etc.)
· Gefahr der Misshandlung/ Schütteltrauma
· Massive elterliche Erschöpfungszustände
Leider haben sich bislang nur wenige psychosomatische Kinderkliniken auf die Behandlung von Regulationsstörungen spezialisiert, weshalb diese Mutter-Kind-Angebote oft nur in Großstädten wie München, Frankfurt am Main oder Hamburg zu finden sind. Dementsprechend lang sind die Wartezeiten in den Kliniken, sodass jene äußerst hilfreiche Interventionsmethode der (teil-)stationären Behandlung nur selten in Anspruch genommen werden kann. (vgl. Hédervári-Heller, 2011, S. 149).
3.4 Prävention
3.4.1 Relevanz von Präventionsarbeit
Wie nun umfangreich dargestellt wurde, treten Regulationsstörungen in der heutigen Gesellschaft immer häufiger auf und fordern somit nicht nur renommierte Interventionsmöglichkeiten, sondern auch gezielte Präventionsangebote im Gesundheitssystem und seitens der Sozialen Arbeit.
Hans Thiersch, der Begründer der Lebensweltorientierung, definiert Prävention im Kontext der Sozialen Arbeit folgendermaßen:
„Soziale Arbeit drängt auf Prävention, also auf die Gestaltung belastbarer Lebensverhältnisse, in denen Konflikte so aufgefangen und bearbeitet werden können, dass dramatische Entwicklungen gleichsam unterlaufen werden.“
(Thiersch, 2015, S. 98)
Demnach sollen auch Regulationsstörungen, als anerkanntes soziales Problem, im Vorfeld durch die Soziale Arbeit aufgefangen und bearbeitet werden, um dramatische Entwicklungen gar nicht erst entstehen zu lassen.
Geschehen kann dies in erster Linie durch die Verbreitung relevanter Informationen bzgl. Hilfsangebote im Landkreis mittels Flyer und Informationsbroschüren. Jene Informationsschreiben sollten in Einrichtungen, welche primär Eltern mit Kindern von 0-3 Jahren als Zielgruppe haben, ausgehändigt werden, sodass Hilfsangebote direkt an das Klientel weitergegeben werden können. (vgl. von Voss, 2004, S. 394). Auch sind in diesem Zusammenhang eine gute, regionale Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit der Einrichtungen von großer Bedeutung, um betroffenen Familien schnellstmöglich passende Hilfsangebote empfehlen zu können (vgl. Huber, 2021, S. 40; von Voss, 2004, S. 397).
Weiterhin ist der Punkt, dass pränataler Stress, Ängste Depressionen etc. häufig Bedingungsfaktoren einer Regulationsstörung sind, ausschlaggebend dafür, Präventionsarbeit bereits während der Schwangerschaft zu beginnen. Pränatale Risikofaktoren sollten daher von Geburtshelfer*innen, Hebammen oder Beratungsstellen abgefangen werden, um das Entstehungsrisiko einer Regulationsstörung zu minimieren. (vgl. von Voss, 2004, S. 395).
Auch lässt sich sagen, dass vor allem niedrigschwellige, kostenlose Beratungsangebote in diesem Kontext immer mehr an Bedeutung gewinnen. Daten der Münchner Schreibabyambulanz zeigten nämlich, dass Angebote im Rahmen der Ambulanz eher von mittelschichtigen Familien angenommen wurden, jedoch eine große Gruppe von sozial schwachen Familien unterrepräsentiert war. Hiermit sind vor allem minderjährige Mütter, Eltern mit geringem Bildungsgrad, alkoholkranke Eltern, Migrant*innen, oder Familien aus Armutslagen gemeint, welche in der Ambulanz schlichtweg gefehlt haben. (vgl. von Voss, 2004, S. 395f.; Cierpka et al., 2006, S. 435).
Dies zeigt, wie wichtig es ist, gemeindenahe, niedrigschwellige Angebote oder aufsuchende Hilfen bereitzustellen, um auch sozial schwachen Familien die Hemmschwelle zum Annehmen von Hilfeleistungen nehmen zu können.
In den nachfolgenden Kapiteln wird sich schließlich mit einem niedrigschwelligem Angebot der Sozialen Arbeit, dem Bereich der Frühen Hilfen, beschäftigt.
3.4.2 Frühe Hilfen
Unter dem Begriff „Frühe Hilfen“ versteht man in Deutschland primär- und sekundärpräventive Interventionen, welche gezielte Unterstützungen zur positiven Entwicklungs- und Bindungsförderung von Kind und Eltern beinhalten (vgl. Cierpka, 2012, S. 524).
Ziel der Frühen Hilfen ist es, einen niedrigschwelligen, kostenlosen Zugang für Schwangere und Familien mit Kindern von 0-3 Jahren anzubieten, um Entwicklungskrisen und schwierige Lebenslagen frühzeitig auffangen zu können (vgl. Mall & Friedmann, 2016, S. 193).
Anlass für das Einrichten eines solchen Angebots waren massive Fälle von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen, welche im Jahr 2006 zu einer gesellschaftlichen Debatte bezüglich des Kinderschutzes in Deutschland führten. Schnell wurde klar, dass vor allem präventiv stärker gehandelt werden muss und eine bessere Vernetzung relevanter Institutionen im Fokus stehen sollte. Auf Grundlage dieser Gedanken entstanden schließlich Koordinierende Kinderschutzstellen (KoKi) in den Bundesländern, welche nun für die Umsetzung, Begleitung sowie Qualitätssicherung der Frühen Hilfen zuständig sind. (vgl. (Thaiss, 2016, S. 1245).
Angebote der Frühen Hilfen, welche dann von Sozialpädagog*innen in den jeweiligen Koordinierungsstellen umgesetzt werden, sind u.a. (vgl. Nationales Zentrum Frühe Hilfen, 2019):
· Begleitung und Anleitung der Familien im häuslichen Umfeld durch Gesundheitsfachkräfte wie Familienhebammen und Familien-Gesundheits-Kinderkrankenschwestern
· Unterstützung der Eltern bei der Alltagsbewältigung durch ehrenamtliche Paten und Patinnen
· Lotsen und Lotsinnen in Geburtskliniken, die Informationen bereitstellen
· Willkommensbesuche durch Mitarbeiter*innen der Koordinierungsstellen
· Durchführung von spezifischen Programmen und Gruppenangeboten zur Förderung der Eltern-Kind-Bindung und Interaktion
Ein Schwerpunkt der Arbeit in den Koordinierungsstellen liegt demnach in der psychosozialen Unterstützung von Familien im häuslichen Umfeld, was durch den Einsatz von speziell geschultem Gesundheitspersonal (Familienhebammen und Familien-Gesundheits-Kinderkrankenschwestern), aber auch durch Ehrenamtliche garantiert wird (BMFSFJ, 2021).
Weiterhin wesentlich für die praktische Umsetzung der Arbeit ist eine gute Vernetzung und Zusammenarbeit mit Institutionen und sozialen Dienstleitern, um Klient*innen bei anderweitigem Hilfebedarf an relevante Kooperationspartner weitervermitteln zu können (vgl. Cierpka, 2012, S. 524).
Somit sind die Koordinierungsstellen auch Ansprechpartner für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern, da dort arbeitende Fachkräfte nicht nur ein breites Wissen über bestehende Hilfsangebote im Landkreis haben, sondern auch, durch den Einsatz von Gesundheitsfachkräften, medizinische Hilfestellungen für Eltern angeboten werden können (vgl. Nationales Zentrum Frühe Hilfen et al., 2015, S. 56).
Eine Pilotstudie aus dem Datenreport der Frühen Hilfen (2015) zeigte jedoch, dass gerade einmal 1 bis 2% der Stichproben Beratungsangebote für Regulationsstörungen als Frühe Hilfen in Anspruch nahmen. Demzufolge wird angenommen, dass viele dieser Familien entweder durch die Koordinierungsstellen noch nicht in die richtigen Hilfsangebote vermittelt wurden oder Eltern schlichtweg keine Kenntnis über die Existenz dieser Angebote hatten. (vgl. Lang et al., 2015, S. 14, S. 19).
Auch aus einer neueren Studie des Datenreports im Jahre 2017 geht heraus, dass zwar mittlerweile ca. 62% der Stichproben von Beratungsangeboten für Regulationsprobleme wissen, diese aber immer noch von nur ca. 6,2% der Familien tatsächlich in Anspruch genommen werden. (siehe Abbildung 3, vgl. Salzmann et al., 2017, S. 13).
Abbildung 3: Inanspruchnahme Angebote
Quelle: Salzmann et al., 2017, S. 13
Zurecht stellt sich also weiterhin die Frage, ob Hilfsangebote für Eltern mit regulationsauffälligen Kindern ausreichend und präsent genug sind, um die Regulationsstörung des Kindes frühzeitig und nachhaltig beheben zu können, was schlussendlich mit Hilfe des folgenden Experteninterviews geklärt werden soll.
- Arbeit zitieren
- Sina Krämer (Autor:in), 2021, Regulationsstörungen im frühen Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169423
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