Untersuchung der kulturellen Synergieeffekte bei dem Kultursender ARTE. Anhand leitfadengestützter Experteninterviews


Masterarbeit, 2020

46 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Kultursender ARTE

3. Interkulturelle Synergieeffekte in binationalen Unternehmen
3.1 Interkulturelle Interaktionen im Arbeitskontext: Von kulturellen Aushandlungsprozessen zu Synergieeffekten
3.2 Forschungsstand zu interkulturellen Synergieeffekten unter besonderer Berücksichtigung von ARTE G.E.I.E.

4. Methode, Durchführung und Ziele der Experteninterviews

5. Ergebnisse der Experteninterviews zu ARTE G.E.I.E.
5.1 Kulturelle Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen im Redaktionsalltag
5.2 Interkulturelle Kompetenzen
5.3 Kulturelle Aushandlungsprozesse
5.4 Interkulturelle Synergieeffekte
5.5 Herausforderungen in der deutsch-französischen Zusammenarbeit

6. Fazit, Kritik und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Fragebogen in deutscher und französischer Version

Transkriptionen der Experteninterviews mit Alexander Knetig, Carolin Ollivier und Julie Petitdemange

1. Einleitung

Es ist davon auszugehen, dass Menschen, die in unterschiedlichen Kulturkreisen sozi­alisiert wurden, zumindest teilweise divergierende Denkweisen, Erwartungen und In­terpretationsmuster entwickelt haben (Yagi & Kleinberg, 2011). Die interkulturelle Forschung beschäftigt sich im weitesten Sinne damit, wie Individuen aus verschiede­nen Kulturen in sozialen Systemen miteinander interagieren. Gerade im Arbeitskon­text ist von zentraler Bedeutung, ob sich Interkulturalität eher konstruktiv oder hem­mend auf die Zusammenarbeit von MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Kulturen auswirkt. In der Vergangenheit wurden in interkulturellen Studien häufig die Probleme untersucht, die bei Kommunikations- und Interaktionsprozessen unter kulturell hete­rogenen Beschäftigten entstehen können. Inwiefern kulturelle Vielfalt insbesondere in der Arbeitswelt als produktive Ressource gelten kann, ist hingegen weniger erforscht (Barmeyer, 2000; Barmeyer & Davoine, 2016).

In der heutigen globalisierten Welt nehmen Multinationalität sowie Multikulturali­tät in sozialen Kontexten zu, was sich auch im Arbeitsleben widerspiegelt (Barmeyer, Davoine & Stokes, 2019). Bei dem Kultursender ARTE (Abkürzung für Association Relative a la Télévision Européenne) treffen die deutsche und französische Nationali­tät beziehungsweise Kultur aufeinander. Insbesondere im ARTE- Hauptsitz in Straß­burg besteht eine intensive interkulturelle Interaktion und Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Franzosen, deshalb konzentriert sich die vorliegende Masterarbeit auf den Hauptsitz des Senders. Bei den beiden Mitgliedern ARTE France und ARTE Deutschland TV GmbH sind hingegen überwiegend MitarbeiterInnen aus dem jewei­ligen Land beschäftigt (Monsees, 2016). Das Ziel dieser Arbeit ist zu untersuchen, wie die beiden Kulturen im Arbeitskontext miteinander interagieren und ob die kulturbe­dingten deutsch-französischen Unterschiede eher bereichernd im Sinne interkulturel­ler Synergieeffekte oder eher hemmend für den Sender sind. Um den bestehenden For­schungsstand zu dieser Thematik zu erweitern, wurden im Rahmen dieser Arbeit leit­fadengestützte Experteninterviews mit MitarbeiterInnen der ARTE -Zentrale geführt.

Die Arbeit ist wie folgt gegliedert. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Organi­sationsstruktur des Kulturkanals ARTE. Die deutsch-französische Interkulturalität in­nerhalb des Senders dient in der vorliegenden Arbeit exemplarisch als Untersuchungs- kontext für interkulturelle Synergieeffekte. Im dritten Kapitel werden zunächst unter­schiedliche Verständnisse des Begriffs Kultur nach der engeren und der erweiterten Definition erläutert. Anschließend wird behandelt, wie sich das Zusammentreffen von verschiedenen Kulturen im Arbeitskontext auswirken kann. Als theoretische Bezugs­rahmen dienen das Konzept der interkulturellen Kompetenz sowie das der ausgehan­delten Kultur. Diese bedingen das Entstehen von interkulturellen Synergieeffekten (Barmeyer & Davoine, 2013). Das Kapitel 3.2 stellt den bisherigen Forschungsstand zu interkulturellen Synergieeffekten bei dem Kultursender ARTE vor und stützt sich dabei vor allem auf die Erkenntnisse eines deutsch-französischen Forscherteams. Diese theoretischen Ausführungen bilden die Grundlage für die im Rahmen dieser Masterarbeit durchgeführten Experteninterviews.

In Kapitel 4 werden Methode, Durchführung und Zielsetzung der leitfadengestütz­ten Interviews mit drei ARTE -MitarbeiterInnen genauer erläutert. Im Zuge dessen wer­den auch der Aufbau des verwendeten Fragebogens sowie die Profile der Befragten dargelegt. Die Ergebnisse aus den Interviews werden anschließend nach fünf Themen­komplexen gegliedert vorgestellt und dabei mit der bestehenden Forschung in Bezug gesetzt (Kapitel 5). Das Fazit resümiert die gewonnenen Erkenntnisse, zeigt Kritik so­wie Grenzen der Forschung dieser Arbeit auf und gibt einen Ausblick für die künftig erforderliche wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Thematik.

2. Der Kultursender ARTE

ARTE ist ein öffentlich-rechtlicher Sender, der sich auf der Basis deutsch-französi­scher Zusammenarbeit an das europäische Publikum richtet. Bereits seit Ende der 80er-Jahren existierte in Frankreich und in Deutschland das Bestreben, einen gemein­samen Fernsehkanal zu schaffen (ARTE, 2020a). Eine der zentralen Herausforderun­gen stellten dabei die grundlegend verschiedenen Mediensysteme der beiden Nachbar­staaten dar. Das deutsche Mediensystem ist föderalistisch organisiert. Dadurch verfü­gen die einzelnen Rundfunkanstalten der Bundesländer über weitreichende Befugnisse und treffen eigenständige Entscheidung. Die Medienpolitik hierzulande zeichnet sich außerdem durch ihre Staatsferne aus (Gräßle, 1995). Das französische Mediensystem hingegen unterliegt in vielen Bereichen staatlichem Einfluss und ist zentralistisch auf­gebaut (Hahn, 1997)1. Um diese länderspezifischen Unterschiede zu überwinden, wurde 1990 ein zwischenstaatlicher völkerrechtlicher Vertrag für ARTE geschlossen, dessen Rechtsgrundlage vor der jeweiligen nationalen Medienpolitik gilt (Gräßle, 1995). Ein Jahr später wurde ARTE in Form einer Europäischen Wirtschaftlichen In­teressensvereinigung beziehungsweise einer ,groupement européen d'intérêt écono- mique‘ ( G.E.I.E. ) mit Hauptsitz in Straßburg gegründet. Am 30. Mai 1992 fand die erste Ausstrahlung im Fernsehen statt (ARTE, 2020a).

Zu der Hauptzentrale kommen die Mitglied er ARTE France (ehemals La SEPT ) mit Sitz in Issy-les-Moulineaux bei Paris sowie das in Baden-Baden ansässige ARTE Deutschland hinzu (ARTE, 2020c) . Während ARTE France in Frankreich als von an­deren Medienhäusern unabhängiger Sender fungiert, ist ARTE Deutschland in seine Gesellschafter ARD (vertreten durch den SWR ) und ZDF integriert, koordiniert deren Programmvorschläge und ist vom Budget her von ihnen abhängig. Als öffentlich­rechtlicher Sender finanziert sich ARTE größtenteils aus öffentlichen Geldern, also dem deutschen Rundfunkbeitrag sowie dem französischen Pendant, der ,redevance au- diovisuelle‘ (Koscinski, 2019). Die gemeinsame Hauptzentrale in Straßburg ist über­wiegend verwaltend für die Programmplanung und -ausstrahlung zuständig. Eine Aus­nahme ist das ARTE Journal, dessen Inhalte die einzigen sind, die der Sender auf sup­ranationaler Ebene in Straßburg produziert. Aufgrund der stark abweichenden Produk­tionsstrukturen in den Nachbarländern werden ansonsten sämtliche Programminhalte entweder von ARTE France oder von ARTE Deutschland in Gestalt der ARD sowie des ZDF produziert und geliefert (ARTE, 2020c). Hartemann (2011) konstatiert des­halb: Der Großteil der Produktion der Programminhalte bei ARTE „est en réalité construite sur la base d'une coopération a minima entre Allemands et Francais“ (S.1). Mit dem Ausdruck ,coopération a minima‘ ist gemeint, dass für viele Formate, wie zum Beispiel TRACKS, zwar eine gemeinsame redaktionelle Richtlinie erarbeitet wird, die beiden Länder aber nicht zusammen, sondern abwechselnd die Sendungen produ- zieren. Zwar wird somit möglichen Konflikten aufgrund verschiedener Produktions­abläufe vorgebeugt, doch die Produktionen der meisten ARTE -Programminhalte sind dadurch nur bedingt deutsch-französisch (Hartemann, 2011).

Kulturelle Diversität entsteht bei ARTE G.E.I.E. überwiegend durch MitarbeiterIn­nen mit deutscher und französischer Nationalität. So sind im Hauptsitz des Kultursen­ders nach Angaben der Personalabteilung 418 Franzosen und 151 Deutsche beschäf­tigt. Andere Nationalitäten machen mit 24 Angestellten eine Minderheit aus (C. Bren­ner, persönliche Kommunikation, 22.09.2020)2.

In Artikel 2.1 seines Gründungsvertrags hat ARTE das Ziel festgelegt, Inhalte aus­zustrahlen, „die in einem umfassenden Sinne kulturellen und internationalen Charakter haben und geeignet sind, das Verständnis und die Annäherung der Völker in Europa zu fördern“ (ARTE, 2020b). Um sich diesem Anspruch anzunähern, hat ARTE seit seiner Gründung zahlreiche Kooperationen mit öffentlichen Rundfunkanstalten eini­ger europäischer Staaten geschlossen. Heute partnerschaftlich mit ARTE assoziiert sind: RTBF (Belgien), SRG SSR (Schweiz), YLE (Finnland), ORF (Österreich), CT (Tschechien), RAI Com (Italien), RTÉ (Irland) und Film Fund (Luxemburg). Außer­dem gibt es eine Abmachung zur Kooperation mit ERT (Griechenland). Rund 85% der ARTE -Produktionen stammen aus Europa - ein Versuch, europäische audiovisuelle Filmschaffende und ihre Inhalte gegenüber der zunehmenden Macht von US-Produk- tionen zu fördern. Darüber hinaus ist ARTE europaweit zu empfangen und bietet sein Programm seit 2018 neben den Sprachen Französisch und Deutsch auch auf Englisch, Italienisch, Spanisch sowie Polnisch an (ARTE, 2020c; Koscinski, 2019). Einige In­halte des Kultursenders sind nicht nur im linearen Fernsehen verfügbar, sondern auch online in der Mediathek sowie auf Social Media Plattformen abrufbar.

Das leitende Organ von ARTE G.E.I.E. ist der Vorstand, der aus der/m PräsidentIn, der/m VizepräsidentIn, der/m ProgrammdirektorIn und der/m VerwaltungsdirektorIn besteht. Deutschland und Frankreich wechseln sich bei der Präsidentschaft ab. So steht derzeit ein deutscher Präsident zusammen mit einer französischen Vize-Präsidentin an der Spitze. Ein festgelegter, regelmäßiger Austausch zwischen ARTE France und ARTE Deutschland findet im Zuge der Mitgliederversammlung sowie der Programm­konferenz im Hauptsitz in Straßburg statt, bei denen gleich viele VertreterInnen aus beiden Ländern anwesend sind. Die Mitgliederversammlung findet viermal jährlich statt und behandelt als oberstes Organ grundsätzliche Fragen sowie den Wirtschafts­plan. Bei der monatlichen Programmkonferenz wird die redaktionelle Linie des Kul­tursenders festgelegt. Ferner bestimmen Deutschland und Frankreich jeweils acht Per­sönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft für den Programmbeirat, die dem Vorstand und der Mitgliederversammlung Ratschläge für das Programm geben. Diese vier Organe - Vorstand, Mitgliederversammlung, Programmkonferenz und Programm­beirat - sind paritätisch mit Deutschen und Franzosen besetzt (ARTE, 2020c; Monsees, 2016).

3. Interkulturelle Synergieeffekte in binationalen Unternehmen

Dieses Kapitel befasst sich damit, wie Interaktionen von Individuen aus verschiedenen Kulturen im Arbeitskontext aus theoretisch-wissenschaftlicher Sicht verlaufen kön­nen. Dafür werden zunächst unterschiedliche Verständnisse des Kulturbegriffs erläu­tert. Danach werden die Konzepte der interkulturellen Kompetenz, kulturelle Aus­handlungsprozesse sowie Synergieeffekte erklärt. Das zweite Unterkapitel stellt die Ergebnisse mehrere Studien vor, in denen untersucht wurde, inwiefern diese wissen­schaftlichen Konzepte interkultureller Interaktion zwischen den deutschen und fran­zösischen ARTE -MitarbeiterInnen auftreten.

3.1 Interkulturelle Interaktionen im Arbeitskontext: Von kulturellen Aushand­lungsprozessen zu Synergieeffekten

Der Begriff Kultur leitet sich etymologisch aus dem Lateinischen ,colo‘ ab und reicht in seiner Bedeutung von bebauen/bewohnen bis hin zu verehren/schmücken. Bolten (2007) unterscheidet zwischen einem engeren und einem erweiterten Kulturbegriff. Ersterer bezieht sich auf hochkulturelle und kultbezogene Bereiche wie Kunst oder Religion. Im Sinne von Platon geht es dabei um das Schöne, Wahre und Gute einer Geisteskultur (Assmann, 1997). Bezogen auf Interkulturalität, also kulturübergrei­fende Beziehungen und Handlungen zwischen Individuen verschiedener Lebenswel­ten, erscheint der engere Kulturbegriff problematisch. Denn dieser unterstellt per De­finition, dass die eine Kultur wahr oder gut und somit einer anderen überlegen ist. Im Zusammenhang mit Interkulturalität erscheint der erweiterte Kulturbegriff angebrach­ter, da dieser wertfreier und breiter gefächert ist. Er reicht vom Lebensraum wie der Nationalkultur bis hin zu biologischen Kulturen. Die erweiterte Definition von Kultur orientiert sich an der Lebenswelt und integriert dabei alle Bereiche und nicht nur Kunst oder Religion. Entscheidend ist bei diesem Begriff, dass er Lebenswelten als räumlich offen versteht, also nicht davon ausgeht, dass sie geographisch, politisch, sprachlich oder geistesgeschichtlich begrenzt sind (Bolten, 2007). Vielmehr kann sich in der glo­balisierten Welt heutzutage anstelle des nationalstaatlich orientierten Ansatzes ein Netzwerkdenken entwickeln, in dem Kulturen als offene soziale Lebenswelten ver­standen werden (Beck, 1997). Diese Lebenswelten werden durch menschliches Han­deln geschaffen und befinden sich durch interkulturelle Prozesse ständig im Wandel (Bolten, 2007)3. Die Voraussetzung für das Entstehen von Kulturen ist stets Kommu­nikation als Informationsaustausch und im Sinne von gemeinschaftsstiftenden Inter­aktionen (Hall & Hall, 1984). Vom Individuum bis hin zu einer Gesellschaft kann das Verständnis des Begriffs Kultur sehr unterschiedlich sein. So herrscht auch innerhalb verschiedener Staaten wie Deutschland und Frankreich eine andere Definition von Kultur, wie in Kapitel 3.2 ausführlich erklärt wird.

An dieser Stelle wird nun erläutert, wie sich interkulturelle Interaktionen im Ar­beitskontext auswirken können. Das Aufeinandertreffen zweier Kulturen in Unterneh­men hängt von verschiedenen strukturellen, kontextuellen sowie individuellen Einflüs­sen ab (Brannen & Salk, 2000). So spielen auf der individuellen Ebene die interkultu­rellen Kompetenzen der jeweiligen MitarbeiterInnen eine entscheidende Rolle. Damit ist die Fähigkeit gemeint, „kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrneh­men, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen“ (Thomas, 2003, S.143). Individuen können durch die Konfrontation mit einer anderen Kultur mehr Verständnis für ihr Gegenüber und sich selbst erlangen, indem sie erkennen, dass die eigene Weltanschauung kulturell vorgeprägt ist (Monsees, 2016). Aus ökonomischer Sicht kann interkulturelle Kompetenz zu mehr Effizienz innerhalb des Unternehmens durch interkulturelle Kooperationen führen (Bergemann & Bergemann, 2005). Auf der humanistischen Ebene dienen diese Fähigkeiten darüber hinaus zur persönlichen Wei­terentwicklung und zu einem proaktiven kollegialen Miteinander (Barmeyer, 2004). Zu den Komponenten interkultureller Kompetenz zählen emotionale, kognitive sowie verhaltensbezogene Eigenschaften. Unter die emotionalen Komponenten fallen Ein­stellungen und Werte wie Empathie, Offenheit sowie Respekt. Kognitive Aspekte sind zum Beispiel die Kenntnisse bestimmter Kulturspezifika oder der anderen Sprache. Schließlich meint die dritte Komponente die Fähigkeit, das kognitiv vorhandene Wis­sen auch in der Praxis anzuwenden (Barmeyer, 2000; Bolten, 2007; Scheitza, 2007).

Doch wie wirken sich interkulturelle Kompetenzen bei der Interaktion der Mitar­beiterInnen unterschiedlicher Lebenswelten im Unternehmen aus? Die Vorstellung, dass zwei Kulturen im Arbeitskontext geschlossen nebeneinander existieren und sich gegenseitig abstoßen wie im two-billard-ball-Modell von Wolf (1982) angenommen, gilt in der Wissenschaft heutzutage als veraltet und überholt (Barmeyer & Davoine, 2013). Vielmehr ist davon auszugehen, dass „jeder Kulturkontakt vor allem bei ar­beitsbezogener Interaktion in einen neuen Aushandlungsprozess münden [kann]“ (Barmeyer & Davoine, 2016, S.111). Dabei entstehen zwischen den Akteuren unter­schiedlicher Kulturkreise neue soziale Strukturen. Während sich bei einer homogenen Kulturgruppe gleichbleibende Bedeutungs- und Interpretationsmuster entwickelt ha­ben, werden diese Muster beim Zusammentreffen mit einer anderen Kultur nicht über­tragen, sondern in einem reziproken Prozess immer wieder neu vereinbart (Yagi & Kleinberg, 2011). Brannen & Salk (2000) bezeichnen das Resultat dieses Prozesses als ,negotiated culture‘ (ausgehandelte Kultur). In ihrer empirischen Studie kommen sie zu dem Ergebnis, dass sich die ausgehandelte Kultur im Arbeitskontext in vier Ka­tegorien einteilen lässt. Als erste Kategorie nennen sie die Arbeitsteilung, durch die kulturelle Aushandlungen beispielsweise bei zu divergenten Arbeitsweisen vermieden werden. Außerdem fallen darunter zweitens Anpassungen der einen Gruppe an die an­dere. Drittens kann es zu einem gemeinsamen Mittelweg, also einer Kompromisslö­sung beider Kulturen kommen. Darüber hinaus kann es nach der vierten Kategorie der ausgehandelten Kultur zu neuen Innovationen durch das Zusammenwirken der beiden Kulturen kommen.

Bolten (2007) veranschaulicht die eben genannten Kategorien der ausgehandelten Kultur anhand von Begrüßungsritualen. Bezogen auf einen deutsch-französischen Kontext existiert auf der einen Seite das Händeschütteln und auf der anderen Seite ,les bises‘. Bleiben Deutsche unter Deutschen und Franzosen unter Franzosen bedienen sie sich meist ihrer landestypischen Rituale. Im Aufeinandertreffen mit der anderen Kultur ist jedoch nicht vorhersehbar, welche Begrüßungsform gewählt wird. Es kommt jedes Mal zu einem individuellen Aushandlungsprozess. Dabei passt sich entweder die eine Kultur der anderen an oder die Individuen einigen sich auf einen Mittelweg, also etwa eine Mischform des Händeschüttelns und ,les bises‘. Es ist aber auch denkbar, dass in der interkulturellen Interaktion eine ganz neue Begrüßungsform entsteht. Worauf der Aushandlungsprozess letztendlich hinausläuft, hängt auch stark von Kontextfaktoren wie dem Hierarchiegefälle oder dem Altersunterschied ab (Bolten, 2007).

Interkulturelle Kompetenzen bilden also auf individueller Ebene die Voraussetzung für kulturelle Aushandlungsprozesse. Die sich längerfristig entwickelnde ausgehan­delte Kultur unter den kulturell heterogenen MitarbeiterInnen ist wiederrum als Be­dingung für das Entstehen von interkulturellen Synergieeffekten zu verstehen (Bar- meyer & Davoine, 2013). Etymologisch leitet sich der Begriff Synergie aus den grie­chischen Worten ,syn‘ (=zusammen) und ,ergon‘ (=Werk) ab (Rodermann, 1999). So­mit lässt sich Synergie so definieren, dass mehrere Kräfte zusammenwirken und dar­aus eine bessere Gesamtleistung, oder zumindest eine andersartige Wirkung, als die bloße Summe der Einzelwirkungen entsteht. Bei interkulturellen Synergieeffekten im Arbeitskontext wirkt die Vielfalt verschiedener Kulturspezifika wie Werte, Denk- und Verhaltensweisen so zusammen, dass konstruktivere Ergebnisse erzielt werden kön­nen als bei MitarbeiterInnen des gleichen kulturellen Hintergrunds (Thomas 1993; Zeutschel, 1999). Dabei geht es nicht darum, Reibungen durch Gegensätzlichkeiten zu vermeiden, sondern tatsächliche Vorteile kulturell heterogener Gruppen gegenüber ho­mogenen Gruppen zu schaffen (Köppel, 2003). Barmeyer und Davoine (2013) resü­mieren: „Somit stellt interkulturelle Synergie die positive und konstruktiv wirkende Seite von Interkulturalität dar, die versucht, kulturelle Vielfalt als Vorteil zu nutzen und Gegensätze als Ergänzung und Bereicherung zu verstehen. Sie unterscheidet sich damit von ,negotiated culture‘, weil sie explizit auf einen Mehrwert verweist, sie be­nötigt jedoch als Vorstufe die ausgehandelte Kultur“ (S.8).

3.2 Forschungsstand zu interkulturellen Synergieeffekten unter besonderer Berücksichtigung von ARTE G.E.I.E.

Einige wenige empirische Studien beschäftigen sich mit kulturellen Aushandlungspro­zessen und interkulturellen Synergieeffekten bei ARTE G.E.I.E. In diesem Kapitel werden die zentralen Ergebnisse der bisherigen Forschung zu diesem Thema vorge­stellt, um sie anschließend mit den Befunden aus den Experteninterviews dieser Mas­terarbeit abzugleichen und zu ergänzen. Christoph Barmeyer und Eric Davoine sind ein deutsch-französisches Forscherteam, das sich intensiv mit dem Kultursender ARTE befasst hat. Unter anderem haben sie die interkulturellen Kompetenzen der Mitarbei­terInnen untersucht (Barmeyer & Davoine, 2011). Bezüglich der emotionalen Kom­petenz fanden sie heraus, dass sowohl unter den deutschen als auch unter den franzö­sischen Angestellten ein ausgeprägteres Bewusstsein der eigenen und der fremd en Kultur verbunden mit mehr Selbstreflexion verbreitet sind. Außerdem konstatierten sie, dass die ARTE -MitarbeiterInnen auf der kognitiven Ebene über viel interkulturel­les Wissen bezüglich des jeweiligen Nachbarlandes und seiner Kultur verfügen. Da­runter fällt auch das Wissen über unterschiedliche Führungsstile. Während französi­sche Führungskräfte von den Deutschen oft als autoritär wahrgenommen werden, gilt der deutsche Führungsstil unter den Franzosen zwar als formaler, aber partizipativer. Bezogen auf die verhaltensbezogene Kompetenz stellten die Forscher Anpassungen in der Kommunikation auf beiden Seiten fest. So würden Deutsche sich bemühen, indi­rekter zu kommunizieren, während Franzosen sich im Gespräch mit Deutschen eher direkt ausdrücken. Insgesamt kommen Barmeyer & Davoine (2011) zu der Erkenntnis, dass interkulturelle Kompetenzen bei ARTE G.E.I.E. auf beiden Seiten vorhanden sind. Nach ihren Befunden wenden die deutschen MitarbeiterInnen diese aber ver­stärkter an, um sich den Franzosen anzupassen als umgekehrt.

In Anlehnung an die oben genannten Kategorien zur ausgehandelten Kultur (Ar­beitsteilung, Anpassung, Mittelweg und Innovationen) kommt die Studie von Bar- meyer & Davoine (2013) zu den nachfolgenden Ergebnissen. Hinsichtlich der Arbeits­teilung in der ARTE -Zentrale schlussfolgern sie, dass bestimmte Bereiche wie Perso­nal, Recht, Verwaltung und Logistik nicht paritätisch besetzt sind. Aufgrund des Standorts in Straßburg sind dort überwiegend lokale Arbeitskräfte beschäftigt, die mit dem französischen System vertraut sind. Diese Arbeitsteilung dient zwar der Reduzierung von Komplexität, schließt aber kulturelle Aushandlungen und einen daraus möglicherweise resultierenden Mehrwert aus (Hartemann, 2011).

[...]


1 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann nur kurz auf die Unterschiede in den Mediensystemen in Deutschland und Frankreich eingegangen werden. Zur vertiefenden Lektüre empfiehlt sich z.B. Hahn (1997).

2 Stand der Daten: 31.12.2019.

3 Auf diesen Aspekt kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur verkürzt eingegangen werden. Aus­führlichere Erläuterungen sind zum Beispiel bei Bolten (2007) zu finden.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Untersuchung der kulturellen Synergieeffekte bei dem Kultursender ARTE. Anhand leitfadengestützter Experteninterviews
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
46
Katalognummer
V1170051
ISBN (eBook)
9783346581341
ISBN (Buch)
9783346581358
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kultursender, ARTE, Deutschland, Frankreich, Synergie, Multikulturalität
Arbeit zitieren
Sarah Breunig (Autor:in), 2020, Untersuchung der kulturellen Synergieeffekte bei dem Kultursender ARTE. Anhand leitfadengestützter Experteninterviews, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170051

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