Erziehung und Bildung an der St. Galler Klosterschule des 9. und 10. Jahrhunderts

Versuch der Rekonstruktion des mittelalterlichen klösterlichen Schulalltags anhand der 'Casus sancti Galli' von Ekkehard IV. und des St. Galler Klosterplans


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

32 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Quellen zur Erforschung des St. Galler Klosterschule
2.1. Die Casus sancti Galli von Ekkehard IV
2.1.1. Leben und Werk Ekkehards IV
2.1.2. Entstehung der Casus sancti Galli
2.1.3. Ekkehards Intentionen
2.1.4. Kritik an den Casus sancti Galli
2.2. Der St. Galler Klosterplan
2.2.1. Ort und Zeit der Entstehung
2.2.2. Zweck des Klosterplans
2.2.3. Realer Bauplan oder Idealplan?

3. Innere und äußere Schule
3.1. Die Schulen des St. Galler Klosterplans
3.2. Hinweise auf die Existenz von zwei Schulen in den Casus sancti Galli

4. Lehren und Lernen an der St. Galler Klosterschule
4.1. Soziale Herkunft der Schüler
4.2. Bedeutende Lehrer der St. Galler Klosterschule
4.3. Lerninhalte und Gliederung des Unterrichtsstoffes
4.4. Profane Bildung
4.5. Disziplin

5. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das abendländische Mönchtum, wie es Benedikt von Nursia seit seiner Klostergründung auf dem Monte Cassino im Jahre 529 geprägt hatte, breitete sich schnell in ganz Europa aus. Das klösterliche Gemeinschaftsleben wurde durch eine Ordnung geregelt, die auf die Vorschriften des Mönchsvaters zurückging, die regula benedicti. Für den klösterlichen Alltag sowie für die Verwaltung und Organisation eines Klosters war es notwendig, dass die Novizen eine Ausbildung erhielten, die sowohl geistliche als auch praktische Inhalte vermitteln sollte. Benedikt von Nursia setzte bei den Mönchen bestimmte Kenntnisse als selbstverständlich voraus und ging stillschweigend davon aus, dass sie lesen und schreiben konnten.1 Somit setzte die Regel Benedikts „implizit eine schulmäßige Unterweisung voraus, ohne dass der Mönchsvater in seiner Regula eigens darauf eingehen müsste“2. Obwohl er in seiner regula nie von einer Schule im übertragenen Sinne spricht, waren Klosterschulen ein wesentlicher Bestandteil des benediktinischen Mönchtums. Sie hatten während des gesamten Mittelalters Einfluss auf die Wissensvermittlung und waren bis ins 10. Jahrhundert hinein die dominierenden Orte der Bildung.

Es erweist sich jedoch als sehr schwierig, den Schulalltag an einer mittelalterlichen Klosterschule zu rekonstruieren, da es kaum zeitgenössische Quellen gibt. Für das Kloster St. Gallen gibt es jedoch drei Quellen, die uns Auskunft über das Lehren und Lernen an einer mittelalterlichen Klosterschule geben können: der St. Galler Klosterplan, als Idealplan einer mittelalterlichen Klosteranlage, die „St. Galler Klostergeschichten“, die Casus sancti Galli von Ekkehard IV. und eine Reihe von mittelalterlichen Schulhandschriften in der Stiftsbibliothek in St. Gallen.

In der vorliegenden Hausarbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie an der Klosterschule des 9. und 10. Jahrhunderts gelernt und gelehrt wurde, welche Kenntnisse und Fähigkeiten als wissenswert galten und wie sie vermittelt wurden. Hierfür sollen der St. Galler Klosterplan und die Casus sancti Galli von Ekkehard IV. den Rahmen bilden. Anhand dieser Quellen soll versucht werden, den Schulalltag an der St. Galler Klosterschule zu rekonstruieren und Informationen über die Herkunft der Schüler, Lehrinhalte und Erziehungsmethoden zu erhalten. Außerdem soll gezeigt werden, wer Schüler der St. Galler Klosterschule war und welche berühmten Gelehrten an der Schule wirkten. Zunächst gilt es jedoch, zu analysieren, wie der St. Galler Klosterplan und die Casus sancti Galli als historische Quellen zu bewerten sind, wer ihre Urheber und Verfasser waren und welche Intentionen sie mit ihren Werken verfolgten.

2. Quellen zur Erforschung der St. Galler Klosterschule

2.1. Die Casus sancti Galli von Ekkehard IV

2.1.1. Leben und Werk Ekkehards IV.

Ekkehard IV. wurde gegen Ende des 10. Jahrhunderts geboren. Das genaue Geburtsjahr und seine Herkunft sind jedoch nicht bekannt und können anhand einzelner Bemerkungen in seinem Werk nur annährend bestimmt werden. Fragwürdig ist, ob aus seinen guten Kenntnissen elsässischer Örtlichkeiten geschlossen werden kann, dass er tatsächlich aus dem Elsass stammte. Es ist wohl eher davon auszugehen, dass er in der Nähe des Klosters St. Gallen geboren wurde und alemannischer Abstammung war.3 4 5 Er war Schüler der St. Galler Klosterschule und wurde von Notker III. unterrichtet, der auch Notker der Deutsche genannt wurde und den Ekkehard zeitlebens sehr verehrte. Schon kurz nach Notkers Tod am 29. Juni 1022 verließ Ekkehard das Kloster St. Gallen und übernahm die Leitung der Mainzer Domschule. Bereits Notker hatte ihn zu einer dichterischen Tätigkeit angeregt, und schon vor seinem Aufenthalt in Mainz hatte sich Ekkehard einen Namen als Dichter gemacht.

Als Erzbischof Aribo von Mainz, der ihn nach Mainz gerufen hatte, am 6. April 1031 verstarb, kehrte Ekkehard in sein Heimatkloster nach St. Gallen zurück und betätigte sich dort als Lehrer an der St. Galler Klosterschule. Offensichtlich waren ihm die Bestände der Klosterbibliothek bestens vertraut. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer widmete er sich dem intensiven Studium lateinischer Autoren der Antike sowie einer Reihe von Werken spätantiker und frühmittelalterlicher Autoren. In zahlreichen Handschriften der Stiftsbibliothek finden sich Glossen, Berichtigungen, kritische Randnotizen und Spottverse von seiner Hand.

Über seine letzten Lebensjahre ist nichts bekannt. Sicher ist nur, dass Ekkehard IV. bis zu seinem Tod in St. Gallen blieb. In welchem Jahr er starb lässt sich nur annährungsweise ermitteln. Er dürfte ca. um 1060 verstorben sein, allerdings nicht vor dem Jahre 1057, da er in einer Glosse vom angeblichen Vergiftungstod von Papst Viktor II. (am 28. Juli 1057) berichtet.6 7 8

Ekkehard war Gelehrter und Chronist, aber er galt vor allem als ein Meister der Erzählkunst und einer der größten Lyriker seiner Zeit. Neben den „St. Galler Klostergeschichten“ verfasste er die Gedichtsammlung „Liber benedictionum “ und überarbeitete die „Vita Waltharii manufortis“ von Ekkehard I.

2.1.2. Entstehung der Casus sancti Galli

Die Casus sancti Galli sind nicht das eigenständige Werk von Ekkehard IV, sondern „fügen sich ein in die große Linie der St. Galler Chronistik, die von Ratpert bis zu Christian Kuchimeister reicht“9. Ekkehard knüpft an die Aufzeichnungen Ratperts, der auch Schüler und Lehrer in St. Gallen war, an. Allerdings unterscheidet sich seine Fortsetzung sowohl im Stil als auch in der Grundkonzeption von seinem Vorgänger. Wie zuvor Ratpert will auch Ekkehard die Geschichte seines Klosters dokumentieren, doch „während Ratpert mit einer gewissen Ausschließlichkeit die rechtlich-politische Entwicklung St. Gallens verfolgt, hebt Ekkehard vor allem die kulturellen Momente hervor“10. Ratpert verfasste eine Chronik der Abtei und schildert darin im Wesentlichen die Besitz- und Rechtsgeschichte seines Klosters, während Ekkehard in seiner Fortsetzung vom innerklösterlichen Leben berichtet und Geschichten der berühmtesten Klosterbrüder St. Gallens erzählt. Dabei geht er, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, jedoch nicht chronologisch vor, obwohl er dies im Preloquium ankündigt.11

Ekkehard erwähnt bereits in der Vorrede zu seinem Werk, dass die Anregung zur Fortsetzung von Ratperts Chronik von seinen Mitbrüdern kam und betont, dass es ihm ein Anliegen sei „etwas vom Glück und dem Unglück im Hause der Heiligen Gallus und Ottmar zu erzählen“12. Er möchte von fortunia et infortunia, den Höhen und Tiefen seines Klosters berichten und dabei nicht nur geschichtliche Fakten zusammentragen, sondern auch literarischen Ansprüchen gerecht werden.13 Dabei stützt er sich auf überliefertes Erzählgut, auf „das was wir von den Vätern gehört haben“14.

Ekkehard gibt im Preloquium an, dass er das Werk Ratperts fortsetzen und bis in seine eigene Gegenwart führen will. Dies ist ihm jedoch nicht gelungen. Seine ChronikbrichtnachderDarstellungderGeschehnissevomAugust972 ab. Es ist nicht ersichtlich, warum Ekkehards Ausführungen während des Besuchs von Otto I. und Otto II. in St. Gallen so abrupt enden. Es wird vermutet, dass Krankheit oder Tod ihn daran hinderten, sein Werk zu vollenden. Ernst Tremp vertritt jedoch die Ansicht, dass der plötzliche Abbruch der Casus unmittelbar mit dem Kaiserbesuch zusammenhängt, da Ekkehards Ziele nach diesem Besuch erreicht waren und er deshalb keine Veranlassung mehr sah, seine Klostergeschichten fortzusetzen. Worin diese Ziele bestanden, soll nun im nächsten Kapitel näher erläutert werden.

2.1.3. Ekkehards Intentionen

Es ist in der Forschung umstritten, welche Absichten Ekkehard mit seinen Klostergeschichten verfolgte. Wollte er lediglich Ratperts Chronik fortsetzen und sein Publikum mit den überlieferten Geschichten und Anekdoten unterhalten? Oder ist seine Fortsetzung der Casus sancti Galli Zeugnis des Widerstands gegen die Neuerungen, mit denen er sich seit seiner Rückkehr aus Mainz konfrontiert sah?

Inzwischen war Norpert von Stablo Abt in St. Gallen geworden und führte dort die cluniazensische Reform ein, die eine strengere Klosterzucht zum Ziel hatte. Diese Veränderungen wurden von vielen älteren Mönchen jedoch vehement abgelehnt. Vermutlich waren es diese Mitbrüder, die Ekkehard aufforderten, die Arbeit Ratperts fortzusetzen. Dieser kam der Aufforderung wohl gerne nach, da auch er den veränderten Zuständen und den umstrittenen Reformen des neuen Abtes sehr kritisch gegenüberstand. In seinen Casus, die er in einem zuweilen recht heiteren und ironischen Ton verfasste, ging es Ekkehard in erster Linie15 16 darum, die großen vorbildlichen Persönlichkeiten der ruhmreichen Vergangenheit des Klosters St. Gallen darzustellen. Er demonstriert anhand zahlreicher Beispiele die Vollkommenheit des alten sanktgallischen Mönchtum s und den tadellosen Lebenswandel der Mönche. Dabei hebt er besonders deren Leistungen in Dichtung, Kunst, Musik, Schule und im Skriptorium hervor. Indem er die guten alten Zeiten des Gallusklosters verherrlicht, übt er gleichzeitig Kritik an der Gegenwart und an den neuen Reformbestrebungen Norperts. Somit erzeugt er „in vordergründig harmlosen Geschichten und Anekdoten ein latentes Spannungsfeld zwischen der erzählten Vergangenheit, dem 10. Jahrhundert, und seiner eigenen Zeit, dem mittleren 11. Jahrhundert “17. Hans F. Haefele bestreitet dies und ist der Meinung, dass es nicht Ekkehards Absicht sei, den neuen Abt zu kritisieren, sondern nur die Chronik Ratperts fortzusetzen.18 Dabei verweist Haefele auf mehrere Stellen in den Casus, in denen Ekkehard voller Demut von seinem Abt berichtet und niemals feindselig von ihm spricht.19 Ernst Hellgardt beweist jedoch anhand zahlreicher Textstellen, dass Ekkehard durchaus Kritik an den reformerischen Neuerungen üben wollte und in den Casus sancti Galli lediglich „um eine seinen Standpunkt verschleiernde, für den Wissenden jedoch unmissverständliche Ausdrucksweise bemüht war“20. Auch Ernst Tremp vertritt die Ansicht, dass Ekkehard IV. durch die Verherrlichung vergangener Tage Kritik an der erlebten Gegenwart üben wollte, den Reformbestrebungen Norperts ablehnend gegenüberstand und stattdessen dafür plädierte, die bewährte alte Lebensform beizubehalten.21

Die Adressaten von Ekkehards Werk sind einerseits die reformkritischen Mitbrüder, die ihn zu seiner Arbeit anregten, und andererseits „die verhüllend und polemisch Umschriebenen, die den verkommenen und verderblichen Sitten des neuen Zeitgeistes verfallen sind“22.

[...]


1 Vgl. Albert, Andreas: Vom Kloster als dominici scola seruitii (RB Prol. 45) zur benediktinischen Klosterschule. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 107 (1996), S. 325.

2 Ebd. S. 326.

3 Vgl. Url, Eberhard: Das mittelalterliche Geschichtswerk „Casus sancti Galli“. Eine Bestandesaufnahme (109.

4 Ebd. S. 326.

5 Neujahrsblatt, hrsg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen). St. Gallen 1969, S. 18.

6 Vgl. ebd. S. 19.

7 Vgl. Schmuki, Karl: Das köstlichste Geschichtsbuch des Mittelalters. Die St. Galler Klostergeschichen Ekkeharts IV illustriert an Handschriften aus der Stiftsbibliothek. St. Gallen 1995, S. 14.

8 Vgl. Url, Eberhard: Das mittelalterliche Geschichtswerk „Casus sancti Galli“, S. 19.

9 Haefele, Hans F.: Zum Aufbau der Casus sancti Galli Ekkehards IV. In: Sonderegger, Stefan [u.a.] (Hrsg.): Typologia Litterarum. Festschrift für Max Wehrli. Zürich 1969, S. 157.

10 Ebd.

11 Vgl. Ekkehard IV.: Casus sancti Galli - St. Galler Klostergeschichten, hrsg. und übersetzt von Hans F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe X), Darmstadt 1980, Preloquium, S. 17.

12 Ebd.

13 Vgl. Haefele, Hans F.: Zum Aufbau der Casus sancti Ga lli Ekkehards IV., S. 159.

14 Ekkehard IV.: Casus sancti Galli, Preloquium, S. 17.

15 Ebd.

16 Vgl. Tremp, Ernst: Ekkehart IV. von St. Gallen (t um 1060) und die monastische Reform. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 116 (2005), S. 88.

17 ebd. S. 70.

18 Vgl. Haefele, Hans F.: Zum Aufbau der Casus sancti Galli Ekkehards IV., S. 156-157.

19 Vgl. ebd. S. 156.

20 Hellgardt, Ernst: Die Casus Sancti Galli Ekkeharts IV. und die Benediktsregel. In: Kellner Beate [u.a.] (Hrsg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 64). Bern [u.a.] 2001, S. 33.

21 Vgl. Tremp, Ernst: Ekkehart IV. von St. Gallen (t um 1060) und die monastische Reform, S. 70-71.

22 Hellgardt, Ernst: Die Casus Sancti Galli Ekkeharts IV. und die Benediktsregel, S. 35.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Erziehung und Bildung an der St. Galler Klosterschule des 9. und 10. Jahrhunderts
Untertitel
Versuch der Rekonstruktion des mittelalterlichen klösterlichen Schulalltags anhand der 'Casus sancti Galli' von Ekkehard IV. und des St. Galler Klosterplans
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Frühe Kirchen und Klöster am Bodensee
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
32
Katalognummer
V1169579
ISBN (eBook)
9783346585752
ISBN (Buch)
9783346585769
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mittelalter, St. Galler Klosterplan, Casus sancti Galli, Klosterschule, Bildung im Mittelalter, Kloster St. Gallen
Arbeit zitieren
BA Claudia Bett (Autor:in), 2012, Erziehung und Bildung an der St. Galler Klosterschule des 9. und 10. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169579

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