Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Gesellschaft im Kaiserreich
2.1 Die Klassengesellschaft
2.2 Die Folgen der Hierarchie
3 Familie im Kaiserreich
3.1 Die romantisierte Ehe
3.2 Erziehung im Kaiserreich
3.3 Die Arbeiter:innenfamilie
3.4 Die Scheidung
4 Schluss
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Erinnerung an das wilhelminische Kaiserreich von 1871 – 1918 ist seit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1918 bei vielen mit Nostalgie verbunden (vgl. Fesser 2009: S. 7.). Zeitzeug:innen nahmen das Kaiserreich durch seine einheitliche Währung und denselben Kaiser für 30 Jahre als eine sichere und stabile Struktur wahr (vgl. ebd.). Auf der anderen Seite befand sich das Kaiserreich, bedingt durch das rasante Wirtschaftswachstum und die damit verbundene Umwälzung der Lebensverhältnisse der Bürger:innen, in einer Umbruchphase (vgl. Chickering 2005: S. 11). Ergänzt durch ein Aufblühen der Naturwissenschaften, des künstlerischen Lebens und der wachsenden Überzeugung, Deutschland könne aufgrund seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke zur Weltmacht aufsteigen (vgl. Fesser 2009: S. 7.). Ein Widerspruch, der sich auch auf die nachhaltige Interpretation der Rolle des Kaisers ausdehnte (vgl. Fahrmeir 2016: S. 55.). Sicher ist, dass Wilhelm II. mit seinen „waffenklirrenden Reden und seiner hektischen Betriebsamkeit“ seine Zeit eindeutig prägte (Fesser 2009: S. 8). Historiker:innen nennen Wilhelm II. sogar den Inbegriff eines Kaisers, der einerseits für die Unterdrückung seiner Untertan:innen stand und andererseits als Vollstrecker ihrer Ideen galt (vgl. ebd.). Im Ergebnis waren „die meisten Deutschen der wilhelminischen Ära […] nichts anderes […] als Miniaturdrucke Kaiser Wilhelms.“ (ebd.). Und obwohl Wilhelm offensichtlich eine Vorbildfunktion innehatte, hatte sich dieser oft in Widersprüchlichkeiten verstrickt: Zum einen bestand zwischen ihm und seinen liberalen Eltern keinerlei Einigkeit über politisches Agieren, sodass er während seiner Thronzeit ständig die (Außen-)Politik wechselte und damit Angst beim Reichskanzler Otto von Bismarck auslöste (vgl. ebd.: S. 12). Zum anderen führte er keine, wie angenommen, vorbildliche Ehe, sondern hegte mehrere außereheliche Affären, wo doch die Strenge des Militärs und Adels auch Einfluss auf das private Leben der Menschen nahm, und Monogamie forderte (vgl. ebd.). Er galt als eitler Selbstdarsteller, der zwar den modernen, technischen Fortschritt schätzte, gleichzeitig jedoch auch auf traditionelle Werte setze und diesen teilweise keine Beachtung schenkte (vgl. Frie 2013: S. 70). Die Thematik des Widerspruchs durchzieht das gesamte Kaiserreich. Beginnend mit der politischen Struktur eines Obrigkeits- und gleichzeitigen Rechtsstaats mit wachsender Bevölkerungspartizipation und modernen Parteien (vgl. Fahrmeir 2016: S. 55.). Parallel wuchsen Frauen-und Jugendbewegungen sowie deutliche Entwicklungen in Richtung Nationalsozialismus und Antisemitismus (vgl. Fesser 2009: S. 8). Insgesamt befand sich Deutschland dennoch im Prozess der Demokratisierung und des kulturellen sowie wirtschaftlichen Fortschritts mit Zeitgenossen wie Albert Einstein, Max Weber, Thomas Mann, Max Liebermann und Richard Strauß (vgl. ebd.: S. 10). Das Kaiserreich war „zu Beginn des 20. Jahrhunderts […] eine publizistisch-literarische Kommunikationsgesellschaft mit einer industriell produzierenden Massenkultur (Neitzel 2011: S. 14). Das Blühen der Wirtschaft führte jedoch offensichtlich nicht automatisch zu einer Verbesserung der Lebensumstände aller, sondern forderte weiterhin das Rebellieren einiger anderer. Eine weniger dynamische Entwicklung lässt sich vor allem im Bereich der Geschlechterordnung verzeichnen, wodurch sich die Tiefe der Diskrepanz zu großen Teilen auch im Leben der Frauen im Kaiserreich unter Beweis stellte (vgl. ebd.: S. 15). Denn auch wenn die erste Frauenbewegung immense Erfolge erzielten konnte – so schaffte sie eine Öffnung der Berufswelten, Universitäten sowie politischen Partizipation für Frauen – dominierte weiter das Patriarchat (vgl. ebd.). Entgegen dem fortschrittlichen Kaiserreich wurde die Dominanz des Patriarchats sogar rechtlich anerkannt und fixiert, was erhebliche Auswirkungen für die Frau bedeutete und im Laufe der Arbeit deutlich wird.
Zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist deshalb, inwiefern ein Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Ideal und der Lebenswirklichkeit der Frau in Zeiten des wilhelminischen Kaiserreichs bestand. Im ersten Teil dieser Arbeit werden deshalb die gesellschaftlichen Strukturen im Kaiserreich vorgestellt, um daran im zweiten Teil der Analyse die gesellschaftlichen Normen verständlich ableiten zu können. Der zweite Teil gliedert sich in vier Unterkapitel, von denen jedes einen Unterbereich des Ehe- und Familienlebens umfasst. Dieser Teil der Analyse fokussiert sich aufgrund des hohen Erkenntnisgewinns besonders auf die bürgerliche und arbeitende Klasse, um darin den Widerspruch zwischen Ideal und Realität am Beispiel des Ehe- und Familienlebens aufzudecken. Die Begründung hierfür liegt zum einen im beschränkten Umfang der Arbeit und zum anderen in der gebotenen breiten Interpretationsfläche. Insgesamt wird neben der wissenschaftlichen Literatur auch auf rechtliche Texte wie das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, das damit auch den zeitlichen Untersuchungsrahmen festlegt, sowie Originaltexte der damaligen Frauenrechtlerinnen zurückgegriffen. Abschließend werden die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert.
2 Gesellschaft im Kaiserreich
Ein „gesellschaftliches Ideal“ setzt zunächst eine Gesellschaft voraus, in der es besteht und gelebt wird. Um im weiteren Verlauf der Arbeit dieses Ideal im Ehe- und Familienleben der Frau aufzeigen und vergleichend analysieren zu können, werden einführend die Gesellschaftsstrukturen während des Deutschen Kaiserreichs vorgestellt.
2.1 Die Klassengesellschaft
Zu Zeiten des Kaiserreichs herrschte nach wie vor eine abgestufte Klassengesellschaft, in der der Besitz das entscheidende Kriterium war (vgl. Fesser 2009: S. 114). Soziale Position und Lebenschancen waren eng miteinander verknüpft, sodass ein Aufstieg in die nächste Klasse kaum möglich war (vgl. ebd.: S. 105). Es herrschte vielmehr die klassische Gesellschaftspyramide, die sich seit Beginn der deutschen Frühindustrialisierung 1815 bildete und sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zwischen 1890 – 1914 zunehmend manifestierte (vgl. Hahn 2011: S. 15; Fesser 2009: S. 103). So hat z. B. Fesser (2009: S. 104 ff.) die Gesellschaft im Kaiserreich in folgendes Pyramidensystem eingeteilt: Die Spitze der Gesellschaftspyramide bildete der Adel, der die meisten Führungspositionen in Regierung, Verwaltung, Diplomatie und Militär innehatte. Der Adel stand zudem im engen Kontakt zu dem ihm direkt untergestellten Großbürgertum, das heißt mit den Unternehmer:innen, Bankiers, Großkaufleuten etc., die am meisten von der Industrialisierung und dem wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. Darunter ordnete sich das Bildungsbürgertum (z. B. Pfarrer:innen, Jurist:innen, Ärzt:innen etc.) ein, das sukzessive in den Schatten des Wirtschaftsbürgertums geriet. Die folgende Mittelschicht bzw. das Kleinbürgertum ordnete die „alten“ Handwerker:innen und Kleinhändler:innen sowie die „neuen“, wachsenden Angestellt:innen in den Kommunen ein. In dieser „Klasse“ fand eine Umstrukturierung insofern statt, als dass die Industrialisierung einige bisherige alte Berufe (Schneider:innen, Weber:innen etc.) zurückdrängte und dafür anderen neue Perspektiven durch die Urbanisierung und der dazugewonnenen Laufkundschaft schaffte (Metzger:innen, Bäcker:innen etc.). Innerhalb der traditionellen Landwirt:innen entstanden große Diskrepanzen: Während die Großbäuer:innen von der protektionistischen Agrarpolitik im Kaiserreich profitieren, waren die „Zwergeigentürmer:innen“ auf Nebenerwerbstätigkeiten angewiesen. Für die Mittel- und Kleinbäuer:innen änderte sich hingegen kaum etwas. Eine weit unten angesetzte, dennoch wachsende Klasse, umfasste die der Industriearbeiter:innen. Und auch wenn ihre Arbeitszeit zwischen 1890 und 1914 von 11 auf 9 ½ Stunden sank und ihr Gehalt um 25 % stieg, waren ihre Lebensumstände weiterhin „kläglich“ (Fesser 2009: S. 107). Das zeigt sich in ihren Ausgaben, denn im Jahre 1900 mussten Arbeiterfamilien im Durchschnitt 48,1 % ihrer Einkünfte für die Ernährung aufwenden. 11, 2 % für die Kleidung, 21,3 % für Miete, Heizung und Licht. Für alle übrigen Ausgaben (so für Gesundheitspflege, Bildung, Versicherungen, Geselligkeit, Rücklage usw.) blieben nur 19,4 %. (ebd.)
Besonders zu betonen im Rahmen dieser Arbeit ist die steigende Anzahl der Arbeiter innen seit der ersten reichseinheitlichen Kombination von Berufs- und Gewerbezählungen im Jahr 1882 (vgl. Bajohr 1979: S. 17). Während 1882 in der Industrie und im Handwerk nur 500.000 Frauen beschäftigt waren, waren es 1907 bereits 1 ½ Millionen (Fesser 2009: S. 107). Diese erhielten bei gleicher Arbeit dennoch nur die Hälfte bis zwei Drittel der Männerlöhne (vgl. ebd.). Die Land- und Industriearbeiter:innen hatten die längste Arbeitszeit, die niedrigsten Löhne und waren den schlechtesten Bedingungen unterworfen, denn sie besaßen kein Streikrecht und unterlagen einigen Beschränkungen (vgl. ebd.). Das BGB definierte z. B. gem. § 194 BGB die Verjährung als „[d]as Recht, von einem anderen ein Thun [sic] oder ein Unterlassen zu verlangen […]“ (Bürgerliches Gesetzbuch v. 18.08.1986, BGB). Nach § 195 BGB betrug die regelmäßige Verjährungsfrist dreißig Jahre. Doch gem. § 196 Abs. 9 BGB verjährten etwaige Ansprüche „der gewerblichen Arbeiter – Gesellen, Gehülfen [sic], Lehrlinge, Fabrikarbeiter -, der Tagelöhner und Handarbeiter […]“ bereits nach zwei Jahren. Die letzte Klasse in der Gesellschaftspyramide bildete mit durchschnittlich 1 Mio. Angestellten das häusliche Personal.
2.2 Die Folgen der Hierarchie
Zudem wurden die visuellen Unterschiede innerhalb der Klassen aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung und folglich Urbanisierung immer deutlicher, denn [w]er als Fremder um 1900 in eine deutsche Großstadt reiste, mußte beeindruckt sein: Große Bahnhöfe, neue Theatergebäude, prachtvolle Justizpaläste, machtvoll wirkende Rathäuser in einem der Neo-Stile, dazu Kaufhäuser, Banken, Straßenbahnen, Parks und Zoologische Gärten. Hier betrat man die Herrschafts- und Kulturdomäne des Bürgertums, hier pulsierte das Leben, hier zeigte sich das Kaiserreich von seiner modernsten Seite. (von Saldern 1995: S. 39)
Dicht daneben befanden sich die Arbeiterviertel, dessen Bewohner neben der faktischen Instandhaltung der Stadt, auch Ausdruck der Klassengesellschaften waren und sich in der Gesellschaftspyramide weit unten befanden (vgl. Fesser 2009: S. 105 f.). Diese sogenannten „Arbeiterquartiere“ waren primär das „Ergebnis sozialräumlicher Konzentrations- und Abgrenzungsvorgänge“ – de facto das Resultat eines Segregationsprozesses (von Saldern 1995: S. 17). Es folgte die räumliche Trennung von Menschen, „die sich in einer ähnlichen sozialen Lage befanden, wodurch der Raum selbst einen bestimmten Sozialcharakter enthielt.“ (ebd.). Was sich daran ableiten lässt, war der Beginn sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheit, der – wie heute auch noch – zudem „Deutungsmuster und Handeln der Menschen“ beeinflusst (ebd.). Auch an dieser Stelle ist der Widerspruch im Kaiserreich unumgänglich: Das blühende, wohlhabende Leben auf der einen, das Elend und in die Not in den Quartieren der Arbeiter:innen auf der anderen Seite. Das enge Zusammenleben zwischen Arm und Reich hatte somit zur Folge, dass die Berührungspunkte zwischen „Proletarierkindern“ und bürgerlichen Kindern immer enger wurden (ebd.: S. 90 f.). Das resultierte neben lokalen politischen Widerstandsformen in den Arbeiter:innenquartieren letztlich auch in eine Übertragung der geschlechtsspezifischen Normen der bürgerlichen Kinder auf die proletarischen. Auf den Straßen wurden „[o]bwohl der öffentliche Straßenraum für Arbeiterkinder weit weniger tabuisiert war als für bürgerliche […]“ die ersten geschlechtsspezifischen Unterschiedliche deutlich (ebd.). Das hieß für Mädchen eine stärkere Isolation und Restriktion, denn ihnen oblagen – neben vielen weiteren – häusliche Verpflichtungen, die sie von den Straßen fernhielten (vgl. ebd.). Wie sich diese Verpflichtungen nun en détail im Ehe- und Familienleben der Frau verhielten, zeigen die folgenden Kapitel.
3 Familie im Kaiserreich
Der auf der französischen Entlehnung „ famille “ basierende Begriff „Familie“ ist erst seit dem 17. bzw. 18. Jahrhundert im deutschen Sprachgebrauch etabliert (Gestrich 2013: S. 4). Bis dato umfasste der Begriff „Haus“ neben den Verwandten das gesamte „Gesinde“ und den Besitz (ebd.). Demzufolge wurde den tatsächlichen Blutsverwandten keine gesonderte Stellung beigemessen, wie es später im Kaiserreich der Fall war, wenn vom Ideal der „Kleinfamilie“ ausgegangen wurde (Fesser 2009: S. 111.). Der Vater war im 17. und 18. Jahrhundert das Familienoberhaupt, der „über die eigentliche, aus Eltern und Kindern bestehende Kernfamilie hinaus auch noch über allen anderen Mitgliedern des Haushalts […]“ bestimmte (Gestrich 2013: S. 5). Die Wende zum 19. Jahrhundert brach dann mit der religiösen Legitimation der weltlichen Herrschaft, die sich auch auf die Auffassung der besonderen Stellung des Hausvaters auswirkte (vgl. ebd.). Danach wurde Familie als „Vertragswerk“ aufgefasst, in der jedes Mitglied Aufgaben erfüllen musste (ebd.). „Jedes Mitglied […] hatte der Unterordnung unter die Befehlsgewalt des Hausherren zuzustimmen und konnte den Vertrag auch wieder aufkündigen.“ (ebd.). Die liberale Auffassung der Familie, so Gestrich (2013: S. 5 f.) brach dann nicht nur mit der katholischen Vorstellung von Ehe und Familie, sondern verlieh der Frau eine neue Form der Selbstbestimmung. Die Strömung des 19. Jahrhunderts entwickelte ferner auch eine romantische Vorstellung der Ehe, als dass diese fernab von rechtlichen oder religiösen Bedingungen geschlossen werden sollte. Diese romantische Vorstellung wurde auch in der hier relevanten Folgezeit des Kaiserreichs zum Leitbild des Familienlebens. Die Privatisierung und Emotionalisierung der Familie trat auch mit einer verschärften Betonung der unterschiedlichen Geschlechtscharaktere von Mann und Frau auf, sodass „Passivität, Emotionalität [und] Mütterlichkeit“ der Frau zugeschrieben wurden (Gestrich 2013: S. 6). Der Ursprung dieser Zuschreibung liegt in der Epoche des Biedermeiers (1815 – 1848), in der der Familienbezug der Frau als von Natur aus und aufgrund ihrer Geschlechtereigenschaften gegeben galt (Frevert 1986: S. 65). Vor der Industrialisierung hingegen war die Familie eine Produktionsgemeinschaft. Arbeit und Haushalt bildeten eine Einheit, in der der Mann, zwar den „Hausvater“ spielte, die Frau aber trotz ihrer untergeordneten Rolle, einen wichtigen Beitrag zur gemeinschaftlichen Wirtschaft leistete (Ullrich 1997: S. 316). Myrdal und Klein (1971: S. 31) fassen diesen Beitrag exemplarisch zusammen:
Das Spinnen, Weben und Schneidern, Fleischkonservieren, Seifensieden, Bierbrauen, Obsteinmachen und viele andere Arbeiten, die jetzt gewöhnlich von Fabriken ausgeführt werden, dazu ein gutes Teil an Unterricht und Krankenpflege.
Die Industrialisierung bewirkte zwar eine enorme Modernisierung, trug aber augenscheinlich auch zu einer rückständigen Gleichberechtigung bei. Denn auch wenn die Frau zweifellos vor der Industrialisierung eine große Last tragen musste, konnte der „Wert der Hausfrau nicht zweifelhaft sein.“ (ebd.). Im Kaiserreich entstand dementgegen das Bild der „Dame der Gesellschaft“ und damit auch die Frage, was ihr überhaupt noch zugetraut wurde (ebd.). Dieses weibliche Ideal knüpfte an die Privilegien des Adels an und nahm durch die Ausbreitung des Mittelstands immer mehr zu (vgl. ebd.). An dieser Stelle zeigt sich, wie stark der Einfluss des Adels und damit des Kaisers auf die Gesellschaft war. In der bürgerlichen Familie gehörte es sich, dass die Frau eine „Zierde“ im Hause ihres Mannes war und damit ein lebendiges Zeugnis seines Reichtums verkörperte (ebd.). Das hieß konkret, dass der Mann arbeiten ging und die Frau den Haushalt führte und sich um die Erziehung der Kinder kümmerte (Ullrich 1997: S. 316). Dazu sollte sie, wie zu Biedermeier-Zeiten, dem Mann ein familiäres Heim bieten; „eine Atmosphäre der Harmonie und Geborgenheit, die ihn für den harten Geschäftsalltag mit seinem Leistungs- und Konkurrenzdruck entschädigen sollte.“ (ebd.). Ihre Leistungen wurden dadurch offensichtlich geringer bewertet. Zudem kam, dass sie unter einem enormen Druck stand. Denn auch wenn in bürgerlichen Familien oftmals ein Dienstmädchen aushalf, war die Frau mit Erziehung und Haushalt häufig überfordert und floh nicht selten aufgrund von „vorgeschobenen Gründen“ ins Krankenhaus (ebd.). Das bedeutet, dass weder ihre Situation noch psychische Krankheiten ernst genommen wurden. Und um dem Leidensdruck zumindest kurzweilig entfliehen zu können, wurden physische Krankheiten erfunden, um das Bild der lieblichen Mutter aufrecht zu erhalten. Das „Biedermeieridyll“ in Bezug auf die femme fragile wurde also auch im Kaiserreich weiter aufrechterhalten. Dem Mann wurden demgegenüber die Attribute „Aktivität, Rationalität und Berufsorientierung“ zugeschrieben (Gestrich 2013: S. 6). Eine ähnliche Auffassung konnte auch zu Biedermeier-Zeiten verzeichnet werden, denn hier, so Frevert (1986: S. 65), nutzte der Mann die Ehe als emotionalen Rückhalt und zum Fortbestand seines Hauses. Er sollte sich mehr um „Staat, Wissenschaft und Arbeit“ kümmern (ebd.). Die Differenzfeministin Helene Lange konstatierte das „Volksbewußtsein“ sogar als „Männerbewußtsein“ (Lange 1897: S. 214). Das Kaiserreich entfernte sich dadurch vom Gleichheitsgedanken der Aufklärung und bot die Möglichkeit, diesen sogar rückwirkend zu entschärfen und in die alten patriarchalischen Familienstrukturen und Rollenzuweisungen einzufügen (vgl. Gestrich 2013: S. 6). Diese Problematik erkannte auch Helene Lange. Sie nannte durchaus „Eigenarten“ zwischen dem „männlichen und weiblichen Intellekts […].“ (Lange 1897: S. 217). Das hat dennoch keine Unterlegenheit der Frau dem Mann gegenüber zur Folge, denn „beide sind Menschen, beide sind mit den gleichen Seelenkräften ausgestattet […].“ (ebd.: S. 219). Der Unterschied liegt vielmehr in der „Verschiedenheit der Interessen- und Gefühlsrichtungen, die ihre verschiedenen physiologischen Funktionen bedingen“ (ebd.). Die Frau ist für die Mutterschaft vorgesehen, was ihre physische und psychische Eigenart bestimmt, während der Mann aufgrund seiner physischen Bedingungen der „unruhigere, beweglichere, mit mehr Initiative ausgestattete Teil“ ist (ebd.). Problematisch ist, dass die „Mutterschaft“ nicht als Qualität angesehen wurde, sondern als „alleinigen Endzweck“ und so die Auffassung der Masse entstand, dass die Frau „unaufhörlich am häuslichen Herde“ stehen musste, „während der Mann die Welt der Ideen beherrscht.“ (ebd.: S. 221). Lange forderte demnach eine sich gegenseitige Ergänzung der Eigenarten und keine, wie im Kaiserreich üblich, strikte Trennung.
[...]